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Alt 17.04.2012, 15:33   #1
männlich Desperado
 
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Standard Toter Mann

In manchen Vollmondnächten, so alle sieben Jahre ungefähr, zieht sich ein weiter leuchtender magischer Kreis um die Mondscheibe, das kommt angeblich von den schwebenden Eiskristallen in der Winterluft, die eine besondere Lichtbrechung hervorrufen, was weiß ich, auf alle Fälle ist es ein mystischer Anblick, der einen staunen macht und andächtig aufschauen lässt in eine verheißungsvoll verborgene Zukunft.

Durch Montanas Berge geistert derweil diese verrückte Geschichte von dem Greenhorn, der sich beim Beischlaf eine Kugel einfing, als er von einer lüsternen Lady beritten wurde, bis deren eifersüchtiger Cowboy in die Absteige gebrochen kommt und seiner Treulosen eine Revolverladung in den Rücken pfeffert. Die Kugel durchschlägt den ansehnlichen Leib der Armen und bleibt im Greenhorn stecken, der seinerseits eher aus Verblüffung heraus denn aus Notwehr den Betrunkenen mit der kleinen Pistole der Ermordeten genau zwischen die Augen treffen und ins Jenseits befördern kann, bevor dieser einen zweiten Schuss abgeben konnte.

Worauf der Sheriff und alle gerechtigkeitsliebenden Gesetzeshüter hinter ihm her sind wegen kaltblütigen Doppelmordes. Sein einziger anfangs unliebsamer Freund, ein dicker Indianer, der immer William Blake zitiert –ich hab ihn bereits irgendwo mal erwähnt- kann ihm trotz aller Messerfertigkeit die Kugel nicht aus dem Leib pellen, weil sie zu nahe am Herzen sitzt, woraufhin der heimatlos herumstreifende Athapascan beschließt, seinen todgeweihten und geschätzten weißen Bruder auf den Weg ins Jenseits zu begleiten, den weiten Weg übers Gebirge bis an die Nordwestküste, um ihn in einem Boot aufbahren und bestatten zu können nach der Sitte seines ausgelöschten Stammes.

Angeblich soll der rote Held das Greenhorn für den großen Dichter daselbst gehalten haben, weil dieses zufällig den gleichen Namen in den Papieren stehen hatte, was natürlich völliger Schwachsinn ist, aber das ist nunmal so bei den Geschichten der Weißen, in denen Indianer vorkommen, die sind entweder finster und schrecklich böse, edel und furchtbar gut oder wie in seinem Falle gutmütig und lächerlich doof, ich weiß nicht, ob sich daran jemals was ändern wird.

Jedenfalls und dessen ungeachtet entwickelt sich die Reise in die ewigen Fischgründe Hufschlag für Hufschlag zum Höllenritt, weil es überall, wo er und sein fiebernder inzwischen steckbrieflich bekannter Freund auftauchen -und sei es, um in irgendeinem gottverlassenen Goldgräber Camp am Ende der Welt Munition zu kaufen- zu wilden Schießereien mit Toten kommt, was wiederum die Summe des ausgesetzten Kopfgeldes um eine Null hinaufschraubt und die Zahl der Kopfgeldjäger von Fiasko zu Desaster sprunghaft in die Höhe schnellen lässt.

Ein gefürchteter Gunman heftet sich an ihre Fersen, ganz in schwarz versteht sich, mit einem Gebiss aus purem Silber im Mund, das er sich messerscharf geschliffen hat, ein gespenstisch schweigsamer Bösewicht, den alle schaudernd den Kannibalen nennen, der einem hingestreckten Mann mit seinem beschlagenen Stiefel einen Tritt auf den Kopf verpassen kann, das dieser platzt wie eine angefaulte Wassermelone.

Sein fransengehangener nicht weniger mordlüsterne Kollege hingegen ist unablässig am Labern und Ouatschen, bis ihm der Menschenfresser eines Tages gelangweilt eine Kugel in den Rücken jagt, ihn anschließend über dem Feuer brät und genüsslich verspeist, einfach weil ihm danach ist und der nervige Kerl zuviel gequasselt hat, huch wie grässlich!

