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Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt.

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Alt 01.06.2015, 21:21   #1
männlich urluberlu
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Standard Die Schaukel im Park (Hommage an G.Belli)

Die Schaukel dort im Park - wie sehr
erinnert sie an meine alte Liebe
zu einer Welt, die, wenn ich sie beschriebe,
ein bisschen dunkler wär und nicht so leer,

ein bisschen nicht so kalt, voll Mitgefühl
mit jenen, die im Glanze der Maschinen
durchs Leben darben, unter Blechlawinen
verschüttet und im Cyberworld-Gewühl.

Und trotzdem denk ich Wörter ohne Seele,
die zwar bei fremdem Schmerz gefühlvoll weinen,
sobald sie aber auf dem Schirm erscheinen,
ist mir, als ob ein wenig Weichheit fehle,

ein wenig weiche Haut, ein Quantum Glück,
ein Quäntchen Leidenschaft, ein Hüftschwung, Adern,
mit Blut gefüllt... Jedoch: Man soll nicht hadern,
ich schau nur - fragend - in den Park zurück.


(Kann sein, dass das schon mal inm Forum war. Ich kann's aber nicht mehr finden und habe es aus bestimmtem Anlass neu eingestellt. Danke fürs Verständnis.)
urluberlu ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.06.2015, 15:06   #2
Thing
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Beiträge: 34.998

Erinnert mich an Annette Kolb.
Das soll ein Kompliment sein, hat mit dem Bezug auf Giuseppe nicht das Geringste zu tun,
zumal ich seine Sonette (Dialekt oder Idiom) nicht kenne.
Aber A.K. hat die Stimmung genauso erfaßt.

Und Deines ist ja kein Sonett.

Thing
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Alt 02.06.2015, 19:06   #3
weiblich scrabblix
 
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Hallo, url,

er gefällt mir außerordentlich gut, dein sinnierender Blick in den Park!

Liebe Grüße
scrabblix
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Alt 02.06.2015, 19:13   #4
männlich Gylon
 
Dabei seit: 07/2014
Beiträge: 4.269

Lieber urluberlu,
vom feinsten mal wieder!

Liebe Grüße Gylon
Gylon ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.06.2015, 15:08   #5
Stachel
 
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Ort: Niederrhein
Beiträge: 954

Das vorliegende Gedicht ist ein typisches Kontext-Gedicht. Um es komplett zu erfassen, muss der Bezug bekannt sein. Leider ist er mir eben nicht bekannt, was die Interpretation etwas erschwert (aber zum Glück nicht unmöglich macht).

Inhalt
Das LI betrachtet eine Schaukel in einem Park und zieht aus diesem Bild Parallelen zu einer geliebten, aber vergangenen Welt. Im Folgenden wird diese Welt in einem deutlich positiven Tenor näher beschrieben (Strophen 1 und 2). Der Begriff Welt kann hier als Synonym für die Zeit (im Sinne von "heutige Zeit" (vs. "damals")) verstanden werden. Die Beschreibung der vergangenen Welt erfolgt in Form von Vergleichen mit der heutigen, wodurch sich eine Kritik an dem aktuellen Status Quo herauskristallisiert: zu grell, leer(er), zu kalt, zu wenig Mitgefühl
Die Kritik ist deutlich, jedoch durch die verkleinernde Wortwahl (V3: "ein bisschen dunkler", V5: "ein bisschen nicht so kalt") nicht gänzlich ohne Zärtlichkeit und damit nicht ohne Romantisierung des Vergangenen. Die Reimwörter korrespondieren hier mit langen Vokalen.

In den letzten beiden Strophen beschreibt das LI das Fehlen bestimmter Attribute in den eigenen Gedichten und Gedanken (V9: "ohne Seele", V12ff: "Weichheit fehle", mit folgender Aufzählung). Die eigenen Verse werden nach dem Erscheinen auf dem Bildschirm (V11) zwar als gefühlvoll und emphathisch (V10: "bei fremdem Schmerz gefühlvoll weinen"), gleichzeitig aber als zu hart, zu wenig glücklich und leidenschaftlich, sogar als blutarm und wenig elegant (V13f: "wenig [...] Hüftschwung") empfunden. Die Aufzählung ist nicht abschließend, das LI hadert (V11: "..."), reißt sich aber schließlich zusammen, um genau das nicht zu tun. Dennoch bleiben Fragen beim Anblick der Schaukel.

