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Alt 04.11.2016, 14:33   #1
männlich Heinz
 
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Standard 6. Kapitel - Urlaub in Jena

6. Kapitel


Abends der Überfall durch den zweiten Onkel mit Frau, meiner Tante Hannelore (die immerhin ein halbes Jahr jünger als ich war) und stundenlanges Reden und Reden und Absingen schmutziger Lieder.
Eins hatte die Schlacht bei Jena und Auerstädt zum Thema, aber das Pittermännche und diverse höherprozentige Genussmittel haben mich nur den Refrain behalten lassen: „Das war die Schlacht bei Jäne, bei Jäne bei Jäne und bei Auerstädt.“
Muss ich erklären, dass mit „Jäne“ die altehrwürdige Stadt Jena besungen wurde?
„Morgen Abend haben wir einen Tisch im Fuchsturm reserviert.“ Das war Glockenklang in meinen Ohren. Wie ich das Ding zwischen meinen Ohren dann noch unfallfrei auf das Kopfkissen gebettet habe, ist mir nicht im Gedächtnis haften geblieben.
Das eigentliche Wunder war, dass mein ältester Cousin überhaupt anwesend war. Als Unteroffizier der NVA hätte er eigentlich gar keinen Kontakt zu einem „Ausländer“ - die Bundesbürger waren nach offizieller Lesart Ausländer - haben durfte. Und dann auch noch mit einem Hauptfeldwebel der kriegs-hetzenden NATO. Ich denke, er hat es beim Urlaubsantrag verschwiegen. Wie stark sein Wunsch nach Annäherung an den „Klassenfeind“ war, stellte ich im Halbdusel fest, als er versuchte, sich in mein Bett, das ja eigentlich seins war, zu drängeln und erst nach ernsthafter Ermahnung durch seinen Vater eine andere Bettstatt aufsuchte.
Nach zu spät begonnener und noch verspäteter Beendigung der Nachtruhe und ausgedehntem Frühstück, bei dem mir auffiel, dass mir die Brötchen für 5 Pfennig besser schmeckten als die schneeweißen meines Wuppertaler Bäckers, stand ein „Umzug“ an. Am Abhang des Haus-berges, auf dessen Höhe der Fuchsturm seit Jahrhunderten ins Thüringer Land schaut, besaß Gerhard (mein Onkel) einen großen Garten mit einem recht komfortablen Gartenhaus. Das wurde für die nächsten vier Wochen mein Domizil. Es war für alles gesorgt: Strom-, Wasser- und TV-Anschluss, im Keller eine Kiste Wernesgrüner, ein gut gefüllter Kühlschrank, im Garten Obstbäume, Beerensträucher, Blumenrabatte - ein kleines Paradies!
Im Nachbargarten eine - ich traute meinen Augen kaum - junge Frau, fast noch ein Mädchen. Das Überraschende an der Diana, so nannte ich sie wegen ihres grünen Robin-Hood-Hütchens, war, dass außer dem Hütchen keinerlei Textilien das hübsche Weibchen verunstalteten. Diese löbliche Sitte gefiel mir, ich drehte mich herum - und sehe meine Tante Ursel zum ersten Mal in meinem Leben oben ohne, was blieb mir anderes übrig, als mich selbst auch in diesen Naturzustand zu versetzen. Diana erzählte, zunächst mehr an meine nackige Tante gewandt, dass ihr Schlimmes widerfahren sei: Sie wollte nach ihrem Schulabschluss Physik studieren, hatte am Vortag aber erfahren, dass sie nicht zum Studium zugelassen worden war. „Mensch, du hast da aber so gute Noten, nur Einsen aufm Zeugnis, das kann ich gar nicht glaum!“, so meine Tante. Das Studienhindernis - das wiederum konnte ich kaum glauben - war, dass sie kein Arbeiterkind war, sondern wegen ihres Vaters, Professor an der Friedrich-Schiller-Universität, zu den Intellektuellenkindern gehörte, die in der Reihe der Bewerber hinten dran zu stehen hatten. Dass Kinder von SED-Funktionären „automatisch“ zur Arbeiterklasse gehörten, verstand sich offenbar von selbst.