Der wahre Kern der ausgeschmückten Schauermähr dürfte sein, dass der man in black als Totschläger einschlägig bekannt ist und das Kopfgeld mit niemanden teilen will, da kann derlei schon mal vorkommen unter Ihresgleichen.

Das Unglaublichste an der Geschichte aber ist, dass das Greenhorn sich noch so unsagbar deppert anstellen kann bei allediesem, nie findet eine gnädige Kugel den Weg zu dem wandelnden Toten, um ihn von seinem wachsenden Leiden zu erlösen, er bekommt nicht einmal einen Kratzer ab und kein gekrümmtes Haar, wohingegen seine ungezielten Schüsse wie von magischer Hand geführt immer ins Volle gehen und so den unaufhaltsamen Weg der zwei Verlorenen mit Leichen pflastern.

Ich habe viele Einzelheiten der Story vergessen, die sowieso jeder Erzähler mit zusätzlichen Ungeheuerlichkeiten zu erweitern pflegt, sicher jedoch weiß ich noch, dass die beiden traurigen Helden das Meer allen Widrigkeiten zum Trotz tatsächlich erreicht haben. Was schlicht und einfach daran liegt, dass der Athapasce den Geistern vor Ort rechtzeitig über seine Lieferung Bescheid gewinkt hat und diese ihnen den Weg freimachten auf jede noch so aberwitzige Weise, dieser Aspekt der Erzählung wird wie üblich völlig verschwiegen und geflissentlich unter den Teppich weißhäutiger Überlegenheit gekehrt.

Vermutlich sagten sich die Geister, einen -wenigstens namensgleichen- William Blake bekommt man nicht alle Tage, das ist schon mal ein paar unbedeutende Seelen wert, wie auch immer, was eben so vorgeht in den Köpfen gelangweilter Geister, so genau will ich es gar nicht wissen.

Jedenfalls singt der rote Mann die Gesänge der Bestattungszeremonie über dem Sterbenden, der mittlerweile völlig willenlos und apathisch alles über sich ergehen lässt, räuchert den Siechenden mit allerlei Rauchwerk ein, bettet ihn liebevoll in ein bequemes Bett aus Moos und Zweigen, das er in einem blumenbekränzten bemalten Kanu für ihn bereitet hat, und schickt den Scheidenden mit besten Segenswünschen auf die ewige Reise.

Kaum hat die Meeresflut das Boot erfasst und ins weite Wasser hinausgezogen, taucht wie aus dem Nichts der scheußliche Silberzahn auf, der betende Athapaske, noch immer singend die Überfahrt seines Freundes begleitend, reißt seinen vorsintflutlichen Stutzen hoch, der Killer zieht seine polierten Silbercolts, die Schüsse fallen gleichzeitig und beide sinken tot auf die Uferfelsen.

Das ist das letzte, was der Sterbende mitanschauen muss, als er mit letzter Kraft seinen Kopf hebt, dann trägt ihn das wogende Meer samt Blüten davon, vermutlich schwimmt er noch heute drauf herum und grübelt darüber, warum er noch immer nicht gestorben ist und so viele stattdessen an seiner Statt, ich kann es deshalb nicht sagen, weil die dämliche Geschichte hier ihr gnädiges Ende findet.

Die Frage die sich mir stellt bei der Schauermähr ist die, ob man das Greenhorn nun deshalb zu einem Desperado adeln kann, derdieweil der Gute zumindest seine letzte Lebens- oder besser Sterbenszeit als solcher verbringen hat dürfen mit all den unverwechselbar hoffnungslos tragisch komischen Begleiterscheinungen, die einen Desperado und seinen Werdegang zeitlebens auszeichnen vom Tage seiner Geburt an bis ins Grab.

Ihn also kurzerhand in den Stand eines Gesetzeslosen erheben soll, obgleich er infolge zeitlicher Begrenzung noch nicht einmal dazu gezwungen war, die Misslichkeiten und unvermeidlichen Todesfälle seines letzten Rittes mit der Gesetzmäßigkeit der Wüste zu untermauern, sprich sich und sein Gewissen nicht der redlichen Mühe hat unterziehen müssen, ein eigenes Gesetz zu schöpfen, schaffen, formulieren und befolgen, eines jenseits der Gesetze, Verbote und Paragraphen der Staatengebilde, die er grade durchquert oder unsicher macht.

