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Philosophisches und Nachdenkliches Philosophische Gedichte und solche, die zum Nachdenken anregen sollen.

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Alt 01.04.2012, 09:32   #1
männlich Desperado
 
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Standard Gedankenfreischweifen

Meine ausgebüchsten Gedanken beschäftigen sich grade mit der Bedeutung des Briefe Schreibens.

Welche Welt ist nun wirklicher, die der alltäglichen Begegnungen, die für gewöhnlich an der gefälligen Oberfläche haften bleiben, oder die des geschriebenen Wortes an ein genau genommen „unbekanntes“ Gegenüber? Ist der Nachbar, mit dem der Briefeschreiber pro Woche zehn nichtssagende Worte wechselt, seine prägende Wirklichkeit, oder aber vielmehr der Mensch, den der schreibende Briefempfänger zwar noch nie gesehen hat, mit dem er aber per Post tiefschürfende Gespräche führt und regen Gedankenaustausch pflegt?

Als Beobachter sage ich mir, sowohl als auch oder keins von beiden, da jede Form sogenannter Wirklichkeit sowieso eine höchst brüchige Angelegenheit ist, meinen freischweifenden Gedanken hingegen ist die knifflige Frage eine Erforschung und Überlegung wert, und da ich sie nicht daran hindern kann –und offengestanden auch nicht will- lass ich sie mal ruhig schweifen, wohin immer sie wollen.

Wenn wir die Sache mit den Schriftreligionen richtig verstehen, fragen sich die Gedanken weiter, ist Gott dem Gläubigen ein großer Brieffreund, der sich ihm im geschriebenen Wort mitteilt und prägend ist für sein Leben.
Ein Gegenüber also, mit dem der Empfänger seinerseits sehr persönlich durch das gedankliche also im Geiste geschriebene Wort spricht im Gebet, oder auch durch das gesprochene von Menschen niedergeschriebene, ohne dass der Gläubige den Angesprochenen je zu Gesicht bekommen hat und von sich behaupten kann, ihn wirklich zu kennen, während der Reverend, den er jeden Sonntag sieht und seit Jahrzehnten kennt, mit dem er aber noch kein einziges Wort gewechselt hat und dessen Predigten er grundsätzlich verpennt, eine vollkommen fremde und bedeutungslose Person ohne jede prägende Gewichtigkeit ist für ihn, die sich beliebig austauschen lässt.

Der Beobachter, also ich, grummelt, nun, dass der Herrgott und der Herr Reverend nicht ein und derselbe sind und allzu oft nur soviel miteinander zu tun haben, dass der Sterbliche den Ewigen zum Lügner macht, wusste ich schon vorher, und der Rest ist jedem selbst überlassen und mir außerdem ziemlich egal.

Tja, meinen die Gedanken, nur ist es nun mal so, dass der Gläubige dem Ungläubigen in der Regel vorwirft, aus unerfindlichen Gründen nicht glauben zu wollen und stattdessen lieber seinen eigenen Schnapsideen folgt, und der Ungläubige für gewöhnlich dem Gläubigen, an etwas oder jemanden zu glauben, den es gar nicht gibt, er also ein gutgläubiger Trottel sein muss, der sich selbst betrügt und noch dazu etwas vorschreiben lässt von einem Niemand.

Was scheren mich die Streitereien von ungläubigen Gläubigern, erwidert der Beobachter mürrisch, wenn die Beiden wirklich nichts Besseres zu tun haben, sollen sie sich von mir aus klopfen, bis sie grün und blau sind, was zum Teufel hab ich damit zu tun?

Aber die Gedanken sind schon wieder ganz wo anders.

Wie kommt es, fragen sie, dass die einen Gläubigen sagen, an den einzig wahren Gott zu glauben und den andern Gläubigen erbittert vorwerfen, einem falschen Gott aufgesessen zu sein, wenn es doch für beide nur den Einen gibt? Kommt noch ein dritter hinzu, stiftet der keineswegs Frieden, sondern behauptet, die zwei Zankäpfel seien beide im Irrtum und nur er allein habe den rechten Glauben, kommt noch ein Vierter dazu...

Schluss damit, antwortet der Beobachter, das müsst ihr die Herrschaften mal schön selber fragen, mir ist das nämlich schlicht und ergreifend zu hoch.

Und so geht das fröhlich weiter und endet für gewöhnlich in der Steinzeithöhle, im Steppengras oder im Urwald, und weil so freischärlernde Gedanken dazu neigen, im Überschwang ihrer erlangten Freiheit übermütig zu werden, drehen sie sich irgendwann vorwitzig zu ihrem vorübergehend entmachteten Beherrscher um und fragen diesen rotzfrech:
„Und du, wo stehst eigentlich du?“

„Na, das seht ihr doch“, antwortet der Desperado lächelnd.
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