Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 26.01.2012, 22:16   #1
weiblich tröpfchen
 
Dabei seit: 05/2011
Beiträge: 1

Standard Morphium und Zigarettenqualm

Händeringend saß ich auf dem schmutzigen, womöglich schon Jahre alten Sofa, das, wie ich annahm, wahrscheinlich schon seit seinem Kauf als Bett genutzt wurde. Decke und Kopfkissen waren hastig zusammengerollt und in eine Nische zwischen der Wohnzimmerwand und der heruntergekommenen, verstaubten Anbauwand gestopft worden. Der Couchtisch war dekoriert mit einer Ansammlung von Tabakkrümeln und einem verdreckten Aschenbecher. Es roch nach abgestandenem Qualm, kaltem Kaffee und dem Duft jahrelanger Vernachlässigung.
„So. Ich habe schon lange darauf gewartet, dass du dich meldest. Ich hatte eher damit gerechnet. Seit deinem achtzehnten Geburtstag eigentlich.“
„Das Amt hat dich gefunden.,“ sagte ich, „Ich hatte nicht viele Möglichkeiten. Ein bekannter Polizist hat einmal zwei Adressen herausgesucht, aber da hast du wohl schon lange nicht mehr gewohnt. Die Nachmieter kannten dich nicht.“
Ich beobachtete, wie sich mein Gegenüber eine gestopfte Zigarette anzündete und den Qualm in den Raum blies. Er hing eine Weile lang in der Luft und verflüchtigte sich dann, um sich in den Wänden und Möbeln festzusetzen – wie seine unzähligen Vorgänger.
Nervös fingerte ich mit der einen Hand am Reißverschluss meiner Handtasche, während meine andere damit beschäftigt war, das alte Handy auf seine Beschaffenheit zu untersuchen. Mein Blick wanderte unruhig durch das Zimmer und blieb hin und wieder an dem eher denkwürdigen Wandschmuck hängen. Fotos. Keine schönen. Keine von mir.
„Du bist immer noch blond. Das hatte mein Nachbar mir schon erzählt.“
„Gefärbt.,“ erwiderte ich, „Gerade frisch gefärbt. Eigentlich sind sie dunkler.“
„Ich wollte dich am Wochenende anrufen. Das hatte ich vor. Aber jetzt bist du ja hier.“
„Ja, ich war schon immer ungeduldig.“
Und nicht sicher, ob du jemals anrufen würdest. Dachte ich, während ich dem Fremden beim Ausdrücken seiner Zigarette zusah. Ich glaube, während des Rauchens fühlte er sich sicherer. Es gab ihm eine Beschäftigung, die Möglichkeit, in einem peinlichen Moment des Schweigens genussvoll an ihr zu ziehen. Einen kleinen Moment, in dem er sich nicht dazu gezwungen fühlte, etwas zu sagen.
„Weißt du, ab 14.00 schlafe ich meist. Morphium. Gegen die Schmerzen.“
Er deutete in eine Ecke des Zimmers, die sich ein zusammengeklappter Rollstuhl und ein paar schmuddelige Krücken teilten.
„Mein Nachbar schaut ab und zu mal nach mir. Die Epilepsie. Hab ich schon lange. Du warst einmal bei einem Anfall dabei. Du warst noch klein. Da ist bei mir der Groschen gefallen.“
Dunkle Schwaden verschwommener Kindheitserinnerungen krochen aus einer hinteren Ecke meines Gehirns auf und verdichteten sich. Ich als etwa siebenjähriges Mädchen. Verängstigt, überfordert mit der Situation. Wütende Anwohner eines Neubaublocks, die, sich laut beschwerend, ihre Köpfe aus den Fenstern strecken. Er, völlig neben sich und in Rage gegen die gläserne Eingangstür hämmernd. Der Schlüssel passte nicht. Wieso passte er nicht?
„Ich erinnere mich. Dunkel.,“ sagte ich.
Tat ich das? Oder bildete ich mir das ein? Ob real oder nicht, es war keine Entschuldigung. Viele Kinder haben weitaus Schlimmeres erlebt und deren Erinnerungen daran bestehen nicht nur aus ein paar grauen Nebelschwaden, die hin und wieder dunstig das Bewusstsein streifen.
„Deine Mutter hat das gewusst. Aber sie hat sich nicht um mich gekümmert. Es hat sie nicht interessiert. Es kam durch einen Unfall, 97 oder so. Es war glatt. Ich bin auf den Kopf gefallen. Das hat sie gewusst.“
Natürlich. Mir muss sofort vor Augen geführt werden, wer an seiner derzeitigen, womöglich bis an sein Lebensende fortwährenden Situation Schuld ist. Das eigene Dahinsiechen in einer nahezu vollkommenen Daseinslosigkeit muss selbstverständlich immer mit dem Handeln oder Nicht-Handeln anderer Personen erklärt werden.