Was ja nun wirklich und wahrhaftig eine schweißtreibende und nicht ganz ungefährliche Angelegenheit ist.
Wenn da zum Beispiel die jeweiligen Leute einfach nicht fähig sind zu begreifen, dass ein jeder Farmer oder Jägersmann, der es wagen sollte, dem geliebten freilaufenden Hundekind eines Desperados Leid anzutun -das wiederum keiner Fliege was zu leide tut und schon gar keinem Häschen- dass also dieser Mann ein toter wäre, bevor noch der Lauf seiner Büchse ausgeglüht ist. Und wenn ich sage tot, meine ich mausetot, leblos, kalt und ein Fall für den Totengräber, ein fachmännisch (Hin)Gerichteter also, nicht etwa aus tobendem Schmerz, rasendem Zorn, glühender Rache oder brennender Vergeltung heraus, sondern sehr nüchtern sachlich in der gewissenhaften Befolgung und ruhig besonnen durchgeführten Folgeleistung eines ungeschriebenen Desperado Gesetzes, das da lautet: Töte meinen Hund und du bist ein toter Mann.

Die Leute verwechseln sowas irrigerweise mit unrechtmäßiger Gewaltanwendung, aber dass derlei von entscheidender Wichtigkeit unverzichtbar Wesentliches in nirgend Gesetzbüchern zu finden ist oder keinen Eingang gefunden hat darin, darf einen echten Desperado nicht im Geringsten beeinträchtigen, er befolgt seine Gesetze getreulich seinen Überzeugungen und scheut dabei keine Folgen, da die festgeschriebenen Gesetze welcher Staatengebilde auch immer für seine Person und Lebensweise untauglich sind und ihn grundsätzlich nicht betreffen oder zu kümmern haben.

Aber nun, derlei Reifungsprozess einem sterbenden Greenhorn abzuverlangen, ist geradezu unmenschlich kleinkariert und hartherzig engstirnig, der Arbeiter der letzten Abendstunde soll den selben Lohn erhalten wie der, der seit der ersten Morgenstunde schuftet, so jedenfalls steht's irgendwo in der Bibel geschrieben, warum also soll ich es nicht genau so halten? Darum erkläre ich das totgeweihte Greenhorn hiermit zu einem echten Desperado.

Howgh.
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.04.2012, 12:07   #2
männlich DEAD MAN
 
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Beiträge: 74


Hallo Desperado,

ich empfinde Deine Geschichten (und dies schon ab der ersten), als äußert wuchtig (positiv) und dennoch leicht. Sie sind irgendwie alles. Sie sind das Fernweh in mir, nehmen mich an die Hand in eine andere Zeit an einen anderen Ort. Überbordernd mit allen Träumen und Sehnsüchten und Abenteuern. Zugleich sind sie mir so nah am Herzen, daß ein einmaliges Lesen eben Deiner Geschichten sie so tief und bildhaft in die Seele brennt, daß ich nicht weiß, ob ich weinen oder mich freuen soll. Ich möchte damit sagen, daß mir noch nie auf meinen Wegen durch die Wüste derart überzeugendes begegnete. Wären Deine Geschichten gebunden, ich würde meine letzten paar Dollar dafür geben um ein/Dein Fenster in die Vergangenheit, Ist und Zukunft bei mir tragen zu können.

Besser hätte man die Geschichte des Dead Man von Jarmusch nicht beschreiben können.

Obwohl die Geschichte mir bekannt ist, vielen bekannt sein sollte, schaffst Du es dennoch, dieser Deinen Stempel, den des Desperado, aufzudrücken.

Ob ein Dead Man nun auch ein Desperado sein kann, ich möchte dies nicht beurteilen. Wenn dies in Deiner Welt möglich ist, steht in diesem Moment ein "toter Mann" mit einem Lächeln vor Dir.

