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Alt 06.10.2011, 23:06   #1
männlich Ex-Ralfchen
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Beiträge: 17.302


Standard Ich liebe die Menschen

Ich liebe die Menschen

Wie an jedem anderen Morgen schnüre ich die zarten Ballettschuhe auf meine leicht verkrüppelten Treter. Es wäre an der Zeit meinen Halux mal unter die Guillotine des Ortho-Chirurgen zu strecken; nur: ich löse mich in Panik auf, wenn ich an Übergriffe gegen meine Glieder denke.

Leichtfüßig tänzle ich über das Gepflasterte der morgensonnendurchfluteten Nebenstrasse und zupfe schnell ein paar Veilchen, die ihre lila Köpfchen fast munter zwischen den Granitpölstern rausrecken. Ein Sträußlein als Zeichen meiner Liebe - für ihn.

Ich ziehe am Faden meiner letzten REM-Phase und: da ist er, der süße Junge mit dem kahlgeschorenen Kopf und den glänzenden dunklen Glotzern. Er blickt mich zärtlich an. Ein Spermafädchen glitzert auf seiner Unterlippe.

„Ich brauch’ heut nen Fuffziger Sunny, mein Dealer f*ckt mich sonst zu Brei!“

Ein süßer Traum, nur: wo nehm ich einen Fuffziger her? Bin froh wenn mich der alte Autohändler, dem die Zinsburg mit meiner Bleibe gehört, nicht diesen Monat vor die Türe setzt. Es ist nicht gerade der wirre Fun den Schwanz dieses miesen Drecksackes zweimal pro Woche abzunagen. Aba was soll’s.

Das sind so meine Gedanken und Tagträume, während ich am Autoplatz des schwulen Gebrauchtwagenhändlers vorbeigehe. Es ist Frühling und winziges Grünzeug treibt aus den Ästen. Als würden kleine grüne Schwänze die Vorhaut hinter sich lassen. Da sind meine Gedanken gleich wieder bei ihm, dem zauberhaften Grünschnabel.

Ein warmer Wind krault durch mein Toupet und erinnert mich an die geilste Zeit des Jahres. Oh shit - es iss Frühling! Ich passiere den leicht debilen Jungen von der Straßenreinigung, der gerade ein paar Bierflaschen in seinen Karren leert. Ach – tut mir das Geräusch in den Ohren weh. Ich schenke ihm und seinen knallroten Pausbacken trotzdem ein Lächeln und spitze meine Lippen zu einem schnalzenden Kussmündchen. Stelle mir grafisch vor, wie er die Hose seines grellorangen Outfits in einer dunklen Hauseinfahrt runter lässt.

„Du kommst auch noch dran, Süßer!“

Er blickt mich entgeistert an und lallt was Unverständliches in seine Hasenscharte.

Am Himmel schweben einander ein paar Federwölken nach, wie weiße Lesben. Ich hüpfe lebensfroh über die Geleise des stillgelegten Verschiebebahnhofes, dessen desolate Stahlkonstruktion wie das Skelett eines ausgebrannten Luftschiffes ausschaut. Hab gestern nämlich einen Film über die Hindenburg-Katastrophe im ZDF geguckt. Schön wie der Plusterer abbrannte. Dabei fällt mir ein, dass ich mal ein paar Spirituswürfel im alten Holzverbau unseres Hauses abfackeln könnte.

Aha – das Tuten des Intercityzuges. Ich beschleunige die Trottstangen unter meinem Arsch und hopse aufgeregt auf den erhöhten Bahnsteig. Er rollt gemächlich ein; mit leisen Puffen öffnen sich die Schiebetüren und eine Horde Jugendlicher quillt auf meiner Höhe aus dem Wagon. Ich stehe beim Zeitungskiosk, Rücken wagonseits und stiere in den großen Rückspiegel, den sich der alte Mohammed hier kürzlich montieren lies. Gegen Zeitungsdiebe – el klaro!

Die Bälger schienen einer netter als der andere. Vom fröhlichen Geplapper ihrer jungen Stimmen erreicht mich Sinniges wie:

„…was in den Arsch gef*ckt…drei Mal gekommen, du Wichser…ihr zwei Harte über die Schnauze gegeben…die wirre Tussi halb erschlagen…du beschissener Drecksack…Scheiß Fixer…f*ck dich Ali…du Türkensau…!“

Ein herrliches Gefühl ergreift Besitz von mir. Wunderbar unsere Jugend, offen für alles was Spaß macht. Ich liebe sie. Ich liebe ihn!

