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Alt 27.03.2010, 09:52   #1
Aporie
 
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Standard Die Frau, die mich in mein Leben stieß

Sieht nicht danach aus, als wärt ihr an einer Fortsetzung meiner Frauengeschichten interessiert. Deshalb etwas über eine ganz andere Frau, meine Mutter.

Vor dem Eingang zum Altersheim steht ein Leichenwagen im Parkverbot. Es ist nicht das erste Mal, dass einer dort steht. Früher waren die Leichenwagen schwarz, jetzt sind sie grau. Man erkennt sie an den blinden Seitenfenstern. Eigentlich deuten sie Fenster nur an. Sie sind aus Blech statt aus Glas. Man soll keine aufgebahrten Särge im Inneren sehen. Von weitem schauen sie aus wie Lieferwagen der vornehmeren Sorte. Allerdings sind sie nicht beschriftet. Nach und nach fiel alles weg, was an den Tod erinnern konnte. Zuletzt auch noch die diskrete Zeile Friedhofsamt der Stadt Zürich unter den beiden richtigen Fenstern, hinter denen der Fahrer und sein Gehilfe früher schwarze Schildmützen trugen. Hätte das Friedhofsamt an dieser Bekleidungsvorschrift festgehalten, würde das Schild heute nach hinten zeigen, ein Trauersymbol von größerer Kraft als schwarze Stoffknöpfe und schwarze Armschleifen. Jedenfalls würde es mich nicht erstaunen, irgendwo lesen zu können, dass es in einem Inka- Stamm oder einer chinesischen Kaiserdynastie als Zeichen der Trauer galt, die Kopfbedeckung verkehrtherum aufzusetzen.
In unmittelbarer Nähe des Leichenwagens sitzen ein paar alte Frauen auf einer Gartenbank, die ein beliebter Treffpunkt für ein Schwätzchen im Freien ist. Sie beugen sich über Strickarbeiten, unterhalten sich leise oder gucken reglos vor sich hin, schauen zu, wie das Leben an ihnen vorbeizieht. Es sieht so aus, als würde sie der Leichenwagen nicht sonderlich interessieren. Er steht oft da, wenn auch nicht so oft wie der Lieferwagen der Wäscherei, der auch im Parkverbot stehen darf. Trotzdem erschrecke ich jedes Mal, wenn ein Leichenwagen vor dem Altersheim steht.
Meine Mutter ist eine kleine zähe Frau, die in ihrem ganzen Leben nie mehr als achtundvierzig Kilo auf die Waage brachte. Jetzt wiegt sie knapp vierzig, und ich mache mir dauernd Sorgen, dass sie zu wenig isst. Bevor sie ins Altersheim gezogen war, waren es noch zwei Kilo weniger, denn sie hatte einen Hungerstreik hinter sich. Einen Monat zuvor hatte sie vier Stunden auf dem Balkonboden ihrer kleinen Wohnung gelegen, wo meine Schwester sie zufällig entdeckte. Sie hatte sich das Gesicht aufgeschlagen und den rechten Arm verstaucht. Und Schuld daran habe ich. Jedenfalls sagte meine Schwester etwas Ähnliches. Meine Schwester wohnt nicht hier. Sie unterrichtet verhaltensgestörte Kinder an einer Sonderschule in Bern. Ich selbst stehe ebenfalls unter ihrer Beobachtung. Nächstes Jahr geht sie in Rente. Dann hat sie mehr Zeit für Mutter, aber bis dahin, habe verdammt noch mal, ich mich um sie zu kümmern. Ich kann nicht jedes Mal zufällig da sein, wenn ihr etwas passiert.
Es ist aber nicht einfach, mich um Mutter zu kümmern. Sie sagt zwar immer, man müsse alles nehmen, wie es komme, aber das ist nur eine ihr geläufige Redensart, in Wahrheit ist sie rebellisch und kampflustig, eine Partisanin im dauernden Widerstand, gegen alles, was ihre persönliche Freiheit einschränken könnte. Inzwischen musste sie begreifen, dass die letzte Phase des Alterns nicht ein allmählicher Vorgang ist. Eine lokale Müdigkeit hat sich auf jede ihrer Bewegungen gelegt. Ihre Haut ist durchsichtig. Ihre Augen sind weiße Glasperlen mit blauen Katarakten. Ihre Knochen sind brüchig wie poröser Ton. Wenn sie noch einmal hinfällt, geht sie in Scherben. Und dann habe ich daran Schuld.

Geändert von Aporie (27.03.2010 um 14:24 Uhr)
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Alt 28.03.2010, 15:58   #2
weiblich Tiffy
 
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Während meiner Ausbildung habe ich zeitweise im Internat gewohnt. Dieses befand sich gegenüber eines Altenheimes. Mehrere Male habe ich die Situation mit dem Leichenwagen vom Fenster aus zufällig beobachtet. Es hat sich genau so abgespielt, wie du es beschrieben hast. Man könnte meinen, du beschreibst den Blick aus diesem Fenster.

