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Alt 24.01.2012, 00:06   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Der Pinscher

Nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatten und darauf warteten, daß zuerst die Getränke und der Salat gebracht werden, wanderte mein Blick durch das Lokal und blieb am Tisch rechts von uns haften. Dort saß der kleine Pinscher, der Buchhalter, der mich in den ersten neun Monaten meiner Lehrzeit gepiesackt hatte.

Der kleine, x-beinige Pinscher mit Familie! Eine attraktive Frau, größer als er, auffällig gekleidet in einem golddurchwirkten, glitzernden Pullover – etwas zu glamoureuse für den Besuch einer einfachen Pizzeria. Ein Sohn von etwa zwölf Jahren, wahrscheinlich ein spätgeborenes, letztes Kind?

Er erkannte mich nicht, ziemlich sicher hatte er auch keine Erinnerung mehr an die Zeit vor dreißig Jahren, als er sich in seine ehemalige Lehrfirma zurücklocken ließ, weil man ihm die Leitung der Buchhaltung versprochen hatte. Die Crux war, daß der „Alte“, obwohl schon im Rentenalter, den Posten aber nicht räumen wollte. Da hieß es für den Pinscher: „Zähne zusammenbeißen, durchhalten und schleimen.“

Wenn der Boß, der Inhaber der Firma und absolute Monarch über die Belegschaft, in der Buchhaltung anrief, stand der Pinscher so abrupt auf, daß sein Stuhl einen halben Meter nach hinten schoß, und bei jedem Wort, daß diesem Schleimer durch die Hörmuschel ins Ohr drang, machte er gehorsamst einen Diener, was der Boß nicht sehen konnte, aber die Angestellten und Lehrlinge zu heimlichem Gekicher reizte.

In anderer Richtung war der Pinscher nicht so respektvoll. Als im Sommer Betriebsferienen angesagt waren und die Produktion für drei Wochen geschlossen wurde, galt das auch für die Kantine. Deshalb war der Pinscher der Meinung, mich in meiner Mittagspause zum Metzger schicken zu dürfen, um ihm Schinkenbrötchen zu besorgen. Das ging von meiner Zeit ab, also beeilte ich mich, und wie es in der Hektik oft ist, passiert dann etwas: Es war ein Regentag, und ich war mit den Brötchen auf dem Weg zurück, da rutschte ich auf der gekachelten, nassen Treppe des Metzgerladens aus und riß mir beim Sturz die Nylonstrümpfe kaputt. Am nächsten Tag wollte mich der Pinscher wieder losschicken und bekam von mir zur Antwort: „Gehen sie doch selbst, Sie haben genauso junge Beine wie ich!“ Mit der Bemerkung: „Kommen Sie bloß von ihrem hohen Ross herunter!“ zog er seinen Mantel an, stapfte davon, und damit war die Sache ein für allemal ausgestanden.

Der Respekt stellte sich aber umso deutlicher ein, wenn die Buchprüfer ihren Besuch angekündigt hatten. Schon Wochen vor dem Termin wurden Akten gesichtet, bereitgestellt und die Bedeutung der hohen Herren mit jedem Wort beschworen. An den Tagen, an denen es dann an die Prüfung der Zahlen ging, war es in der Buchhaltung so leise wie in der Kirche, fast spürte man so etwas wie eine päpstliche Aura. Und jedesmal, wenn sich einer der Prüfer zu Wort meldete und eine Nachfrage hatte, machte der Pinscher seinem Namen alle Ehre und schwitzte Blut und Wasser - denn die Nerven lagen ihm blank, dem Herrn Blank!

Da saß er nun mit seiner Familie, die sich über Pizza und Pasta hermachte. Und ich saß ihm gegenüber, zusammen mit meinem Lebensgefährten, einem Wirtschaftsprüfer, und mußte lächeln.

23. Januar 2012
by Ilka-Maria
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