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Alt 25.10.2013, 10:07   #1
weiblich Annjushka
 
Dabei seit: 10/2013
Alter: 32
Beiträge: 11

Standard Plan R

Es ist 3 Uhr morgens. Eigentlich sollte ich schlafen. Kann nicht. Plan R hält mich wach. Plan R gehört zu meinen am besten ausgereiften und womöglich realistischsten Plänen für meine Zukunft. Ich bastele schon so lange an ihm! Viel zu oft habe ich diesen Plan verworfen, nur um ihn dann wieder aufzugreifen und einen neuen Weg zu finden, Plan R zu realisieren. Plan R steht dabei nicht für sich allein, sondern ist ein Glied einer langen Kette von Plänen.
Wir hätten da zunächst einmal Plan A und Plan B. Plan A wurde bereits erfolgreich umgesetzt. Ich hab Abitur. Gratulation. Applaus. Danke. Hat mich auch zwölf Jahre gekostet und noch immer bin ich eine Niete im Kopfrechnen. Aber in einem Land, das gerade mal Platz 13 im PISA-Test belegt hat, ist das auch sicherlich nicht so dramatisch. Ist auch egal, da Kopfrechnen eine Sache ist, die in den Geisteswissenschaften, denen ich mich verschrieben habe, so gut wie gar nicht vorkommt.
Plan B steht jetzt kurz vor seiner Vollendung. Bald werde ich an meiner Bachelorarbeit sitzen und vermutlich viele, viele Stunden mit Selbsthass zubringen und mich fragen, warum ich Freak unbedingt auf dieses Thema kommen musste.
Aber alles zu seiner Zeit.
Während ich mich noch in der letzten Phase von Plan B befinde, muss ich schon vorausplanen für meine Zeit nach dem Studium. Heute ist es wichtig, die nächsten drei Jahre im Terminkalender peinlich genau organisieren zu können. Ja, wir müssen genau sagen können, an welcher Stelle wir in zehn Jahren stehen wollen.
Bisweilen sehe ich mich in zehn Jahren in der Redaktion des „Metal Hammers“, wo ich mit meinen Kollegen auf den 75. Geburtstag von Ozzy Osbourne anstoße. Ja, dafür könnte ich es sogar ertragen für den Springer Verlag zu arbeiten.
Aber ich sollte auf dem Boden der Tatsachen bleiben und mich auf sinnvollere Projekte konzentrieren, womit wir wieder bei Plan R wären.
Plan R hat bereits in der Schulzeit seine ersten Wurzeln in meinem Kopf geschlagen. Über die Jahre hinweg durchlebte er eine Blüte, verwelkte leider in der Zwischenzeit und verlor schließlich an Glanz und Farbe. Die innere Zerrissenheit ist ein schweres Los eines jeden Träumers und so hatte ich dummerweise diesen genialen Plan mit Beginn meines Studiums verworfen, was meinen steten Selbstzweifeln zu verschulden ist. Nun flammt das alte Feuer aber wieder auf und ich bin guter Dinge, dass Plan R ein realisierbares Vorhaben ist. Ich werde gleich noch im Detail erläutern, wie Plan R überhaupt aussieht.
Plan R knüpft an Plan H an, meiner Arbeit auf einer Husky-Farm.
Plan H sieht genau so aus: Falls alle meine anderen Zukunftspläne zum Scheitern verurteilt sein sollten oder ich einfach nicht glücklich damit werde, für den Axel Springer Verlag zu arbeiten, dann ist Plan H meine Alternative, ja mein Lichtblick! Ich wandere gen Norden aus. Natürlich zieht es mich nach Finnland. Wunderbarerweise verlieren sich dort meine Spuren im Schnee der hohen Breitengrade, sodass mich selbst die deutschen Geldeintreiber nicht finden können und ich mein Bafög nicht zurückzahlen muss.
Zudem beherrsche ich noch einige Brocken von den Finnisch-Kursen, was die Auswanderung nach Finnland noch rationaler erscheinen lässt.
In Finnland angekommen, lasse ich mich also auf der Husky-Farm Tväraträsk im südlichen Lappland nieder und verdiene mein Geld mit der Arbeit auf dieser Farm.
Hunde, Natur und Winter – mehr brauche ich nicht um glücklich zu werden, denke ich mir zu Beginn. Doch bald darauf stelle ich fest, dass mein Leben zu etwas Höherem bestimmt ist.
Tagsüber arbeite ich auf der Farm und jage dabei mit meinen bezaubernden Schlittenhunden über die weiten Schneelandschaften Lapplands.
Die Abende sehen dann ungefähr so aus, dass ich vor meinem Kamin sitze, Erdbeersaft schlürfe und an ersten Songs arbeite. Die Mélange aus der Einsamkeit, der Kälte, den Nordlichtern, meinen Farm-Abenteuern und den Schauergeschichten von Edgar Allan Poe inspiriert mich zu meinen tiefsinnig- melancholischen Lyrics. Selbstverständlich kann ich auch komponieren, denn ich habe viel Zeit, um mich selbst darin zu unterrichten.
Ich erkenne mein Talent darin, Musik zu schreiben und ich ergreife die erste Chance, um im Musik-Business Fuß zu fassen: man bietet mir ein Engagement als
Filmkomponistin für einen finnischen Experimentalfilm an.
Natürlich steige ich mit der Zeit zu einer gefragten Filmkomponistin auf. Allerdings nehme ich nur wenige Anfragen an, weil ich weiterhin an meiner Rockstar-Karriere arbeiten möchte und dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren will. Viele Leute wissen ja nicht, was sie wollen, weshalb sie in ständigen Selbstzweifeln und Existenzängsten leben. Ich bin da wesentlich unkomplizierter, muss aber gleichermaßen in Kauf nehmen, anfangs noch in recht spartanischen Verhältnissen zu leben.