Der Dead Man weiß nur, daß er nie den Mut und die Entschlossenheit eines Desperados besitzen wird. Wer keine Angst hat, wird sich auch nie im Mut beweisen können. Ich besitze nichts, nicht einmal ein Pferd. Das einzige was ich anzubieten hätte, wären ein paar alte Füße und mein WEG.

Staub verschließt sich in meinen Augen
nüchtert sie aus
läßt meinen Blick zur Wüste werden
überall wo ich auch hinsehe – Staub
kalter, verbrannter, ächzender Staub

das Lachen rast ungebremst auf den Boden
lasse es liegen,
(Gleichgültigkeit verrichtet ihre Arbeit)
soll es sich irgendein Gott holen
wieso auch nicht, drei Akkorde reichen

Tränen sind schon längst vergriffen
Verstand, Hoffnung, Angst - bereits weg
ein paar alte Füße hätte ich noch
gut zum Tragen, machen ihre Meilen
auch noch ein wenig blutige Seele

habe Schwierigkeiten den Kurs zu halten
überall dieser elende Staub
warte auf die magische Stunde
durchatmen, klare Fragmente
der Staub schläft, gehe weiter …


Ich gehe, jeden Tag ein paar Meilen, meinen Weg. Ich treffe keine Menschen, ich treffe Menschen. Treffe ich mal einen Desperado, bewundere ich ihn aus der Ferne, lausche seinen Geschichten, welche mich daran erinnern, daß ich eben nie der bin, der ich sein sollte und nie der sein werde, der ich bin.

Es ist dennoch gut zu wissen, daß ich nicht alleine hier draußen bin, daß es noch Menschen wie den Desperado gibt.

Hin und wieder bleibe ich stehen, für einem Moment, meist in der Nacht, bei Mondschein, drehe mich um und blicke zurück, erinnere mich an Geschichten und Erlebtes. Manchmal kommt es dann vor, daß sich doch noch ein Lächeln in mein Gesicht verirrt.

Dann gehe ich weiter und ab und an, eher selten, habe ich das Gefühl am anderen Ende der Zeit, ganz dicht hinter mir, das Schnaufen eines Pferdes zu verspüren und das Flüstern eines Desperados, so als tippte er für einen kurzen Moment auf meine Schulter. Drehe ich mich dann um, sehe ich nur den Weg, schaue ich kurz danach wieder nach vorn, verrät nur noch die Staubwolke am Horizont, daß es doch keine Einbildung war.

Sollte Dich auf Deinem Weg einmal einer nach einem toten Mann fragen, sage ihm, daß er das ist, was er ist und fragt mich einmal jemand, ob ich einen toten Mann begegnet wäre, antworte ich ihm: "Ja, vor kurzem, er ritt mich fast über den Haufen und war dann auch schon wieder verschwunden."

Und fragt mich einer nach dem Desperado, dann sage ich ihm: "Steht vor Dir, nun drück schon ab oder geh mir aus dem Weg, ich möchte weiter."

Staubige Grüße

Dead Man
DEAD MAN ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.04.2012, 14:49   #3
männlich Desperado
 
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Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747


Hi DEAD MAN,

hab Deine sehr poetische und freundschaftliche Post leider erst heute zu Gesicht bekommen, brauchte Abstand und suchte meinen klaren Kopf zurückzugewinnen -ist mir wie immer gelungen- aber mich auf den Weg zur Station zu machen hatte ich bisher keinen rechten Bock, der Postreiter ist mal wieder irgendwo verschollen oder hängengeblieben, naja, man kennt das ja.

Was soll ich sagen, jeder hat seinen ganz eigenen Trail, aber wo auch immer Dein Weg Dich noch hinbringen wird, auf was für staubigen Straßen in welche gottverlassenen Nester er Dich auch führt, Du trägst eine wenn nicht die entscheidende Erkenntnis im Gitarrenkoffer mit Dir rum.

Drei Akkorde reichen.

That's it!

(Hätt' ich Dich fast über den Haufen geritten? Ist mir garnicht aufgefallen, zuviel Remmidemmi rundum, sorry. )

Walk On!
Desperado
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