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Alt 31.05.2010, 17:51   #1
männlich manu187
 
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Standard Das Mädchen und die Engel

Es war kalt. Bitterkalt. Doch das Mädchen lief im knietiefen Schnee in Richtung der alten Heide, auf der eine alte Hütte stand, die schon seit etlichen Jahren nicht mehr bewohnt wurde.
Sie lief und lief, sie wollte unbedingt weg von zu Hause. Ihre Mutter ist wieder laut geworden zu ihr und ihrem Vater und das Mädchen hatte immer Angst, dass ihre Mutter irgendwann die Beherrschung verlieren könnte. Aber auch bei ihrem Vater fühlte sie sich nicht besser, roch er doch so oft nach diesem widerlichen Zeug, das die Erwachsenen Alkohol nannten. Dann wurde auch er laut und die Streitereien setzten sich fort, wie es immer war. Jeden Tag und jede Woche. Das Mädchen sehnte sich nach der alten Zeit, als sie im Winter den ganzen Nachmittag in der Stube verbrachte. Vor dem Kamin, sie hörte die Holzscheite knacken und genoss die wohlige Wärme, die vom Feuer ausging. Manchmal las sie auch ein Buch dabei. Sie konnte schon sehr gut lesen, war sie doch gerade einmal zehn Jahre alt. Andere in ihrer Klasse konnten das noch nicht so richtig. Ihre Lehrerin sagte immer, dass es ganz toll sei, dass sie viele Bücher lese, da es der erste Schritt in eine gute Zukunft ist. Das Mädchen verstand nicht ganz, was Miss Flowers damit meinte, sie las einfach nur gerne.