Unserer Annäherung stand nicht im Wege, dass mir die „MLWA“ nicht eigen war. Dieses MLWA las ich manchmal in Heiratsannoncen der Jenaer Volks-wacht. Da stand dann z.B.:
„Kinderlieber Mann, mindestens 1,75 m groß, Treue selbstverständlich zwecks näherer Bekanntschaft gesucht; spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Voraussetzung: MLWA.“
Wer doof ist, muss fragen, also fragte ich. „Nu, dir muss man aber auch alles erklären. Das heißt: Marxistisch Leninistische Weltanschauung. Das schreiben die alle.“ Alle - ja, alle bezogen auch neben der Volkswacht das Zentralorgan „Neues Deutschland“. Komisch war, dass die Zeitung ND, wie alle anderen Zeitungen, so kleine Stanzeckchen hatten, die beim ND immer noch zusammenhielten (also die Zeitung nie aufgeblättert wurde) und ungelesen auf dem Altpapierstapel landeten.
Für den Sonnabend wurde ein Treffen im größten Jenaer Hotel am Holzmarkt verabredet.
Da war ein Tanzabend mit Live-Musik angesagt. Und schon musste ein neues Problem aus der Welt geschafft werden: Ich durfte zunächst nicht hinein - weil ich keine Krawatte trug. Der Kellner war nett, besorgte mir eine aus seinen Beständen; eine Krawatte, die eigentlich nur aus dem Knoten, einem Gummiband mit Verschluss und dem Gebammel darunter bestand. Sie war gestreift und schmückte mein kurzärmeliges, kariertes Sommerhemd außerordentlich. Nach einigen Tänzen und einem opulenten Abendessen, Rotkäppchensekt und ansterngenden Gesprächen (wir saßen ziemlich nah bei der Kapelle), suchten wir die Bar des Hauses auf. Da saß sie - Hortense! Ein südländischer Typ mit unendlich langen, schwarzen Haaren und noch schwärzeren Augen. Sie wollte „Otongsee“ angesprochen werden, konnte saufen wie ein Kosak und kannte den Barkeeper gut. Mein Vorteil war - ich konnte endlich die Krawatte abnehmen und wir wurden dank meines West-geldes bevorzugt bedient. „Mensch, Heinz, quatsch nicht so drauflos! Der Fred (das war der Barkeeper) ist von der Stasi.“ Mein Drauflosquatschen bestand darin, dass ich mich am Witzeerzählen beteiligte, die Witze nach Vernichtung mehrerer leicht alkoholischer Getränke immer lockerer und - politischer - wurden. „Habt ihr schon gehört? Gestern ist ein Vopo in nen Intershop gekommen, ist über den Tresen gesprungen und hat um politisches Asyl gebeten!" Am lautesten hat Fred gelacht, am leisesten sprach Otongsee: „Bist du verrückt? Der (Fred) kann dich nach Bautzen bringen.“
Nach Bautzen ging es nicht, aber nach dem letzten Zapfenstreich landeten wir, Diana, Otongsee, Fred und ich in Freds Wohnung. Erst haben wir ihm den Kühlschrank geplündert, dann durfte ich mir die gesammelten Witze von Otto, dem Friesen, anhören und dann führte uns Fred in sein Heiligtum - sein Schlafzimmer. Rechts an der Wand - die Reichskriegsflagge, an der linken Wand seine Waffensammlung: Bajonette aus dem WK I und sein „Glanzstück“ - ein Ehrendolch der Waffen-SS mit, wenn ich mich nicht irre, einem elfen-beinernen Griff und der Inschrift „Meine Ehre heißt Treue“. Die Schublade seines Nachttischschrankes - gefüllt mit Eisernen Kreuzen, einem Mutterkreuz und anderen Devotionalien.
Im Morgengrauen verließen wir Fred, der sowieso schon eingeschlafen war, gingen Richtung Holzmarkt, auf dem als einziges Auto auf dem großen Parkplatz mein roter Mercedes ohne Stern stand. „Du willst doch nicht etwa mit dem Auto fahren?“ Meinen Beteuerungen, ich sei durchaus fahrtüchtig, wurde kein Glauben geschenkt und ich ließ mich davon überzeugen, dass auch 0,1 Promille schon erheblich zuviel seien. Ein Taxi zu finden in der damals fast 100.000 Einwohner zählenden Stadt war auch in den frühen Morgenstunden eine wahre Geduldsprobe. Das Glück war uns hold, der Taxifahrer wechselte den Sender und unter Abhören der Frühnachrichten brachte er uns nach Hause (nach Hause - das war in diesem Fall mein Domizil am Hang des Hausberges).
