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Alt 11.12.2016, 22:49   #1
Stachel
 
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Standard Die Engelmacher

Um es gleich vorweg zu nehmen: Es war ein Traum. Und wie es sich für einen Traum gehört, bleibt vieles im Nebulösen verborgen. Ich habe beim Aufschreiben dieser Geschichte gar nicht erst versucht, die offenkundigen Täler - um nicht zu sagen: Schluchten - des Vergessens wortreich zu überbrücken oder die logischen Lecks abzudichten, durch die ein steter, forscher Fragewind mit einem lauten „Hääh??“ hindurchstöhnt. In den wesentlichen Punkten war der Traum so real, so plastisch, dass ich mich auch heute noch daran erinnern kann, als wäre es eben erst geschehen.

Wir waren eine Hand voll Erwachsene, vielleicht sechs oder sieben, und zwei oder drei Kinder, darunter auch meine Tochter. Eines der Kinder war Grund für unseren Aufenthalt in der Klinik. Es war ein kleines Mädchen im Alter von etwa 6 Jahren. Soeben hatte es eine Münze erhalten, begleitet von den Worten: „Hier hast du zwei Mark“, (es war übrigens ein Zwei-Euro-Stück), „die gibst du gleich erstmal der Schwester. Sie wird dir eine Medizin verabreichen, die dich ganz müde macht, so dass du einschläfst. Und wenn du wieder aufwachst, kaufst du dir von dem Geld ein leckeres Eis.“ Die Begeisterung des Kindes war deutlich an den strahlenden Augen ablesbar. Es lief einen Gang hinunter und war bald verschwunden.

Der Rest von uns blieb vor einem Zettel zurück, weiß, Din A5. Der Name des Mädchens stand oben in der Mitte, gefolgt von zwei Unterschriften der Erziehungsberechtigten, die ebenfalls mittig auf das Blatt gesetzt worden waren. Unmittelbar darunter war das Wort „aufgeklärt“ notiert worden. Alle anderen Erwachsenen sollten nun dort unterschreiben. Gleich wäre ich an der Reihe und zögerte. „Worüber wurde sie denn aufgeklärt? Weiß sie was passiert?“ Drucksen. Ausweichen. „Naja ...“, murmelte eine anwesende Fachkraft unsicher. Ich kam in Wallung: „Das ist doch Quatsch dann. Warum soll ich das auch noch unterschreiben?“ Ich wandte mich an die anderen aus unserer Gruppe: „Lasst das sein, es ist Unsinn. Hier wurde niemand aufgeklärt.“ Aber es war auch irgendwie egal. Mehrere Unterschriften trug dieses formlose Blatt nun, dazu einen Namen und dieses eine Wort, gefolgt von einem Doppelpunkt:

„aufgeklärt:“

Mehr stand dort nicht. Kein Kopf, kein Siegel, keine vorgedruckten Formularelemente, nichts sonst.
Es war ja nicht so, dass wir das Kind über das Procedere aufgeklärt hätten. Mit uns selbst wurden ebenfalls nicht viele Worte gewechselt. Es war doch eigentlich alles klar. Wir sollten hier nur dokumentieren, dass das Klinikpersonal korrekt informiert hatte und alles seinem geregelten Ablauf folgte. Die Ansprache an das Kind hatte nicht einmal die halbe Wahrheit enthalten, eigentlich fast gar keine. Ich wandte mich zum Gehen, ohne den Stift auch nur in die Hand genommen zu haben.

Unsere Gruppe verließ den Ort der Unterschriftenleistung und kam auf den Empfangsbereich der Klinik zu. Es war ein weißer Anderthalb- bis Zwei-Personen-Konferenzraum-Tisch mit schwarzen Beinen, nicht viel größer als ein Camping-Klapptisch. Dahinter saß auf dem rechten Platz ein Mann mittleren Alters in einem Kittel, dessen Aussehen keine Frage danach aufkommen ließ, dass hier zweifellos ein Arzt sein Sitzfleisch für die Begrüßung der Besucher zur Verfügung stellte. Links neben dem Mann saß ein dunkelhäutiges Mädchen mit einer Nickelbrille auf der Nase. Ihr Blick war neugierig-vergnügt, aber auch ein wenig geschäftig. Sie unterstützte ihren Nachbarn sicher nach Leibeskräften und schaute uns, die wir ihrem Tisch immer näher kamen, erwartungsvoll an. Ihre Beine konnten den Boden noch nicht ganz erreichten und baumelten abwechselnd vor und zurück.

Wir hatten den Empfang noch nicht erreicht, als die kleine plötzlich mit geschlossenen Augen zusammenbrach und unter den Tisch rutschte. Dabei bäumte sie sich mehrfach auf, versuchte, sich an irgendetwas hochzuziehen, irgendetwas zu greifen und Halt zu finden. Vergeblich. Sie sackte wieder und wieder zusammen. Noch einmal zuckte der ganze Körper, der linke Unterschenkel winkelte sich an, die Arme hoben sich etwas, um gleich darauf wieder kraftlos herabzusinken. Das Mädchen wirkte auf sehr seltsame Weise, als erlebte sie gerade einem sehr intensiven Traum und bewegte sich dabei im Schlaf. Niemand regte sich. Keiner kam dem Mädchen zur Hilfe. Der Empfangsarzt saß teilnahmslos daneben. Ich selbst stand unbeweglich da und schaute, wie die anderen aus unserer Gruppe, sehr gebannt auf die Bewegungen. Dennoch durchfuhr es mich: „Warum hier? Warum denn ausgerechnet hier?“ Es war offensichtlich, dass auch dieses Mädchen etwas von der „Medizin“ bekommen hatte, die in diesem Hause gereicht wurde. Bis zum Schluss hatte man sie in dem Glauben gelassen, sie würde bestimmt auch mal Ärztin.