Und dann er – mit dem Rücken zu mir. Seine zerrissene Jean lässt mich den schönsten Arsch erahnen. Den Arsch von dem ich nun schon seit Wochen jede Nacht fantasierte, während ich meine Kotze voll-ejakulierte. Sein kahlgeschorener Kopf ist vorgebeugt. Mann - seine hasserfüllte Stimme kam deutlich rüber zu mir, tief und samtig:

„Ein Wort noch du verf*ckter Jugostricher und ich brenn dich ab!“

Der Satz geht unter im Stimmengewirr, die Jungs starten ein Gemenge. Da wird es gleich knallen. Wie atemberaubend. Ich, shit – Mensch, ist das nicht der feinste Moment um mich mit meiner Liebe zu outen? Ich fasse meine Courage bei den Eiern und drehe mich um. Die Herde steht in drei Meter Entfernung von mir. Der Zug beginnt langsam zu rollen. Er knarrt und quietscht fast müde und verabschiedet sich mit einem zarten Tüten.

Blitzig habe ich die Menge gezählt. Es sind neun Fehlgeburten und mein Traummann – umringter Weise. Zwei Mädels haben sich mit großen Augen und quasselnd zum Ausgang entfernt und verschwinden hinter den Schwingtüren. Ja – es liegt Mordlust in der morgendlichen Luft. Die zittert irgendwie, als wären wir auf einem Picknick in der Sahara.

Ich trete ran und zupfe mein Idol von hinten am Ärmel seiner Jacke. Der Stoff fühlt sich seidig an und ich spüre heißen Urin auf dem Weg abwärts in meine Harnröhre. Der Aufdruck auf dem Rücken seiner schwarzen Jacke ist irgendwie originell.

„Keine Ehe vor dem Sex!“

Das zaubert ein Grinsen auf meine Visage. Hoffe nur mein Make-up ist nicht zu auffällig.

Die Jungs verstummen schnell, als sie mein Einschreiten mitkriegen. Er dreht sich um, richtet seine wunderschönen Augen auf mich. Seine Stirn furcht sich zu einem scharfen Runzeln. Der Blick aus seinen dunklen Glotzern wirkt nicht erwärmend.

„Was?“

„Ich liebe dich Ali!“

Dabei strecke ich meine Hand mit den Veilchen in seine Richtung. Die lassen ihre lila Köpfen hängen. Na ja – hoffe, die haben keine Vorahnung.

„Hier, die sind für dich.“

Die Stille hat was. ich weiß nur nicht was. Kommt mir vor wie ein Film; so ein bisschen in Zeitlupe.

Das schallende Gelächter klingt irgendwie fern. Neun Missgeburten kichern, aber nicht im Chor. Der Edelmann blickt mich wortlos an.

„Scheiß Tunte, ich fix dich, wenn du hier nicht fluxi die Fliege machst!“

„Ich liebe dich Ali!“

„Mensch Ali, der Stricher will nur deinen Arsch, Mann. Blas ihm gleich einen hier – hm? Bosso, komm Mann, mach n’ Foto von den zwei Süßen – hei?“

„Ich mach dich Mann, shit ich mach dich!“

„Du magst mich Ali? Oh Gott, ich liebe dich, Mann!“

Sein harter Schuh landet genau zwischen meinen Beinen - eierwärts. Und ich: bin mal luftleer. Oh tut das weh. Ich knicke mal nach unten, und er knallt noch mal nach oben. Ich höre das Krachen meines Kiefers - oder ist es die Nase – als wäre ich inmitten einer Geröll-Lawine.

Ich richte mich mühsam auf.

„Ali, bitte, bitte…!“

Die Veilchen liegen am Boden. Wie in einem Frühlings- Still-Leben. Die neun Abartigen rundum, sind still geworden. Sein Gesicht ist knapp vor mir. Ich spüre seinen warmen Atem auf meiner Wange. Wodka und Wrigleys. Ich liebe die Menschen. In meinem Mund gurgelt etwas nach oben. Der Kragen seiner offenen Jacke ist voll rot geworden.

Erst jetzt spüre ich ein wenig Schmerz. Er zieht die lange Klinge des Messers aus meinem Hals. Ich fühle mich traurig. Und ja – schwer. Es ist als ob mich die Erde zu ihrem Mittelpunkt zöge. Er stößt mich von sich und ich kippe über den Bahnsteig. Der Stahl der Schiene ist kalt und ich beiße auf meine eigenen Zähne. Knirschig.

Ich bin müde und wälze mich schwerfällig auf den Rücken. Die Wolken haben einander erwischt, umarmen sich endlich. Der Himmel ist hellblau.

Alis Gesicht ist wunderschön wie er so über den Bahnsteig lugt. Seine Spucke landet warm auf meiner Wange.

