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Alt 30.03.2019, 17:07   #1
weiblich DieSilbermöwe
 
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Standard Ansichtssache

"Wenn das mein Mann wäre, würde ich ihn rausschmeißen!" Lucie sieht mich missbilligend an. Sie sitzt mir im Café gegenüber und hat einen ihrer zweijährigen Zwillinge, Oliver, auf dem Schoß. Der andere, Ronald, sitzt brav in seinem Buggy und gibt ab und zu ein vergnügtes Jauchzen von sich.
" Was für süße Kinder!" denke ich und fahre Ronald sanft mit der Hand über den Kopf. Lucie lächelt stolz, als sie das sieht, aber dann verfinstert sich ihre Miene wieder.
"Du willst deinem Mann das doch wohl nicht durchgehen lassen!"
"Ansichtssache. Es ist ein kalkuliertes Risiko bei einer offenen Beziehung", antworte ich freundlich. Wie erwartet, kommt dieser Satz bei Lucie gar nicht gut an.
"Kalkuliert? Dieter weiß wohl nicht, was ein Kondom ist oder was? Und überhaupt - offene Beziehung! Du weißt ja, was ich davon halte", empört sie sich. Das weiß ich in der Tat. Und deswegen versuche ich auch nicht noch ein zweites Mal, Lucie zu erklären, dass Dieter und ich mit dieser offenen Beziehung glücklich sind und dass ich genau so "fremdgehen" darf wie er, wenn ich will. Ich habe nur keine Lust dazu. Aber ich will Lucie erklären, dass die nun entstandene Situation nicht Dieters Schuld ist.
"Sie hat ihn doch reingelegt, hat ihm erzählt, sie nimmt die Pille." Diese Erklärung habe ich mir für unseren Freundeskreis zurechtgelegt.
"Und das hat er mal einfach so geglaubt? In seinem Alter sollte er das besser wissen!"
Ich muss mir ein Grinsen verkneifen. Dieter ist 32, also mal gerade sieben Jahre älter als Lucie und für sie wohl schon ein Urgreis. Aber sie ist ja auch die Jüngste in unserer Freundesclique.
Lucie nippt an ihrem Kaffee und wehrt gleichzeitig Oliver ab, der nach ihrer Tasse greifen will. "Ich kann dich nicht verstehen", seufzt sie dann. "Dass du dabei so ruhig bleibst! Du weißt ja wohl, dass sich alle das Maul über euch zerreißen? Sogar meine Mutter hat mich gefragt, ob das wahr ist. Eine andere kriegt ein Kind von deinem Mann und dir ist es egal!"
"Das Kind ist mir nicht egal. Was die Leute sagen, schon." Ich werfe einen Blick auf Ronald, der in seinem Buggy allmählich unruhig wird. "Sollen wir nicht noch auf den Spielplatz gehen?"
Ganz offensichtlich überlegt Lucie, ob sie noch etwas zu meinem "Problem" sagen soll, doch dann lässt sie das Thema fallen und wir machen uns auf den Weg zum Spielplatz. Während wir die Zwillinge dort auf die Schaukel setzen und sie anstoßen, was von ihnen mit Begeisterung quittiert wird, denke ich an das Gespräch mit dem Arzt vor einem Jahr zurück.
"Es tut mir sehr leid, Frau Hoffmann, aber Sie können keine eigenen Kinder bekommen", hatte er gesagt. Dann folgte irgendeine Erklärung über meine Unfruchtbarkeit, die ich vergessen habe. Es ist auch nicht weiter wichtig.

Wichtig ist, dass Dieter bald ein Kind haben wird und es öfters bei uns sein wird.
Wie gut, dass ich Dieter zu der offenen Beziehung überredet habe. Und seiner Freundin erzählt habe, dass er zeugungsunfähig sei.

Nein, mir ist das alles nicht egal. Ich freue mich wahnsinnig.

Geändert von DieSilbermöwe (30.03.2019 um 19:21 Uhr)
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Alt 30.03.2019, 18:22   #2
weiblich Ilka-Maria
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Klar und flüssig erzählt, Kompliment.

Nur eine Kleinigkeit: Dieser Satz
Zitat:
"Und seiner Freundin erzählt habe, dass er zeugungsunfähig ist"
sollte im Konjunktiv stehen, denn Dieter ist ja in Wirklichkeit nicht zeugungsunfähig, also "Und seiner Freundin erzählt habe, er sei zeugungsunfähig".

LG
Ilka
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Alt 30.03.2019, 19:22   #3
weiblich DieSilbermöwe
 
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Vielen Dank für deinen Kommentar und das Lob, Ilka!

Ich habe das Wort in "sei" geändert..

