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Alt 26.09.2012, 16:33   #1
GiantMueller
 
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Standard Rattmanners Schwerkraft

Es war ein sonniger Tag. Rattmanner schwitzte in seinem marine-blauen Maßanzug aus Schurwolle mit fein gesetzten Nadelstreifen. Ein Paar Schi drückten an seiner Schulter, er spürte die scharfen, kalten Schi-Kanten in seinen Handflächen. Rattmanner war in Ausflugsstimmung. Voller Übermut war er triumphierend aus dem Ministerium ausgezogen. Das Ministerium war in jenem Gebäude unterbracht, in dem einst der erste Weltkrieg unbeholfen ausgeheckt worden war. Rattmanner hatte an diesem Morgen in blinder Wut einen Aktenordner mit lautem Krachen auf seinen überdimensional großen Schreibtisch mit billiger, weißer Plastikfurnier geschmettert und seinen Abteilungsleiter einen Hornochsen genannt. Jetzt wo Rattmanner mit seinen Schiern durch die Straßen davon spazierte, wandelte sein Abteilungsleiter ein wenig ratlos über den knarrenden Paketboden im Ministerialbüro. Rattmanner war offenbar wahnsinnig geworden.

Die sanften Hügel am Horizont schimmerten im samtigen grün, man konnte die trüben Kanalwässer bereits riechen als Rattmanner auf der dicht befahrenen Betonbrücke stand. Vorboten des Frühlings, dachte Rattmanner. „Was hat er denn bloß nur vor in diesem Aufzug“, hätte sich jeder, der Rattmanner ansichtig wurde, fragen müssen. Einen Gletscher besuchen? Nach Skandinavien auswandern? Der Rollsplitt knirschte unter Rattmanner´s plumpen Plastikschuhen. Niemand schien ihn zu beachten. Leben und Leben lassen, war das ungeschriebene Grundgesetz in der großen Stadt, in der Rattmanner lebte.

Als Rattmanner die Station der Untergrundbahn erreichte, war es still. Der oberirdische Bau war mit Ornamenten reich verziertet, ein Pavillon als Stahlskelettbau mit vorgehängten Marmorplatten ausgeführt und im einst sehr modernen Jugendstil dekoriert. Die steile Treppe die zur Plattform der Untergrundbahn hinunter führte war gänzlich leer. In der Früh noch waren hier hunderte Leute hektisch auf- und ab geflutet. Jetzt am späten Vormittag war keine Spur mehr von diesem regen Treiben.

Er trat mit dem Plastikschuhen kraftvoll in die Bindungen, um die Schi an seinen Beinen zu fixieren. Hinter ihm ragte die Säule mit dem Standbild eines Admirals der Kriegsmarine über den tosenden Verkehr. Der Admiral hatte einst siegreich Schlachten in weit entfernten Meeren ausgefochten und war schließlich jung und nahezu mittellos an Lungenentzündung verstorben. Jetzt schien der Verkehr den Admiral endlos zu umkreisen. Rattmanner war interessiert an potentieller Energie. In dem Land in dem Rattmanner lebte, war das elegante überwinden winterlicher, schwindelerregender Höhenunterschiede ein überaus beliebter Volkssport. Alle vier Jahre bildeten die olympischen Winterspiele einen der seltenen Kristallisationspunkte nationalen Hochgefühls in seinem von wilden Gebirgen geprägten Land, das längst keinen eigenen, direkten Zugang zum Meer mehr besaß.

Die Schi kratzten über Treppenkanten. Rattmanner hatte sich kraftvoll abgestoßen und beschleunigte rasant hinunter zum Bahnsteig. Er ging in die Hocke um den Luftwiderstand zu verringern. Die Schispitzen hatten bereits jäh die Zwischenplattform der Treppe erreicht, während sich Rattmanner mit seinem ganzen Schwung und Gewicht noch voll in der Treppenschräge befand. Die Schiespitzen wurden gebremst, die Schi bogen sich elastisch. Rattmanner spürte, dass sich beide Schibindungen geöffnet hatten. Er wurde mit dem Oberkörper nach vorne geschleudert, seine Beine hingegen standen plötzlich in der Luft waagrecht nach hinten. Für einen Augenblick – der ihm selbst schier endlos vorkam – schien Rattmanner hoch in der Luft zu schweben. Nun musste er aus dieser Lage heraus den zweiten Teil der Treppe bewältigen.

Rattmanner überschlug sich mehrmals. Ein lautes Krachen durchbrach die Stille der Untergrundstation. Die Schi flogen wild durch die Luft, schlugen auf die Treppen und rutschten ohne Rattmanner zum Bahnsteig hinunter. Eine ältere Dame, die sich im Augenblick von Rattmanners Sturz, gerade vom Bahnsteig aus der Treppe genähert hatte, schrie entsetzt auf, sank langsam nieder und ließ sich zur Seite rollen. Als Rattmanner nun selbst auf den Bahnsteig purzelte und dort zu liegen kam, kam geschmeidig, langsam und nahezu geräuschlos eine Untergrund-Bahn eingefahren.

Als Rattmanner erwachte blickte er auf ein riesiges Meer von Blumen wie er sich für sein eigenes Begräbnis nicht angemessener hätte erträumen können. Die verwirrende Nachricht von Rattmanners Sturz in der Untergrundbahnstation hatte eine für alle überraschende Welle des Mitleids bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der großen Stadt ausgelöst. Laufend kamen neue Blumensträuße und Genesungswünsche, die von philippinischen Krankenschwestern flink und feinsäuberlich in Rattmanners Spitalszimmer eingeordnet wurden. Durch die schmalen Schlitze die sein Kopfverband freigab, spähte Rattmanner auf den Bildschirm eines Fernsehgerätes, der durch eine massive Stahlkonstruktion gestützt, von der Decke hing. „Die gelblichen Schleierwolken“, so erklärte ein Meteorologe fröhlich in der Wettervorschau für den nächsten Tag, „Diese gelblichen Schleierwolken, die die Sonne so seltsam fahl erscheinen lassen – das ist Sand!“ Der Sahara-Sand, würde an der Vorderseite eines Tiefdruckgebiets in die große Stadt geweht und sogar die meteorologischen Messinstrumente blockieren. Durch die schweren, beigefarbenen Vorhänge von Rattmanners vorübergehendem Domizil leuchtete schwach der glühend rote Abendhimmel. Ein Domizil das bei näherer Betrachtung einer hochtechnisierten Industrieproduktionsstätte nicht unähnlich schien.
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