Komfortabel, das habe ich schon erwähnt, war die „Datsche“; Betten waren ausreichend vorhanden, nur unter der Dusche wurde es eng, aber erfrischt und reinlich, einen Schlummertrunk um sieben Uhr in der Frühe waren wir nicht abgeneigt, erreichten wir unsere Lagerstatt.
Immer die Warnung in den Ohren: Die Firma Hoch und Guck sieht und hört alles, schweige ich über den weiteren Ablauf der Geschehnisse.
Zu Fuß ging es dann, Gott sei Dank immer bergab, in den Mittagsstunden ins Stadtzentrum.
Mein Auto stand einsam und verlassen auf dem Parkplatz, hinter dem Scheibenwischer ein Knöllchen mit der Adresse der nächstgelegenen Polizei-station. Die war fußläufig in 10 Minuten zu erreichen und ich sollte 30 DM (Westdeutsche Mark) wegen Überschreitung der Parkzeit bezahlen. Es gab eine längere Auseinandersetzung und meinen Hinweis, dass ich mich vorbildlich verhalten und unter Alkoholeinfluss niemals ein Fahrzeug auch nur zu betreten wagen würde. Der Volkspolizist war sichtlich überfordert, holte einen höheren Dienstgrad, der nach kurzer Bedenkzeit das Bußgeld strich und mich mit den lobenden Worten entließ: „Wenn sich alle Ausländer so an unsere Gesetze halten, dann drücken wir mal ein Auge zu.“
Zum Kaffee und einer wunderbaren Himbeertorte, die meine Tante gezaubert hatte, traf ich am Nachmittag im Garten ein - ohne Otongsee, ohne Diana (die, als sei nichts geschehen, im Garten nebenan mit dem kecken Hütchen auf dem Kopf, Unkraut jätete).
„Du hast heute Morgen Besuch gehabt. Das war wohl ein Schulfreund von Dir - kannst Du Dich an den Namen Horst Netzer erinnern?“
„Der Netzers Horst - woher soll der denn wissen, dass ich in Jena bin?“
„Weiß ich nicht, aber er will morgen gegen zehn nochmal kommen.“
Bei mir klingelten alle Alarmglocken. Bei der Bundeswehr gab es neben der praktischen Ausbildung natürlich auch theoretische Unterrichtsstunden. Einige davon waren Offizieren vorbehalten, aber der Chef „meiner“ Einheit übertrug ganz gern mal seine Aufgaben auf mich und so hatte ich das Vergnügen, den Soldaten der Kompanie (das waren so an die 100 Mann), die in unserer Ausbildungsstätte ihre Wehrübungen ableisteten, Unterricht zu erteilen. Thema: „Wie verhält sich der Soldat bei Kontaktversuchen fremder Geheimdienste?“
Grundlage des Unterrichts war die Dienstvorschrift für die Hand des unterrichtenden Offiziers. Na ja, als Hauptfeldwebel, damals der dienst-gradhöchste Portepee-Träger (Militärfernen sei erklärt, dass „Portepeeträger“ eigentlich Degenträger sind, der Begriff aber für Unteroffiziere ab Feldwebel aufwärts übernommen wurde), rangierte sowieso in deren Selbstverständnis weit über Leutnant, Hauptmann, Oberst oder General, er saß zu Rechten Gottes, um dem hin und wieder Ratschläge zukommen zu lassen, also, als Hauptfeldwebel hatte ich Zugang zu diesen Dienstvorschriften und kannte (in der Theorie) die Kontaktaufnahme-Methoden fremder Geheimdienste.
Dass besagter Horst Netzer, mit dem ich in die erste und zweite Klasse besuchte und der im Nachbarhaus wohnte, erfahren haben wollte, dass ich nach über vierzig Jahren meine Heimatstadt Jena besuchte, erklärt das Klingeln der Alarmglocken. Na, da wollen wir mal gucken, was dieser Horst Netzer von mir will - mit solchen Gedanken im Hinterkopf wartete ich auf den nächsten Tag.
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