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.03.2019, 19:31   #4
weiblich Ilka-Maria
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Alt 31.03.2019, 17:00   #5
Stachel
 
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Beiträge: 954


Sehr schöne, in sich stimmige Geschichte mit überraschendem und bedenkenswertem Ende. Mir hat sie gut gefallen. Eine Kurzgeschichte, die diesen Namen sehr wohl verdient.

Mir gefallen besonders die atmosphärischen Elemente, wie die greifende Kinderhand. Es sind diese kleinen Details, die für mich die Geschichte dicht und rund machen.

Freundliche Grüße von
Stachel
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Alt 31.03.2019, 17:55   #6
männlich Gylon
 
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Beiträge: 4.269


Liebe DieSilbermöwe,
gute Story und ein interessantes Thema!
Einzig diese Stelle:
„Dann folgte irgendeine Erklärung über meine Unfruchtbarkeit, die ich vergessen habe.“ kommt mir als Leser etwas unglaubwürdig vor.

Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße Gylon
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Alt 01.04.2019, 06:51   #7
weiblich DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 6.687


Lieber Stachel, lieber Gylon,

vielen Dank für eure lobenden Worte!

Lieber Stachel,

Zitat:
Mir gefallen besonders die atmosphärischen Elemente, wie die greifende Kinderhand. Es sind diese kleinen Details, die für mich die Geschichte dicht und rund machen.
Ich bin sehr erfreut, dass diese Details genau so angekommen sind wie ich es beabsichtigt habe. Denn die Protagonistin ist vernarrt in Kinder und beobachtet genau.

Lieber Gylon,

ja, wahrscheinlich "vergisst" man die Begründung nicht, aber ich wollte die Geschichte jetzt nicht mit Fachbegriffen zupflastern, das hätte nicht gepasst. Vielleicht wäre "die ich anschließend einfach vergessen wollte" aber besser gewesen.

LG DieSilbermöwe
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Alt 05.04.2019, 14:59   #8
weiblich AlteLyrikerin
 
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Liebe Silbermöwe,

Deine Geschichte ist gut erzählt, aber bei der folgenden Stelle, die einerseits eine starke Pointe darstellt, sträuben sich mir doch die Nackenhaare.
Zitat:
Wichtig ist, dass Dieter bald ein Kind haben wird und es öfters bei uns sein wird.
Wie gut, dass ich Dieter zu der offenen Beziehung überredet habe. Und seiner Freundin erzählt habe, dass er zeugungsunfähig sei.
Hier wird die "Freundin" durch eine infame Lüge zwangsweise zur Leihmutter gemacht. Das ist ein so starker "Eingriff" in ein anderes Leben, eine so gnadenlose Instrumentalisierung eines anderen Menschen, dass mir die Spucke wegbleibt.
Sogenannte offene Beziehungen unter Erwachsenen entsprechen zwar nicht meinem Ideal, aber warum nicht, jeder soll nach seiner Fasson selig werden, solange er niemandem damit schadet. So hoffe ich doch sehr, dass diese Story weit weg ist davon realisiert zu werden.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.
AlteLyrikerin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.04.2019, 18:14   #9
weiblich DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 6.687


Zitat:
.Hier wird die "Freundin" durch eine infame Lüge zwangsweise zur Leihmutter gemacht. Das ist ein so starker "Eingriff" in ein anderes Leben, eine so gnadenlose Instrumentalisierung eines anderen Menschen, dass mir die Spucke wegbleibt
Hallo AlteLyrikerin,

hoffentlich hast du meine Geschichte "Die Silvesternacht" nicht gelesen, denn die ist noch viel schlimmer .

Ich bin froh, dass ich von den "braven" Geschichten weggekommen bin, wo immer nur Friede, Freude, Eierkuchen herrschte und niemand niemandem etwas Böses will. Schön fürs wahre Leben, tödlich für eine spannende Geschichte.

Dass du darüber nachdenkst, ob die Geschichte vielleicht sogar wahr sein könnte oder im Begriff sein könnte, realisiert zu werden, ist für mich als Autorin übrigens ein Riesenkompliment.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.04.2019, 18:22   #10
weiblich AlteLyrikerin
 
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Ich gebe zu, für den neugierigen Leser bietet das einen größeren Reiz. Wie die Realität leider unausgesetzt zeigt, bist Du damit noch nicht einmal am Boden der menschlichen Abgründe angekommen.
Viel Erfolg weiterhin beim Erfinden spannender Geschichten, wünscht AlteLyrikerin.
AlteLyrikerin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.04.2019, 18:25   #11
weiblich DieSilbermöwe
 
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Dankeschön! Und es macht so richtig Spaß, über menschliche Abgründe zu schreiben.

LG DieSilbermöwe
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