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Alt 01.01.2018, 02:28   #1
männlich Blurryface
 
Dabei seit: 01/2018
Ort: Wichtig? Falls du es wirklich wissen willst: nahe München.
Alter: 29
Beiträge: 3

Standard Ich, der Rassist

Ich habe Vorurteile!" - eine Aussage die, wenn ich mich recht entsinne, noch nie in meinem Leben gehört habe. Natürlich nicht, jeder hält sich für den offensten, aufgeschlossensten und tolerantesten Menschen überhaupt. Wir haben keine Vorurteile - Vorurteile sind etwas für Beautyqueens, die Profilbildselfies mit Snapchatfilter posten.

Ich bin dabei keine Ausnahme: ein herzensguter Junge, der mit allem und jedem klar kommt, für den die Herkunft, Sexualität, Geschlecht und Religion der Mitmenschen nebensächlich sind, ein Fels in der Brandung gegen Rassismus, Homophobie und religiösem Fanatismus - das muss ich doch nicht auch noch extra betonen.

Kennt ihr diese Facebookpostings, die so penetrant für Toleranz werben?
Dass wir trotz verschiedener Hautfarbe, alle gleich sind?
Zum Würgereiz pathetische Videos, in denen supertolerante Menschen stumm Pappschilder mit rührenden, handgeschrieben Nachrichten hochhalten und für eine bessere Welt, voller Gerechtigkeit, Gleichheit und Liebe plädieren, begleitet von widerrechtlich genutzter, bedeutungsschwangerer Pianomusik?
Und am Ende sollen wir doch bitte alle noch ein Like da lassen und diesen Beitrag teilen, damit all unsere Freunde auch sehen können, was für supertolerante Samariter wir doch sind.

Warum muss ich mich eigentlich täglich durch endlose Beiträge dieser digitalen Selbstbeweihräucherung kämpfen? Ständig mit dem Holzhammer das Gute in der Welt eingeprügelt bekommen? Ich bin ein supertoleranter Mensch verdammt! Könnt ihr mich nicht mit diesem Blödsinn verschonen? Könnt das ja gerne privat ausleben, aber nicht hier im Internet, wo ihr tausende tolerante Typen wie mich damit belästigt!

Es hat wirklich lange gedauert, bis ich mich einmal selbst gefragt habe, warum mich diese "gutmenschlichen" Facebookposts so unendlich nerven, sogar fast schon aggressiv machen.
Und vielleicht ist die Antwort simpel: Sie haben recht mit ihrer Aussage. Ich bin nicht vorurteilsfrei.
Nein, ich denke nicht, dass Ausländer inkompetenter sind, als das treue deutsche Arbeitstier.
Nein, ich kann nicht nachvollziehen, warum es irgendjemanden stören sollte, wer sich in welchem Geschlecht wirklich wohlfühlt. (#doppeldeutig)
Ja, ich halte es für relativ unwahrscheinlich dass ich heute, vom nächstbesten Vollbartmuslim, beim Bäcker in die Luft gesprengt werde.
Nein, ich halte zutätowierte Punker für nicht gefährlicher als bodenständige Bierbraumeister.
Und ja, ich bin mir definitv sicher, dass die absolute Mehrheit der Frauen besser einparken kann als ich.

Meine Vorurteile sind nicht so Mainstream - ich bin ein Vorurteilshipster.
Eines konntet ihr bestimmt schon herauslesen:
Habt ihr gemerkt, wie sehr ich Menschen verurteile, die sich durch "gutmenschliche" Facebookpostings profilieren? Wie ich ihnen automatisch unterstelle, dass sie sich nur diese außerordentlichen Strapazen unterwerfen, den Like Button zu drücken, um insgeheim selber in einem besseren Licht dazustehen und sich über ihre sterblichen, ignoranten Mitmenschen zu erheben?

Und ich? Ich schwebe zeitgleich so weit über diesen Facebookheiligen, dass diese für mich nur noch zu kleinen Punkten verkommen sind, die ich nicht mehr voneinander zu unterscheiden vermag.

Ich habe Vorurteile gegenüber Menschen, die Selfies schießen und "dummen Mainstream-Pop" von großbusigen Silikonikonen hören. Ich bin rassistisch - ich pauschalisiere alle Amerikaner als selbstverliebte, kriegstreiberische Populistenwähler - selbst wenn die wenigsten, den ich kennengelernt habe, diesem Bild entsprachen. Aber naja, dann sind das halt die "Restlichen" von denen.
Ein kerniger Bayer verliert bei mir Sympathiepunkte, ohne mich auch nur einmal angesprochen zu haben und wer jedes Wochenende in den Club geht um sich dort abzufüllen, ist ohnehin nur oberflächlich.


Hey, ich sage nur meine Meinung! Das sind keine Vorurteile - das ist meine Erfahrung!

Wir leben in einer Blase - jeder in seiner eigenen.
Wir umgeben uns nur mit Menschen, die unsere Ansichten teilen (im Großen und Ganzen natürlich). Wir liken die Seiten die wir mögen und bekommen dadurch mehr von dem gezeigt, was uns gefällt. Auf Facebook, Youtube, Instagram... es ist überall das gleiche Spiel.
Wir wollen bestätigt werden. Am Ende des Tages soll ich es sein, der mit seiner Weltansicht recht hatte. Wir sind die einzig wahren, guten Menschen auf diesen Planeten. Außer uns gibt es nur geldgierige, herzlose Multimilliardäre und machthungrige Politiker, gehirnlose Nazis und verblendete Terroristen, oberflächliche Photoshopmodels und aufgepumpte Diggas. Wir kennen diese Menschen nicht und wir wollen sie auch nicht kennenlernen.
Denn was, wenn dieses glatte Bild einer Person dann doch Kanten hat? Wir könnten uns unsere zarte, zerbrechliche Blase daran aufschlitzen...

Wer jetzt dachte, dass ich am Ende zu einem zu Tränen rührenden Plädoyer kommen würde, in dem ich dich auffordere deinen Horizont zu erweitern und all deine Vorurteile abzulegen, wird leider enttäuscht werden. Denn heute bin ich Zyniker und will die Welt nicht verbessern, sondern sie nur mit meinem Sarkasmus würzen.


Ich lebe in einer schimmernden Blase und fliege mit euch allen dem Sonnenaufgang am Horizont entgegen. Die Welt unter mir ist klein und bedeutungslos. Ich mag meine Blase, die so viel bunter schillert, als die der "anderen". Ich werde sie nicht platzen lassen.

Denn wenn meine Blase platzt, weiß ich nicht wie tief ich falle.
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ignoranz, rassismus, reflexion

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