Am Dreizehnten des folgenden Monats wagte das kleine Mädchen endlich den Schritt und lief. Sie lief und lief und die schneebedeckte Heide empfing sie in der bitterkalten, sternenklaren Nacht. Die Heide hieß sie willkommen und breitete die eisigen Schwingen aus und die Dunkelheit seufzte ein Lied der Trostlosigkeit. Wo war das arme Mädchen nur hineingeraten?
Beinahe wäre sie gestolpert, doch ehe sich das Kind versah, befand sie sich im tiefen Schnee auf dem Hosenboden. Ihr Blick streifte umher und wurde der vielen wundersamen Schemen gewahr, die sich rings um sie herum tummelten. Doch das Mädchen verfügte über einen sehr ausgereiften Verstand und sie fiel nicht auf die Schattengeister herein, die nur ein Trugbild ihrer inneren Gebrechlichkeit waren. Auch nicht fiel sie auf die flüsternden Stimmen herein, die um ihren Verstand herum krochen und um Einlass drängten. Sie war ein tapferes, kleines Mädchen. Nur eines vermochte sie nicht zu verhindern. Dass die Angst vor dem Dunkel sich Zugang zu ihrem Innersten verschaffte. Sie nagte an ihr, peinigte sie und ließ sie nicht mehr los. Das Mädchen zitterte und schlotterte, doch nicht vor Kälte. Sie kroch auf allen Vieren über den Schnee hinter einen kleinen Hügel, der sich auf der Heide mit einem Male auftat. Er kam wie gerufen. Dort blieb sie liegen und vermochte die Augen nicht zu schließen. Sie wusste, dass dies der Weg war um in ihre innere Welt zu flüchten. Der Weg, den sie daheim so viele Male gegangen ist. Das Mädchen hatte es nicht bemerkt, doch eine kleine, salzige Träne hatte sich ihren Weg über die bleiche Wange gebahnt. Der Winter hatte sie festgefroren. Die Beine versagten dem kleinen Mädchen den Dienst und sie spürte den Tod schon die Hände nach ihr ausgreifen, als der Himmel explodierte.
Die Sterne stoben auseinander, der Mond wurde aus seiner Bahn gerissen und das undurchdringliche Dunkel zerbrach in zwei Hälften. Der Himmel tat sich auf und sprenkelte in allen Farben, die das Mädchen nur kannte. Doch dies war nicht das Einzig Seltsame. Eine riesige Schar an Engeln erschien an der Stelle, wo der Himmel entzwei brach. Sie waren alle in schwarz gekleidet. Ein jeder in seiner natürlichen Erscheinung, sie brauchten sich nicht zu verstellen, wie wenn sie auf der Erde wandelten. Sie alle hielten Schwerter in der Hand und ihre goldenen Haare brannten lichterloh. Das Mädchen blickte wie gebannt nach oben, die Angst ringsherum vergessen. Sie beobachtete den Kampf der Engelsscharen, der Diener des Schöpfers und kein Mensch zuvor hatte je an so einem Spektakel teilgenommen. Obwohl sie niemals zuvor eines Engels Namen gehört hatte, wusste das Mädchen sämtliche Titel und Bezeichnungen der Himmelsscharen. Da war der, dessen Haare am hellsten brannten und der am wenigsten Schmerz in seinem Blick zeigte. Dann gab es diesen schönen Engel, der in seiner Erhabenheit alles überstrahlte. Aber am meisten zog der zierliche Engel sie in den Bann, der ganz links in schwere Bedrängnis geriet. Sie blickte gebannt zu den roten Lippen und dem seidenen Gewand empor und schrie ihm innerlich ihre Hilfe zu. Sie wollte jetzt gerne dort oben sein. Denn der Kampf war ungleich. Ein riesiger, schwarzer Engel, der alle anderen Gestalten noch überragte, hatte den schwächeren in die Enge gedrängt und hieb mit dem Schwert auf ihn ein. Sein Wesen war so furchterregend und schrecklich, dass das Mädchen wieder die Kälte spürte und sie zitterte und schlotterte noch mehr als zuvor. Doch obwohl das Mädchen genau sehen konnte, wie die eine Seite der kriegerischen Engel um mehr als das Dreifache überlegen war, so wusste sie doch gleichzeitig, dass der Kampf noch viele Jahrhunderte andauern würde, bis eine Seite geschlagen wurde. Die Schwerter prassten aufeinander nieder, blaue Funken sprühten und der Himmel ward überseht von Schlachtenlärm. Das Mädchen spürte die Erde unter ihr beben und noch immer konnte sie den Blick nicht von der leuchtenden Gestalt abwenden. Und wie sie so um das Schicksal des Engels fürchtete, öffnete dieser seine Schwingen und hob mit nie da gewesener Geschmeidigkeit und Erhabenheit ab und flog eine Runde um die Schar herum, um schließlich auf dem schneebedeckten Boden der Heide zu landen. Nur wenige Schritte von dem kauernden Mädchen entfernt. Dieses duckte sich wieder ganz schnell hinter dem Hügel und machte sich ganz klein. Nun endlich konnte sie ihre Augen schließen, doch wie sie diese schloss, da merkte sie, dass es keinen Grund gab die Augen zu verschließen. Es war alles gut. Sie wusste, dass der Krieg nicht sie anging. Er tobte schon immer dort oben und würde es noch ewig. Der Engel ist des Menschens Beschützer. War es schon immer. Und das Mädchen öffnete die Augen und sah in das strahlende Gesicht des Engels und diesmal sah sie an den roten Lippen und dem seidenen Gewand vorbei in das Innerste der schwebenden Gestalt, die nun wie ein Mensch mit Füßen auf dem Boden stand. Und auf einmal war die Kälte wie weggeblasen. Sie spürte eine Wärme in ihr, wie sie sich es niemals hatte vorstellen können. Bilder vom Kamin mit dem knisternden Holz erschienen ihr und der Geruch von Mandeln und frischem Gebäck füllten ihre Nase. Sie spürte einen Frieden in sich, wie ihn die Menschen vor so langer Zeit auch einmal gespürt hatten. Gleichzeitig wurde das Mädchen aber auch traurig, denn es vermisste diese Zeit in der Welt und erkannte, dass die Menschen selbst daran Schuld sind und sie es nicht einmal bemerken. Als sie wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte, da war die leuchtende Gestalt bereits wieder in den Himmel empor gestiegen. Und da begriff das Mädchen. Nicht nur in ihrer Welt stritten die Menschen, selbst im Himmel gab es keinen Frieden. Ja, selbst die Engel, die wunderschönen, zarten Wesen, die für alles Frieden und Glück in der Welt verantwortlich waren bekämpften sich. Das Mädchen wusste, dass damit ein Traum zu Ende ging, hatte sie sich doch immer vorgestellt, dass im Himmel das Paradies auf sie wartete. Dass sie dort mit den Engeln tanzen würde und wunderschöne Lieder singen. Doch nun sah sie, wie die geflügelten Wesen miteinander rangen, dass sogar Feuer gespuckt wurde.

Allerdings wusste sie auch um die Botschaft, die sie bei diesem Schauspiel erkannte. Sie war nicht das einzige Mädchen, dass Probleme hatte und am Ende gibt es immer Hoffnung. Wenn selbst der fürchterliche und Angst einflößende schwarze Engel mit dem großen Schwert seinem unterlegenden Feind in die Arme schließt, dann gibt es immer einen Weg aus dem Dunkel hinein ins Licht.
All dies erkannte das Mädchen binnen einen Augenblicks, während die große Engelsschar am Himmel langsam verblasste. Als fast alle Engel verschwunden waren, drehte sich die zarte Gestalt mit den roten Lippen und dem seidenen Gewand noch einmal zu ihr um. In ihren Augen spiegelte sich die ganze Wahrheit und das Mädchen war so voller Ehrfurcht. Schließlich verblasste auch diese Unbekannte und zurück blieb der schwarze Himmel im Schein des Mondes. Doch halt, es war nicht mehr so dunkel. Und der Mond war auch schon längst nicht mehr da. Die Morgensonne stieg langsam am Horizont hinter den Bergen auf und setzte ihre ersten Strahlen in diese neue Welt. Eine Welt, in der ein Mädchen seine Angst besiegt hatte und nun um ihr Schicksal wusste und was es bereit war dafür zu geben.
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