„Stirb, Tunte!“

Ja, das muss ich wohl, denn viel Blut hab ich nicht mehr. Es quillt und quillt und mir wird eiskalt um die Seele. Ich muss den Himmel nicht mehr sehen. Ich nehme den mit. Nehme ihn dorthin mit wo ich jezz hin muss. Das Stimmengewirr ist klar und deutlich: der Chor wilder Engel.

„Lasst uns abhauen, bevor die Bullen kommen!“

Ich liebe die Menschen.
Ex-Ralfchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2015, 15:56   #2
Thing
R.I.P.
 
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Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998


Lieber Ralfchen,


dieses starke Stück läßt sich unmöglich kommentieren.
Zumindest nicht von mir.
Dafür ist es zu beißend gut.

LG
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2015, 17:50   #3
männlich Ex-Lichtsohn
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Beiträge: 1.493


Verdammt!

Ich glaube ich hab noch nie so tief im Schlammassel gesteckt wie grad eben, als ich irgendwie ne Tunte war ... aber das bitte soll sich nicht irgendwie abschätzig gegen Menschen richten die so sind, oder leider so wahrgenommen werden, es soll nur irgendwie tolltapsig zeigen wie tief du mich in deine Geschichte gezogen hast ...

irgendwie hab ich grad Angst vor dem was kommen wird, wenn ich mehr von dir lese, aber irgendwie weiß ich gleichzeitig auch das ich es dennoch lesen werde ... wie der tuntige Stricher in deiner Geschichte, der - obwohl er irgendwie ahnt das es extrem gefährlich wird - einfach grade draufzugeht und seine Liebe eingesteht, verdammt mutig der Kerl, Hut ab vor ihm...

und vor dir
fürs komponieren

Alles Liebe
Lichtsohn
Ex-Lichtsohn ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2015, 21:53   #4
männlich Ex-Ralfchen
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Dabei seit: 10/2009
Alter: 77
Beiträge: 17.302


das ist fatalismus süsser LICHTSOHN. und darüber diskutiere ich mit meiner jahrelangen geisteskranken geliebten Nicole, die denkt, dass man mich spielen kann wie ein trottel-klavier und sich dann wundert wenn nur misstöne rauskommen. denn: für mich wurde das wort WIRNISS erfunden. in ihr bewege ich mich zwischen FINSTERNISS, dem GLEICHNISS und dem ABYSS....hhhhhhhhh

hier schaut sie mich irrer als der durchschnittsirre an:

http://up.picr.de/21351721wd.jpg
Ex-Ralfchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.03.2015, 16:01   #5
weiblich Ex DorotheaG
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Dabei seit: 03/2015
Beiträge: 43


Standard Starker Tobak

Hallo Ralfchen,

Deine Erzählung zieht mich stark an und stößt mich zugleich ab. Nein, das habe ich schlecht gesagt. Nicht "sie" stößt mich ab, sondern eine bestimmte zotige Sprache lässt mich regelrecht zusammenzucken. Bei den Schlägertypen ist sie passend. Ihre Charakterisierung würde unglaubwürdig sein ohne den Schmutz, den sie absondern.

Der Protagonist aber benutzt dieselbe schnoddrige, erniedrigende Sprache, wenn er über sich selbst spricht. Daran habe ich lange gekaut.

Nun denke ich es mir so, dass er als Mensch mit gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung von der Gesellschaft, die teilweise noch nicht einmal ihre Homophobie zu sehen in der Lage ist, stigmatisiert ist. Er reagiert wie mein Bruder, der Alkoholiker war und auch daran gestorben ist. Bevor jemand auch nur in der Lage war ihn verletzend anzureden, hat er sich schon selbst Suffkopp oder ähnliches genannt.

Extrem unangenehm finde ich Sprache, die den erotischen Bereich zu schildern versucht, wenn der/die Begehrte zum Objekt der Begierde degradiert werden; es geht dann nur noch um den Knackarsch oder die üppigen Titten. das ist aber etwas, was zwischen Menschen geschieht, die einander als Objekte benutzen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung.

Dass dein Protagonist in dieser Ecke gar nicht stehen bleiben möchte, zeigt er durch die Blumen, die er pflückt und zu schenken versucht. Die wären nicht nötig für einen schnellen Fick ohne Erinnerungswert.
Wer sich am Abgrund noch die Blumen sucht, (er sucht auf den Fluren, womit er seine Liebe schmückt) wer in der Agonie noch bekennt, dass er das Leben liebt, der ist für mich groß.
Ex DorotheaG ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.03.2015, 16:03   #6
männlich Ex-Ralfchen
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ausgezeichnet analysiert DG. danke für deine mühe den text nicht nur zu überfliegen...
Ex-Ralfchen ist offline   Mit Zitat antworten
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