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Alt 25.03.2024, 02:50   #1
weiblich Lee Berta
 
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Standard Jasmins Fahrrad

Jasmin und ich waren die besten Freundinnen, seit sie im Herbst in unser Haus gezogen war. Es war genau an meinem vierten Geburtstag gewesen und sie war eine Woche danach vier geworden.

Alle hielten uns für Zwillinge, denn wir ähnelten uns so sehr, dass die Nachbarn uns nicht auseinanderhalten konnten.
Jasmin hatte aber blaue Augen und ich habe grüne. Wir stritten oft, welche Farbe die bessere sei und waren beide überzeugt, die hübschere zu sein. Aber ansonsten stritten wir nie.
Zu Ostern im Frühjahr darauf bekamen wir beide Fahrräder geschenkt. Meines war rosa und ihres war grün. Wir mussten sie immer in den Fahrradkeller tragen und durften sie nicht vor dem Haus stehen lassen, weil manchmal Fremde vorbei kamen. Die Räder waren aber schwer und es kam oft vor, dass die eine auf beide Räder aufpassen musste, wenn die andere auf Toilette gehen oder eine Tüte Gummibärchen holen wollte.

Die Fremden, die an unserem Haus vorbeikamen, wollten alle in den Klosterkeller. Das war eine Kneipe in der Altstadt. Wir wohnten zwar am Ende einer Sackgasse in einem verkehrsberuhigten Wohngebiet, aber es gab einen schmalen Fußweg mit Treppe, den so genannten Teufelssteig, den fast alle aus der Siedlung als Abkürzung benutzten.
Wir kannten nicht alle, die bei uns im Buckelviertel lebten. So wurde unser Kiez genannt, weil wir auf einer Erhebung, eben dem "Buckel" wohnten. Kurz nach meiner Geburt hatte man unweit meiner Straße zwei Hochhäuser hingeknallt und dort kamen und gingen die Leute aus aller Herren Länder.
Darum waren unsere Eltern sehr besorgt, dass man unsere Fahrräder klauen könnte, denn meinem älteren Bruder war einmal der Roller gestohlen worden.

Jasmin und ich gingen in verschiedene Kindergärten und freuten uns den ganzen Tag darauf, den Nachmittag miteinander zu verbringen. Sie konnte schon ohne Stützräder fahren und ich noch nicht. Aber sie hatte versprochen, es mir endlich beizubringen. Sogar ihr kleiner Bruder konnte es schon und der war noch nicht einmal drei!
So übten wir an diesem Frühlingstag das Fahrrad fahren. Sie machte es mir mit ihrem grünen Kinderfahrrad ohne Stützräder vor, ich machte es nach und fiel hin. Aber Heulen heilt keine Beulen, also auf zum nächsten Versuch.
Nach einer Weile machten wir eine Pause und teilten uns einen Lolly. Da kam ein brauner Mann daher. Seine Wildlederschuhe waren rostbraun, seine Hose war sepia, sein Hemd beige und die Jacke kaffeebraun. Diese Farben kannte ich alle schon, denn meine Mutter war Schneiderin und Jasmins Mutter Friseurmeisterin und da kennt man eben mit vier schon alle Farben, sogar Ober-Schiene.
Das Gesicht des Mannes war blass und sommersprossig, sein Grinsen war lustig, denn ihm fehlte ein Schneidezahn und er trug einen sympathischen Schnurrbart, genau wie Saddam Hussein. Der Schnurrbart war auch braun und sogar die Haare und die Augen des Mannes waren braun.
Er hatte uns beobachtet und nun blieb er stehen und verspottete mich, weil ich immer noch nicht Fahrrad fahren konnte. Das war mir sehr peinlich, aber er wollte es mir zeigen und versprach, mich hinten am Gepäckträger festzuhalten. Heimlich ließ er aber los und ich fuhr ohne ihn weiter und fiel erst um, als ich merkte, dass er gar nicht mit gelaufen war.

