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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt.

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Alt 03.04.2010, 13:12   #1
Aporie
 
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Standard Karfreitag: Jesus wurde gekreuzigt, weil er die Tische ...

.... der Geldhändler umstieß
(warum nur ist hier so wenig Platz für lange Titel?)


Die Geldhändler hockten vor den Tempeln und bedienten sich einer Sprache, die von dort zu stammen schien: Gläubiger, Schuldner, Kredite.
Kredite werden von denen vergeben, die sie aufnehmen. Noch heute klingt dieses pekuniäre Credo wie aus der Bibel. Nur hat sich inzwischen der pornographische Begriff Gewinnmaximierung in die Geldhändlersprache eingeschlichen. Lasset alle Hoffnung fahren wäre jetzt wohl die angemessenere Botschaft, auch wenn die nicht von oben kommt, sondern aus dem Zweifel, dass frommes Streben den Menschen vor Unglück behütet, ein Zweifel, den Hobbes schon vor zweihundertfünfzig Jahren hegte, als er einen natürlichen Wesenszug der Menschen darin sah, sich untereinander zu bekriegen. Jetzt herrscht unter den Gläubigern Hobbes' Krieg aller gegen alle., und die Börse ist das Schlachtfeld. Sollte dieser Krieg endgültig verloren gehen, wird weder der Überbringer noch der Urheber der schlechten Botschaft geköpft werden. Aber vielleicht greift dann die Einsicht um sich, dass der wahre Feind die Botschaft selbst ist, die Information an sich.
Den Managern von Hedgefonds, den Analysten in den Vorstandsetagen der Banken von New York, London, Frankfurt und Zürich und den Herausgebern von Börsenbriefen für Prognosen aller Art, all ihnen ist gemeinsam, dass sie das Wirtschaften in die eigene Tasche als Information ausgeben, eine Information, auf die Anleger trotzdem nicht verzichten können. Auch wenn die Information meistens zu spät kommt und es oft nicht mehr lohnt, darauf zu reagieren, müssen Anleger nach wie vor alles im Auge behalten, was zu einer Information führen kann. Oder mindestens die Reaktion auf eine Information, von der sie noch gar nichts wissen,
In unruhigen Börsenzeiten früherer Jahre konnte man noch Ralph Elson Eliott zu Rate ziehen, der schon in der Krise der zwanziger Jahre beobachtet hatte, dass rasch schwankende Wellen fraktalen Charakter haben und die Zickzacksprünge meistens nach den Fibonaccizahlen verlaufen. Im beliebigen Wirbeln der Tornados von heute ist auch auf die Eliott-Waves kein Verlass. Der Zeitaspekt ist zum archimedischen Punkt geworden. Was noch vor Sekunden der richtige Zeitpunkt gewesen wäre, um zu kaufen oder um zu verkaufen, ist von der Echtzeit bereits wieder überrollt worden. Doch die Information in Echtzeit hat sich als die gefährlichste aller Informationen erwiesen, weil sie sofort wieder abgelöst wird von einer neuen Echtzeit. Der Begriff ist mittlerweile an seiner eigenen Herkunft gescheitert ist. Schließlich gehört es zum Wesen der Zeit, dass sie kommt, verstreicht und abläuft, aber nicht bleibt. Nicht zu reden davon, dass sie nur gerade für den Ort gilt, an dem sie wahrgenommen wird. Selbst wie schnell sie verstreicht, hat uns Einstein beigebracht, ist abhängig vom Standort des Betrachters. Trotzdem wird an den Börsen daran festgehalten, von Echtzeit zu sprechen, als ob das Produkt aus Übertragung und Projektion ein verabsolutiertes Paralleldasein auf allen Monitoren dieser Welt abbilden könne. Baudrillard meint, dass die Echtzeit das Ende, das Verschwinden der Zeit überhaupt bedeute. Man braucht nicht Physiker oder Philosoph zu sein, um einsehen zu müssen, dass es kein globales Zusammenschnurren der Zeit zur Echtzeit gibt. Ihr vorgebliches Zusammenfallen von Erscheinung und Anschauung ist ein Börsenmärchen, das in jeder Sekunde weltweit zu unbedachten Handlungen verführt.
Es sind die Banker, die an der Zeitschraube drehen, damit sie ihren Erwartungen gerecht wird, jedes Jahr mehr zu verdienen als im Jahr davor. Sie haben den Irrwitz ihrer Illusionen auf das System selbst projiziert, Wie soll es da gesunden? Der Unterschied zwischen Gesundheitsberatung und Geldberatung liegt in der Vertrauensfrage. Dem Arzt kann man im Allgemeinen rückhaltlos vertrauen. Geht man zum Bankberater, vermag sein routiniert wohlwollender Blick nicht darüber hinweg zu täuschen, dass dieser Mann bei allen wohlfeilen Ratschlägen, die er seinen Kunden gibt, niemals die Eigeninteressen des Arbeitgebers aus den Augen verlieren wird. Wahrscheinlich ist es gar nicht möglich, den Beruf eines Bankers auszuüben, ohne die Bereitschaft. am Rande der Täuschung zu operieren. „Wenn die Amerikaner wüssten, wie Banken funktionieren, gäbe es eine Revolution“, hat Henry Ford schon in den neunzehnhundertzwanziger Jahren gesagt. Dazu wird es nicht kommen. Und die Tische der Geldhändler werden wohl nie wieder umgestossen. Aber vielleicht sollte der Staat nicht nur Banken kontrollieren, die vor diese Bezeichnung das Wort Spiel setzen. Dann würde manchen Anlegern der Weg nach Golgatha erspart.
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