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Alt 15.07.2012, 12:57   #1
männlich Ex-Peace
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Standard Die Schöne

Morgens in aller Früh, wenn es draußen noch dunkel ist und sich der Körper erst langsam an den Tag gewöhnt, saßen sie nebeneinander im Bus und teilten sich eine Sitzbank: er und die Schöne. So ging es schon seit einiger Zeit. Immer, wenn er in den Bus stieg, war die Schöne bereits da. Die Schöne stieg einige Haltestellen vor ihm ein. Wenn er zustieg, gab es noch viele freie Plätze. Nur wenige waren belegt. Trotzdem setzte er sich neben die Schöne. Meistens, und in letzter Zeit immer. Anfangs setzte er sich noch auf eine freie Sitzbank. Da jedoch viele Schulkinder im Laufe der Fahrt hinzukamen und er umsteigen musste, beschloss er, sich neben die Schöne zu setzten, um nicht regelmäßig etwaige Sitzpartner um Durchlass bitten zu müssen. So saß er auf dem Platz am Gang und direkt neben der Schönen.

Die Schöne war ihm aufgefallen. Eigentlich sofort. Und eigentlich kam es ihm sehr gelegen, sich wegen des unkomplizierteren Sitzplatzes neben die Schöne zu setzen. Ging es ihm tatsächlich um den Sitzplatz? Oder war das nur eine Ausrede, eine ihm willkommene Gelegenheit, der Schönen nah zu sein? Es war ein besonderes Gefühl für ihn, neben der Schönen zu sitzen, sitzen zu dürfen. Denn in gewisser Weise fühlte er sich dadurch privilegiert. Für ihn war die Schöne etwas Besonderes. Während der Fahrt galt seine gesamte Aufmerksamkeit der Schönen. Er verbarg seine Bewunderung, tat unauffällig. Vielleicht etwas zu auffällig unauffällig. Dennoch fragte er sich, ob die Schöne auch ihn bemerkte, oder ob die Schöne nur wahrnahm, dass jemand neben ihr saß. Eine ledigliche Kenntnisnahme ohne Bedeutung, ohne jegliche Empfindung.

Um teilnahmslos zu wirken und seine Aufregung zu verbergen, kramte er als erstes immer seinen MP3-Player heraus. Generell waren seine Kopfhörer chaotisch verknotet. Sie waren ähnlich verworren wie seine Gefühle. Doch dieses Chaos ließ sich vergleichsweise leicht beheben. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die Schöne. Möglichst dezent, ohne seinen Kopf auch nur einen Zentimeter in ihre Richtung zu wenden. Dazu spielte die Musik in seinen Ohren. Langsame Musik mit teils traurigen Texten. Jedoch immer mit einer besonderen Aussage, wie er fand. Er fragte sich, welche Musikrichtung die Schöne wohl bevorzuge. Insgeheim glaubte er zu wissen, dass der Schönen, seine Musik ebenfalls gefiele. Doch woher wollte er das wissen? Was wusste er überhaupt über die Schöne? Am meisten interessierte ihn, was die Schöne über ihn dachte. Ob auch er in den Gedanken der Schönen vorkam? Ob auch die Schöne ihm einen Namen gegeben hatte? Er gestand sich ein, dass die Bezeichnung „die Schöne" äußerst plakativ war und der Schönen im Grunde genommen nicht gerecht wurde. Doch die augenscheinliche Schönheit war es, die ihm an der Fremden sofort auffiel, sein Interesse weckte und die Faszination schürte.

Die Art, wie die Schöne da saß, einfach nur da saß. Schüchtern wirkend und traumverloren. In aufrechter Körperhaltung. Stets stilbewusst und elegant gekleidet. Er bemühte sich um eine ebensolche Körperspannung und eine geschmackvolle Garderobe. Vielleicht konnte er die Schöne auf diese Art auf sich aufmerksam machen. Er hoffte es zumindest. Traute sich aber nicht, die Schöne einfach anzusprechen, dazu fehlte ihm nicht der Mut. Es war vielmehr die Angst vor Zurückweisung. Seiner Meinung nach konnte die Schöne ihm nur abweisend begegnen. Zwar trug die Schöne keinen Ehering, aber es war für ihn nur schwer vorstellbar, dass die Schöne nicht gebunden, und damit nicht bereits vergeben war.