Sich gegenseitig die Schuld zuzuweisen, bzw. sich Vorwürfe zu machen ist unfair.
Du kannst ja nicht 24 h an der Seite deiner Mutter sitzen, hast ja schließlich dein eigenes Leben, Job, viell. Familie usw….
Meine Großtante ist mehrere Male bewusstlos in ihrer Wohnung zusammengeklappt. Sie lag stundenlang in ihren eigenen Exkrementen, bis ihr Sohn sie gefunden hat. Und glaub mir, da wirft sich keiner was vor.
Nach 6 Monaten Pflegeheim wohnt sie jetzt wieder allein in ihrem 3 stöckigen Haus, unfähig Treppen zu laufen. Sie hat körperlich und geistig abgebaut, hat aber auf eigenen Wunsch das Heim verlassen.
Ihre Söhne lebt wie bisher weiter. Keiner zerbricht sich den Kopf!

Du sagst: „Schuld daran habe ich“, dann hast du sie also geschubst und aufm Balkon liegen lassen?
Wenn nein, dann hast du keine Schuld!
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Alt 28.03.2010, 23:56   #3
Aporie
 
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Ich habe meine Internatszeit ganz anders verlebt. Als ich mich in heftigen Bauchschmerzen wand, setzte der sich Rektor neben mein Bett und wollte meinen Penis pflegen. Und wenn in der Morgenmesse zum Schluss das Ave Maria laut gebetet wurde, erfasste mich schon bei der zweiten Zeile ein körperlicher Schauer: Benedicta inter mulieribus. Mulieribus sprach ich immer etwas lauter, hob es heraus aus dem frommen Text, als wäre es das Schlüsselwort des Bittgebets. Das zweimalige Berühren der Lippen bei der Aussprache des Wortes wurde für mich zu einem Akt einer an diesem Ort unzulässigen Sinnlichkeit.

(Ich hoffe. dass Ilka Ave Maria diese Antwort nicht schon wieder für unzulässig hält.)
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Alt 29.03.2010, 21:24   #4
weiblich Tiffy
 
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Das hast du dir ausgedacht, oder?
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Alt 29.03.2010, 21:39   #5
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Nein, es ist ausnahmsweise die nackte Wahrheit. Hab mich aber sofort wieder zugedeckt. Mein Bauch gehört mir, und dass ich bei mulieribus noch heute ins Stottern gerate, ist bei meinen ausgedachten Geschichten leicht nachzulesen.
(Was meine Mutter betrifft, habe ich mir nur Sachen ausgedacht, die haargenau in ihr wahres Bild passen.)
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Alt 29.03.2010, 22:13   #6
weiblich Tiffy
 
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Ich hätt jetzt eher die gedacht die Geschichten von deiner Mutter entsprechen der Wahrheit. Kommen sehr authentisch rüber.
Warum bist du zu den anderen gemein, dass muss doch nicht sein!
(hey das hat sich gereimt und ´was sich reimt ist immer gut!)
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Alt 29.03.2010, 22:27   #7
Aporie
 
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Ich meine doch die die wenigen zusätzlich ausgedachten Details. Meine Mutter ist so wie beschrieben und sie redet und jodelt auch so. Aber mit dem Walzer Kari hat sie zum Beispiel nie gesungen, weil es den gar nicht gibt. Sie hat ihre Schallplatten immer allein besungen.

Und gemein bin ich allenfalls, wenn der Gemeinte vorher mit mir gemein war.
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Alt 29.03.2010, 22:29   #8
weiblich snali
 
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Find ich einen äußerst treffenden Text.
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Alt 30.03.2010, 02:21   #9
männlich Glasauge Bill
 
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Das glaube ich dir, liebe snali, erst wenn du es begründest.
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Alt 30.03.2010, 02:40   #10
weiblich snali
 
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ich kenne die zeit des altersheimes von meiner großmutter, von der ich soviel wissen wollte und die ich so oft besuchte.. ich ging damals immer durch den hintereingang in das haus, weil mich so ein schlechtes gefühl überkam wenn ich vorne reinging und all die alten leute herumsaßen, die nicht besucht wurden und sich über ein gespräch so sehr gefreut hätten.. in diesem hintereingang waren damals immer die leichen zur verabschiedung aufgebahrt, bis sie abgeholt wurden - da tote aber nicht nicht traurig schauen können und einem nicht das gefühl geben man würde sie übergehen, war mir dieser weg doch der liebere.
irgendwann kam die zeit zu der mir meine oma nichts neues mehr erzählen konnte, ihr leben hatte ich gespeichert, verschriftet, durchdacht und daraus gelernt, sie verlor den draht zur aktuellen außenwelt - mich - und verweigerte das essen.
nach einer woche mit viel zu wenig essen redete ich mit ihr, sie meinte, sie wolle nicht mehr leben. ich dachte es wäre einer ihrer launen die man im grauen alltag des heimes bekommt ( in dass sie selbstständig und freiwillig gegangen war, da sie zuhause zu einsam war..)
zwei tage später schlief sie während der tagesschau friedlich ein.. für immer.
nun war sie es, deren leichnam im "abholraum" aufgebahrt war und auf den leichenwagen wartete der neben dem krankenwagen sehr oft hier hielt..