Der Mann lachte und seine Augen blitzen vergnügt.
Ich war allein mindestens zwanzig Meter gefahren! Das wusste ich deshalb so genau, weil unser Haus 42 Meter lang war. Mein Vater hatte es entworfen, die 42 war seine Lieblingszahl. Das Haus hatte zwei Eingänge mit jeweils 6 Mietparteien. Die anderen waren aber gerade arbeiten oder schliefen, weil sie Rentner waren. Meine Mutter war beim Einkaufen und Jasmins Mutter war beim Zahnarzt. Es war früher Nachmittag, die Sonne schien, die Vögel schwiegen und der braune Mann lachte. Dann fragte er, wie er zum Klosterkeller käme.
Ich war ein wenig verwundert, denn der Mann war so zielstrebig in unsere Straße eingebogen, als wisse er genau, wie er zum Klosterkeller käme. Aber Jasmin und ich waren wohlerzogene Kinder. Darum brachten wir ihn zu dem kleinen Weg zwischen zwei Grundstücken am Ende der Straße, dem Teufelssteig eben. Weiter konnten wir ihn nicht begleiten, wegen der Fahrräder.
Wir hatten einfach keine Lust, sie die Treppen hinunter zu tragen und sie in den Fahrradkeller zu bringen wäre noch anstrengender gewesen.
Ein jedes Kind ist im Grunde seines Herzens faul.

Eine von uns beiden musste bei den Rädern bleiben und die andere musste mit dem braunen Mann gehen. Ich war an diesem Tag schon mehrere Male hingefallen und hatte zerschrammte Knie. Beim Treppensteigen würde der Schorf aufgehen, befürchtete ich. Jasmin hatte Mitleid mit mir und so durfte ich die Räder bewachen und sie zeigte dem Fremden den Weg. Dafür gab ich ihr den Rest vom Lolly, der war fast noch halb.
Wir winkten uns zu.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie vor mir mit ihrem roten Nicki und der blauen Hose, wie sie sich am rostigen Geländer festhält und hinter dem Mann die Treppenstufen hinabsteigt und ich denke: 'Warum geht er vor, wenn er den Weg nicht kennt?'

Ich habe sehr lange gewartet, aber Jasmin kam nicht zurück. Darum versuchte ich, beide Räder in den Keller zu schleppen, immer abwechselnd einige Meter. Im Keller stellte ich sie aber nicht in den Fahrradraum, sondern schmiss sie nur in den Gang, denn ich war zu nervös.
Dann rannte ich die Treppe zum Klosterkeller hinunter. Vielleicht war eine Viertelstunde vergangen, vielleicht mehr. Ich konnte Jasmin nicht finden und fragte sogar im Klosterkeller nach ihr, obwohl ich den Rauch in dieser Kneipe überhaupt nicht mochte. Ich rannte wieder zurück, die Treppe hoch, und klingelte bei ihr, aber niemand öffnete. Ich rannte wieder runter und wieder hoch und wieder runter und wieder hoch.
Irgendwann kam ihre Mutter, fast zeitgleich kam meine, dann kam die Polizei, dann kam mein Bruder aus der Schule und mein Vater von der Arbeit und Jasmins Vater war mit ihrem Bruder bei der Oma, der kam also gar nicht. Den habe ich erst bei der Beerdigung wiedergesehen.
Der braune Mann hatte Jasmin erdrosselt und in Baumers Regentonne geworfen, die hatten da einen Garten neben dem Teufelssteig. Dass er sie vorher vergewaltigt hat, habe ich erst viele Jahre später erfahren und ich denke, als Kind hätte ich mit der Information auch überhaupt nichts anfangen können. Es war nur ein Wort wie "erdrosseln". Da denkt man an eine Drossel.
Amsel, Drossel, Fink und Star.

Jasmins Eltern sind im Sommer darauf umgezogen und sie haben Jasmins Fahrrad vergessen. Die Eltern von Klaus zogen kurz vor meinem fünften Geburtstag ein. Klaus fragte immer, warum ich zwei Fahrräder habe, ein grünes und ein rosafarbenes, und er wollte immer dieses grüne Fahrrad haben.
Ich wollte ihm meins geben, aber er wollte das grüne. Er begriff nicht, das er es eben nicht haben kann, einfach so, ohne Grund. Er hat mich oft verprügelt und nannte mich "du dumme Fotze". Aber auch dieses Wort habe ich nicht verstanden und darum tat es auch nicht weh.
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Stichworte
entführung, missbrauch, mord




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