Also beließ er es bei der allmorgendlichen Sitzgemeinschaft. Die hoffnungsvollen Gedanken, die sich an die „Was-wäre-wenn-Vorstellungen" reihten, wollte er sich selbst nicht durch eine ernüchternde vielleicht sogar vernichtende, eventuelle Abweisung nehmen lassen. Alles blieb also beim Alten. Einmal hatte er sich vorgenommen, zu seiner eigenen Aufmunterung, abwechslungsweise mal eine etwas temporeichere Musik auf den MP3-Player zu laden und sie, den anderen Fahrgästen und vor allem seinen Ohren zum Trotz, voll aufzudrehen. Dadurch wäre er der Schönen garantiert aufgefallen, negativ aufgefallen. Wieder beließ er es bei seinem Vorhaben. Wieder beließ es sein Herz bei den starken Gefühlen für die Schöne.

Eines Morgens, als er sich wie immer resigniert und zugleich voller Hoffnung auf den Platz neben der Schönen niederlassen wollte, war dieser bereits besetzt. Belegt von einem Kugelschreiber. Ohne darüber nachzudenken, fragte er die Schöne, ob es ihr Kugelschreiber sei. Die Schöne verneinte freundlich, er legte den Kugelschreiber kurzum auf einen anderen freien Sitzplatz und setzte sich wie immer auf den nun wieder freien Platz neben die Schöne. Obgleich es ganz und gar nicht wie immer war. Schließlich hatten sie sich zum ersten Mal unterhalten. Wobei der Begriff Unterhaltung sehr großzügig ausgelegt war, handelte es sich letztendlich ja nicht einmal um Small Talk. Doch für ihn war das Eis nun gebrochen und der Eisbrecher war ein handelsüblicher Kugelschreiber. Ein stinknormaler Alltagsgegenstand hatte ihm den Tag versüßt. Zum ersten Mal hatte er die Stimme der Schönen gehört. Und auch die Stimme der Schönen war, wie konnte es anders sein, schön, wunderschön. Fortan hätte er die Schöne genauso gut „die Stimme" nennen können. Das Wichtigste an der Episode mit dem Kugelschreiber aber war die Tatsache, dass er sich nun absolut gewiss sein konnte, dass die Schöne ihn wirklich und wahrhaftig wahrgenommen hatte. Der Kugelschreiber, der vielleicht auch ein Füllfederhalter gewesen war, hatte in seinen Augen den Grundstein für eine gemeinsame Basis gelegt. Diese Basis galt es nun auszubauen. Als er ausstieg, fasste er sich ein Herz und wünschte der Schönen einen schönen Tag.

Seit dieser Zeit begrüßten und verabschiedeten sie sich immer voneinander. Er legte besonderen Wert auf höfliche, liebenswerte Formulierungen. Mehr als es einer eigentlich fremden Person gebührte. So, wie es nur der Schönen gebührte. Auch wenn es Floskeln waren, sprach aus ihnen die Herzlichkeit. Die Schöne war herzlich. Selbst in den wenigen Worten. Schnell hatten sich diese Grußrituale eingespielt. Manchmal fiel es ihm schwer, wechselnde Formulierungen dafür zu finden, der Schönen einen angenehmen Tag zu wünschen. So wurden ihre Unterhaltungen mit der Zeit wortreicher. Ganz besonders gefiel es ihm, die Schöne zum Lachen zu bringen. Auch wenn er hin und wieder befürchtete, die Schöne zu sehr in Beschlag zu nehmen. Aber wohlmöglich ließ sich die Schöne gerne in Beschlag nehmen. Dieses Gefühl hatte er jedenfalls, da die Schöne ihm oftmals ein Lächeln schenkte. Und ganz genau so fühlte er sich dann, beschenkt.

Die Zeit von sieben gemeinsamen Haltestellen am Morgen war für ihn die schönste Zeit des Tages. Dann stieg er in die Straßenbahn um. Die übrigen Haltestellen hatte er nie gezählt. Er sinnierte viel über die Schöne. Da er kaum Informationen hatte, machte er sich seine eigenen Vorstellungen. Warum fuhr die Schöne morgens mit dem Bus und nicht mit dem Auto zur Arbeit? Vielleicht besaß die Schöne gar kein Auto. Er stellte sich vor, dass die Schöne der Umwelt zur Liebe den Bus nahm. Die Schöne musste ein guter Mensch sein, anders konnte er es sich nicht vorstellen. Sie verstanden sich gut. Auch der Schönen schien die Bekanntschaft Freude zu bereiten.