ich fand den text passend.
snali ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.03.2010, 12:01   #11
Aporie
 
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Ich schicke meiner Meinung warnend voran, dass ich mit Worten nicht zimperlich umgehen werde, denn was mich hier stört, ist gerade der zimperliche Ungang mit Worten.
Was heisst hier passend oder treffend? In dieses Forum passend? Zur hier gepflegten Tonart passend, in der es passende und nicht passende Wörter gibt? Ist mit treffend trefflich gemeint? Und worauf trifft das zu?
Ich rede von den kritischen Antworten auf literarische Beiträge. Aber Literaturkritik geht doch ganz anders. Sie fragt nicht nach Passendem und Treffendem, sondern ob der Autor ein guter Beobachter ist, wie er mit der Verschränkung von Reflexion und Handlung umgeht, ob er abgenutzte Worte und Wendungen gebraucht und auf ausgetretenen Pfaden wandert, oder ob er mit der Sprache tanzen kann, sie verführen kann, ihr etwas abtrotzt, gegen den herrschenden Wind singt. Wen er damit berührt oder nicht berührt, ist Nebensache. Es gibt Berührungspunkte unterschiedlicher Art, und jeder Mensch hat sie da oder dort. Oder da und dort.
Passen muss gar nichts, und in der Literatur herrscht die Freiheit des Ausdrucks und der Ausdrücke. Bei Philip Roth etwa steht mindestens auf jeder dritten Seite das Wort ficken oder lutschen oder spritzen, und die Genitalien sind mit den Wörtern besetzt, die aus der Umgangssprache kommen. Und trotzdem ist er einer der meistgenannten Anwärter auf den Nobelpreis. In diesem Forum jedoch dürfte er gar nicht vorkommen.
Ich bin erstaunt, dass eine Generation (der wohl die Meisten von euch angehören), die mit der Sexualisierung von allem, selbst dem, was auf Nebengeleisen daher kommt, aufgewachsen ist, sich derart prüde geben kann. Unsere, die 68er-Generation, kann zwar verantwortlich dafür gemacht werden, aber wer aus dieser Generation über diese Entwicklung schreibt, tut das mit kritischer Feder, und ich denke, es lohnt sich für alle, sich mit dem Phänomen der totalen Sexualisierung unseres Lebens zu befassen, die eine künstliche Wirklichkeit schafft, die damit droht, immer mehr zur unseren zu werden und den privaten Umgang mit Sex in ein scharf bewachtes Reservat verbannt, das sich mit den Mauern des Schweigen umgibt.
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Alt 30.03.2010, 12:47   #12
weiblich snali
 
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nun ich bezog meinen text keineswegs auf den umgang mit sexualität, sondern auf den umgang mit dem tod, der mich in meinem leben nunmal schon oft betroffen hat, weshalb ich auch sehr offen über ihn rede und keine umschreibungen finde.
passend - wie ich es formuliert habe, bezeichnet bei mir die passung an die aktuelle situation - es ist zur zeit im alter eben häufig so, wie du es beschrieben hast - deswegen auch treffend.
natürlich kommt es darauf an, ob der schreiber neue wege "denkt", doch für diese wege, die du beschrieben hast, gibt es nunmal nur ein passend - denn die wortfindungen sind nicht gerade neuartig.
mit deinen worten kannst du bei mir ruhig offen umgehen, da ich es auch tun werde, deshalb sind wir ja schließlich alle hier?
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Alt 30.03.2010, 13:11   #13
Aporie
 
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Hättest Du passend zu meiner Situation gesagt, hätte ich Dich auch richtig verstanden. Im Übrigen habe ich bei passend nur das Wort von Dir genommen, vom Umgang her dachte ich an andere Passanten, die mit diesem Wort im Forum unterwegs sind und es wie einen Regenschirm aufspannen, wenn das Wetter unpassend wird.
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Alt 31.03.2010, 20:19   #14
weiblich sternenglanz
 
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Hallo Aporie!

Erstmal möchte ich sagen, dass mir die Art, wie du schreibst, sehr gefällt. Es ist eine offene und ehrliche und auch sehr ansprechende Art.
Allerdings finde ich (und das ist meine persönliche Meinung, es könnte jedem anders gehen), dass es in dem Text zu wenig um das geht, was in der Überschrift angekündigt wird, nämlich um die Mutter. Ich finde, dass das Altersheim und der Leichenwagen eine größere Rolle spielen als die eigentliche Zentralfigur.

Liebe Grüße
sternenglanz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 31.03.2010, 20:55   #15
Aporie
 
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Das ändert sich rasch, wenn man die Fortsetzungen der Geschichte liest: Mutters Angst vor dem Weg ins Altersheim und Die Frau die mich in den Schlaf sang
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