C'est la vie, Leute!
Durch mein Schaffen als Filmkomponistin erarbeite ich mir jedoch ein stattliches Startkapital und treffe auf verschiedene Leute im Musikgeschäft, die mich unterstützen wollen. Sie helfen mir bei den Aufnahmen zu meinen Demotapes, verschaffen mir einen Plattenvertrag bei einem finnischen Independentlabel und machen ordentlich Werbung für mein Debütalbum „Plan R“.
Ich bevorzuge es anfangs, meine Songs in Bars und Clubs vorzustellen. Die Inhaber von „Jack The Rooster“ und des „Tavastia“-Clubs mögen meine Musik so sehr, dass sie mich regelmäßig buchen.
Es kommen gute und schlechte Zeiten auf mich zu, allerdings bleibt mein Image als großartiger Rockstar stets bewahrt. Keine Drogeneskapaden. Keine peinlichen Ausrutscher. Angemessene Kleidung auf dem Präsidentschaftsball.
Ich genieße mittlerweile einige Popularität auch außerhalb der finnischen Landesgrenzen und lebe meinen Traum.
Eines Tages finde ich mich in dem Studio von „Huomenta Suomi“ wieder. Die Moderatoren begrüßen mich mit einem freundlichen „Tervetuloa!“ und ich sage „Kiitos!“. Wir plaudern über meine Zeit auf der Husky-Farm und ich schwärme von meinen großartigen Hunden Ezio und Samwise.
Als wir auf meine Musik zu sprechen kommen, hält der Moderator mein Album „Plan R“ in die Kamera und empfiehlt den Zuschauern, sich diese Platte unbedingt zu besorgen.
Er will wissen, was es mit dem Albumtitel auf sich hat. Ich winke nur ab und gebe ihm zu verstehen, dass diese Geschichte zu lange dauert. Danach nippe ich an meinem Kaffee – den ich mittlerweile total gerne trinke – und füge anschließend hinzu, dass dieses Album zeigt, dass man alles schaffen kann, wenn man selbst an sich glaubt.
Der Moderator möchte wiederum wissen, ob ich genau so an meine Karriere herangegangen bin, dazu skizziert er wie Markus Lanz kurz meinen Lebenslauf nach. Ich lasse ihn ausreden, bevor ich dann Folgendes erkläre: „Wissen Sie, es haben immer alle gelacht, als ich sagte, ich würde einmal ein Rockstar werden. Klar, damals habe ich noch nichts gekonnt und es sah auch so aus, als hätte ich kein musikalisches Talent. Aber ich habe in den Jahren hart an mir gearbeitet, um diesen Traum zu erreichen. Und wie Sie sehen können, sitze ich ja heute hier bei Ihnen und beantworte Ihre Fragen zu meinem Album und meinem Werdegang. Außerdem...Kurt Cobain war Hausmeister, bevor er mit Nirvana durchgestartet ist... er war ein armer Schlucker und gehört selbst 26 Jahre nach seinem Tod noch immer zu jenen Musikern, die man selbst in 50 Jahren nicht mehr vergisst. Ähnliche Schicksale können sie beliebig auch auf andere Künstler übertragen. Wir alle haben mal bei Null angefangen, manche früher und andere eben später.“ - "Gut gesagt!", lobt mich der Moderator. Er setzt das Interview fort und wir plaudern über die Gastmusiker auf meinem Album, meine Touren in Finnland, Deutschland und Polen und dann stellt er mir die eine Frage: „Wer gehört eigentlich zu Ihren musikalischen Vorbildern?“.
Ich überlege, reibe mir die Stirn und gebe zu verstehen , dass es schwierig sei auf diese Frage eindeutig zu antworten, da mich viele Persönlichkeiten aus der Musik inspiriert hätten. Ich zähle einige Bands auf, die ich für ihr Schaffen, ihr Engagement oder ihre Weltsicht bewundere. Es sind Bands aus ganz unterschiedlichen Stilrichtungen.
Zuletzt verfalle ich ins Schwärmen für die Band R.I.M.: „Mikko..wie hieß er noch mit Nachnamen? Ahja Mikko Paananen...er ist einfach ein cooler Basser, der in Interviews einen herrlich schwarzen Humor an den Tag legt. Mikko Lindström ist dagegen eine Wucht an der Gitarre. Einfach großartig! Ich finde auch seine andere Band ganz cool! Ach.. naja und was soll ich noch zu Ville Valo sagen? Der ist einfach ein verdammt guter Lyriker mit einer tollen Stimme. Er kann den Schmerz dermaßen... verbildlichen, dass er schon greifbar wird... man erträgt das gar nicht, weil es einem so schwer ums Herz wird. Klingt furchtbar kitschig, ne? Aber... Gefühle dermaßen auszudrücken, können nicht viele, wissen Sie? Ich hab früher auch immer gesagt, dass ich Ville Valo eines Tages heiraten werde.“, der Moderator und ich lachen herzhaft über meine letzte Aussage.
Ville Valo schaut diese Sendung natürlich gerade zufällig und sieht neben dem Lob auch noch meinen Live-Auftritt im Studio. Er kontaktiert daraufhin mein Management, um sein Interesse an einer Kollaboration zwischen der Band R.I.M. und mir zu bekunden, woraufhin ich natürlich erfreut zusage. Tja. Ich bleibe weiterhin gefeierter Rockstar und drei Jahre nach diesem Interview lebe ich in einem Turm, zugemüllt mit Büchern und Schaufensterpuppen und heiße mit Nachnamen Valo.
Guuuter Plan...
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him, husky, zukunft

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