Dass die Schöne einige Jahre älter war als er, war für ihn nicht von Bedeutung. Er schätzte, die Schöne könne ungefähr 40 Jahre alt sein. Wenn die Schöne ihn jedoch gefragt hätte, hätte er ihr Alter auf 34 Jahre geschätzt, obwohl er gerne ein noch niedrigeres Alter genannt hätte. Da er die Schöne schlichtweg bezaubernd fand, für ihn das Alter keine Rolle spielte und er der Schönen nur allzu gern ein Kompliment gemacht hätte. Er selbst war in einem Alter, in dem ein Altersunterschied von 10 vielleicht 15 Jahren längst belanglos war. Mit der Schönen zu sprechen war unproblematisch. Die Schöne jedoch wirklich anzusprechen, war undenkbar. Dazu befand er die Schöne als zu anmutig und sich selbst als zu geringfügig.

Wieder einmal hatten sie eine anregende Unterhaltung im Bus geführt. Noch einmal verabschiedete er sich von der Schönen. Dann stieg er aus: aus dem Bus, dem Alltag, der Routine – aus allem. Die Schöne fuhr weiter. Morgen für Morgen. Und vielleicht gelegentlich mit Gedanken an das kleine gemeinsame Gestern mit ihm.
Ex-Peace ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.07.2012, 14:37   #2
weiblich Ex-WUI
 
Dabei seit: 09/2018
Beiträge: 1.057


Eine schöne Geschichte die du da erzählst, lieber Peace.

Und das Ende bleibt offen. Vielleicht werden sie sich ja doch eines Tages außerhalb vom Bus treffen? Oder es bleibt bei den anregenden Gesprächen, Tag für Tag für Tag.

Gern gelesen
Irre Grüße an dich

(und ne Packung Sonntagskäsenachos)

Ps.:
Zitat:
Dann stieg er aus: aus dem Bus, dem Alltag, der Routine – aus allem.
Oje... oder das Ende ist doch nicht so offen wie ich dachte?
Oh nö! *schnief*
Ex-WUI ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.07.2012, 14:52   #3
männlich Ex-Peace
abgemeldet
 
Dabei seit: 11/2011
Beiträge: 3.449


Liebe WUI,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.
Es freut mich sehr, dass dir meine Geschichte gefällt.
Des Weitern gefällt mir deine Lesart des Endes.
Es ist ein bisschen offen, dennoch gibt es Hinweise auf ein anderes Ende.
Deine positiven Gedanken tun dem Text gut.

Was? Nur eine Tüte Käsenachos???
Die muss ich mir dann aber gut einteilen.

Viele liebe Grüße
und einen schönen Sonntag
Peace
Ex-Peace ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.07.2012, 14:55   #4
weiblich Ex-WUI
 
Dabei seit: 09/2018
Beiträge: 1.057


Oder ein ganzer Käsenachoberg *Augenleucht*

Liebe Sonntagsgrüße an dich zurück
WuI
Ex-WUI ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.07.2012, 13:57   #5
männlich Schmuddelkind
 
Benutzerbild von Schmuddelkind
 
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Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798


Toller Text und das Ende hat mich erschüttert, obgleich es ganz in der Tragik eines solchen Charakters eingedeckt ist.

"Man" könnte meinen, der Text weise Längen auf, aber das empfinde ich ganz und gar nicht so. Mir imponiert die Ausführlichkeit mit der die Entwicklung dieser zwischenmenschlichen Beziehung beschrieben wird sehr und die vielen Details, z.B. Der Kugelschreiber (ein eigentlich triviales Objekt) als gemeinsame Basis machen das Geschehen sehr lebendig und lassen den Leser an den innersten Empfindungen und Gedanken des Protagonisten teilhaben und verdeutlichen so auf besonders anschauliche Weise sein Problem.

Kurzum: ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen.

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.07.2012, 14:18   #6
männlich Ex-Peace
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Dabei seit: 11/2011
Beiträge: 3.449


Vielen Dank für deinen Kommentar, Schmuddi.
Ja, die eventuellen Länge sind hier bewusst eingesetzt.
Diese ganzen Gedanken, die sich der Protagonist darüber macht,
wohin er sich setzen soll und wie er sich verhalten soll, sind für ihn natürlich
von äußerst wichtiger Bedeutung, obgleich sich nicht viel ereignet.
Für ihn ist es die Welt, seine Welt - in der Enklave "Bus".

Liebe Grüße
Peace
Ex-Peace ist offline   Mit Zitat antworten
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