„Dazu kann ich nichts sagen.,“ erklärte ich schlicht, „Sie hat mit mir nicht darüber gesprochen.“
Er nickte und fixierte dabei irgendeinen Punkt in Nähe des ungeputzten Fensters.
„Ich komme nicht viel raus wegen meiner Krankheiten. Einen Computer habe ich nicht, der könnte einen Anfall auslösen. Manchmal lese ich.“
„Das tu ich auch.,“ sagte ich, glücklich darüber, eine Verbindung zwischen uns gefunden zu haben, „Ich lese sehr viel. Ich studiere jetzt Germanistik. Es scheint das Richtige zu sein.“
„Zur Zeit habe ich keinen Strom. Aber wenn du Kaffee möchtest, rufe ich schnell meinen Nachbarn an. Der kann welchen bringen. Er kümmert sich oft um mich. Alleine schaffe ich es nicht. Aber eigentlich geht er mir ziemlich auf die Nerven. Er ist mein Exfreund.“
„Nicht nötig.,“ erwiderte ich rasch, „Ich trinke nicht so gern Kaffee.“
Diesen Nachbar hatte ich schon kennenlernt. Ich war nicht erpicht darauf, ihn noch einmal sehen zu müssen.
„Er ist eifersüchtig. Ich habe seit einer Weile einen neuen Freund. Er ist zwanzig.“
Das erklärte die Fotos an den Wänden. Ich war nicht geschockt. Eigentlich fühlte ich nichts. Wie dieser Fremde lebte, wie er in seiner verqualmten Bleibe hauste, mit wem er auf diesem alten Sofa schlief – all das interessierte mich nicht. Ich hatte erwartet, dass es mich interessieren würde. Aber in mir regte sich nicht das kleinste Gefühl. Ich empfand nichts beim Anblick dieses scheinbar mitleiderregenden Abbildes menschlichen Scheiterns. Seine leeren Worte erreichten mich nicht.
Auch er schien das zu bemerken und steckte sich eine neue Zigarette an. Das Gespräch lief nicht so wie er wollte. Ich war nicht in seine Mitleidsfalle geraten.
„Weißt du, ich dachte wirklich, du würdest dich eher melden. Ich habe darauf gewartet.“
Ich hätte sagen sollen: Ich habe über zehn Jahre darauf gewartet, dass du dich bei dir meldest. Es ist nicht meine Aufgabe, sondern deine. Du hast auf ganzer Linie versagt, nicht ich.
Stattdessen sagte ich: „Ich hatte keine Möglichkeit.“
Das hatte nichts mit Angst zu tun. Ich hatte nur plötzlich das Gefühl, dem Fremden keinerlei Rechenschaft ablegen zu müssen. Ich wollte ihm keinen Grund liefern, sich in seiner Entscheidung, mich und Constantin aus seinem Leben zu streichen, um – wie er sagte – uns zu schützen, bestätigt zu fühlen.
Er seufzte. „Ich komme fast nie aus der Wohnung heraus. Mit den Krücken kann ich nicht lange laufen und mit dem Rollstuhl ist es auch ziemlich beschwerlich.“
ich wollte brüllen: DAS INTERESSIERT MICH NICHT. Ich wollte ihm ins Gesicht spucken: Für dich empfinde ich kein Mitleid. Diese Fähigkeit hast du mir vor langer Zeit genommen.
Stattdessen blieb ich stumm und starrte auf das Display meines Handys. Ich gebe zu, dass ich mir in diesem Moment – mehr als alles andere auf der Welt – wünschte, ihm diese schäbigen Sachen, die er besaß, seinen letzten Notgroschen und das letzte Stück Brot rauben zu können. Egal wie wenig Geld er hatte, so dachte ich, jeder einzelne Pfennig würde einer mehr auf meinem Konto sein. Bin ich deswegen ein schlechter Mensch? Vielleicht. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
tröpfchen ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Unbenannt



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Unbenannt FarbenLeere Liebe, Romantik und Leidenschaft 10 25.11.2010 16:59
Unbenannt Sunrise Düstere Welten und Abgründiges 4 22.12.2007 18:56
unbenannt [ehemals: "Tropfen"] Appelschnut Liebe, Romantik und Leidenschaft 6 05.11.2007 21:04
Unbenannt lyrwir Gefühlte Momente und Emotionen 0 31.10.2007 19:34
Unbenannt [Schwüre] Princess-of-Anywhere Sonstiges Gedichte und Experimentelles 1 13.09.2007 18:28


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.