Meine Tochter begriff sehr schnell, was hier gerade passierte. Das verklausulierte Gehabe der Erwachsenen hatte sie nicht lange getäuscht. Sie wusste auch, dass sie nicht viel tun konnte. Das eine aber doch: Sie lief die letzten paar Schritte zu dem Tisch und blieb direkt an dessen linker vorderer Ecke stehen. Unter dem Tisch lag das immer noch zuckende Mädchen. Im ersten Augenblick dachte ich, meine Tochter würde über die komische Situation und das für sie vielleicht drollig wirkende Kind in seinen traumartigen Reflexbewegungen lachen. Zumindest hörte sich ihr anfängliches Glucksen so an. Ich hätte mich nicht mehr irren können. Sie wandte sich zu uns um, stand dort und weinte. Ihr Blick wechselte zwischen dem Mädchen und uns hin und her und sie weinte noch lauter.

Helfen konnte meine Tochter ihr nicht, aber sie konnte der Sterbenden nah sein. Sie konnte mitleiden und dieses Leid den Umstehenden laut und deutlich in die Ohren hämmern. Sie konnte die Kluft zum Tode auf weniger als eine Armlänge überbrücken. Mehr war im Diesseits nicht möglich. Sie konnte das Leid in sich aufnehmen, es für alle Anwesenden spürbar machen und uns Mittäter gleichsam in ihrem Weinen auf durchdringendste Art anklagen.
Das Mädchen unter dem Tisch bekam davon vermutlich nichts mehr mit. Sie war schon zu Beginn ihres Todeskampfes weggetreten.

Als ich erwachte, war ich von dieser Empathie, diesem mitfühlenden Wesen, sehr ergriffen und hätte trotz aller Scham stolzer nicht sein können.
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Alt 11.12.2016, 23:08   #2
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Sie ist am leben, alle anderen waren Tod.
Krasser Traum.
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Alt 15.12.2016, 11:53   #3
Stachel
 
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Zitat:
Zitat von dr.Frankenstein Beitrag anzeigen
Sie ist am leben, alle anderen waren Tod.
Krasser Traum.
Ich nehme an, du beziehst dich auf die Tochter des Erzählers? Das ist eine interessante Perspektive. Sie ist die einzige Person in der Handlung, die noch nicht abgestumpft, "tot" ist. Aber immerhin wird der Erzähler gegen Ende lebendig, oder? Vielleicht ist da "Trance" passender als "Tod". Aus letzterem ist das Aufwachen so schwer. Oder halt Traum.

Freundliche Grüße von
Stachel
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Alt 15.12.2016, 14:06   #4
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Man weiß nicht ob er lebendig wurde, zumindest hat es ihn beeinflusst und man merkt das er das zusammengeschnürte Dratband um sein Herz spürt.
Wer weiß ob dieser Eindruck die Bänder zum reißen bringt oder ob er es einfach wieder vergisst oder als übersinnliche Erfahrung abtut.

Kinder sind ja erst kurz im System ihnen fällt es noch leichter kurz herauszutreten und das was für uns schon normal geworden ist, als etwas völlig neues zu betrachten.
dr.Frankenstein ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.05.2017, 22:27   #5
Stachel
 
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Zitat:
Zitat von dr.Frankenstein Beitrag anzeigen
Kinder sind ja erst kurz im System ihnen fällt es noch leichter kurz herauszutreten und das was für uns schon normal geworden ist, als etwas völlig neues zu betrachten.
Das ist ein wichtiger Punkt. Kinder können vorbehaltloser Fragen und Infragestellen. Sie haben auch oft ein sehr gutes Gefühl für Moral und Gerechtigkeit. Dadurch, dass sie weniger auf Konsequenzen achten, sind sie offener und ehrlicher, tragen das Herz auf der Zunge.
(Ich spar mir an der Stelle den Verallgemeinerungs-Disclaimer.)

Freundliche Grüße von
Stachel
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Alt 27.05.2017, 10:26   #6
männlich GrandMaster-D
 
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Ich wollte zunächst mal sagen, dass dein einführender Absatz ziemlich hammer ist
Zitat:
Ich habe beim Aufschreiben dieser Geschichte gar nicht erst versucht, die offenkundigen Täler - um nicht zu sagen: Schluchten - des Vergessens wortreich zu überbrücken oder die logischen Lecks abzudichten, durch die ein steter, forscher Fragewind mit einem lauten „Hääh??“ hindurchstöhnt.
Ganz köstlich!

Dein Traum selbst ist sehr spannend zu lesen. Ich selbst habe aber eine Kinder und kann deswegen nicht alles ganz nachvollziehen. Für mich klingt das nach jener Art Traum, aus der Mann schweißgebadet aufwacht.
GrandMaster-D ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.05.2017, 23:00   #7
Stachel
 
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Zitat:
Zitat von GrandMaster-D Beitrag anzeigen
Ich wollte zunächst mal sagen, dass dein einführender Absatz ziemlich hammer ist

Ganz köstlich!
Danke

Zitat:
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Für mich klingt das nach jener Art Traum, aus der Mann schweißgebadet aufwacht.
Das trifft den Nagel auf den Kopf.

Freundliche Grüße von
Stachel
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