Das LI beklagt das eigene "Unvermögen" in gleicher Weise (Stimmung, Wortwahl) wie die Änderung der Welt. Es empfindet möglicherweise hier eine eigene Änderung in ähnlicher Richtung und bedauert diese. Letztlich bleibt aber offen, ob das LI vielleicht nur an der Welt die eigene Situation besser ablesen kann. Vielleicht stagniert das LI auch gegenüber der Welt. Hierin könnten die zentralen Fragen bei der Betrachtung der Schaukel liegen: "Habe ich mich / hat die Welt sich verschlechtert?", "Dreht sich die Welt ohne mich weiter?"

Die Schaukel
Das titelgebende Bild der Schaukel steht am Anfang. Es ist abgesetzt, sogar formal durch eine starke Cäsur mit einer "fehlenden" Hebung (und folgender Senkung). Die Schaukel mag hier als Sinnbild für das Leben und somit das Thema des Gedichtes stehen. Sie schwingt vor und zurück, ebenso wie es im Leben mal auf und mal ab geht. Sie bewegt sich stets (oder ist ungenutzt) und verändert kontinuierlich ihre Position, so wie das Leben im Fluss ist.
Was erfahren wir über die Schaukel? Nichts, außer dass sie im Park ist. Da sie nicht näher beschrieben wird, gibt es wohl nichts zu berichten. Sie steht vermutlich still. Sie ist ungenutzt. Das Bild könnte als eine Metapher auf das Leben des LI verstanden werden. Auch hier herrscht vielleicht Stillstand.

Was bleibt formell noch zu sagen?
Der umarmende Reim unterstützt die sentimentale, nachdenkliche Betrachtung und die beinahe zärtliche Stimmung. Der fünfhebige Jambus lässt, sehr gut unterstützt durch die Satzüberläufe (aka: "Zeilensprünge"), die Gedanken des LI fließen. Der erste Satz erstreckt sich über volle zwei Strophen. Der zweite Satz auch fast, nur die Conclusio in den letzten anderthalb Versen ist nochmals abgetrennt. Durch die Kadenzen passen sich die Aufzählungselemente gut in die bestehenden Sätze ein.
Die Conclusio unterbricht übrigens in einem Moment, als der Rhythmus durch den Satzüberlauf (trotz des (imA entbehrlichen) endständigen Kommas in V10) in einen tänzelnden Daktylus übergeht ("Adern, mit Blut gefüllt", XxxXxx). Das LI reißt sich hier förmlich aus den abschweifenden Gedanken.

Nix zu meckern?
Je öfter ich lese, desto weniger wird es. Ich stolpere noch in der dritten Strophe. Vers 10 enthält ein "zwar", dem nach meinem Verständnis kein "aber" oder "jedoch" folgent. Das "aber" in Vers 11 will nicht recht dazu passen. Der Satz käme ohne aus. Genauer gesagt bilden V11/12 ein eigenständiges grammatikalisches Konstrukt, so dass das "zwar" mir letztlich ungelöst erscheint.
Korrekt wäre z.B.: "die zwar weinen, aber denen Weichheit fehlt" oder "die zwar weinen, denen jedoch Weichheit fehlt".
Ich verbuche das unter dichterischer Freiheit (alternativ unter eigenem Unwissen), denn diese Strophe fordert dem Leser sprachlich/metaphorisch sowieso am meisten ab. Da darf man auch etwas an den filigranen Kontrukten verweilen (müssen).

Sonett?
Obwohl dieses Gedicht vier Quartette aufweist, könnte man es als abgewandeltes Sonett auffassen. Formal ist alles andere vorhanden und Abweichungen jeglicher Art von der "Urform" sind (und waren zu jeder Zeit) mehr als gängig. Aber das muss der Dichter entscheiden. Er hat die Definitionsmacht

So oder so - mir gefällt es sehr gut.

Freundliche Grüße vom
Stachel
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Alt 04.06.2015, 20:25   #6
männlich urluberlu
R.I.P.
 
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Beiträge: 2.273

Werte Leserinnen und Leser
Vielen Dank für eure vielfältigen Rückmeldungen,
Ich werde selbstverständlich darauf zurückkommen.

Für den Moment hier der "Kontext":
Gioconda Belli erhält einen wichtigen Lyrikpreis und hält eine Dankesrede, die selber anschliessend als Gedicht in den Büchern auftaucht.
Ich habe ihren Text in einer Sammlung gelesen, welche ganz ihr gewidmet ist und in der das spanische Original und die deutsche Übersetzung auf gegenüberliegenden Seiten parallel stehen.
Eine in meinen Augen sehr schöne Lektüre, auf jeden Fall für jene, welche sich auch in den romanischen Sprachen ein wenig auskennen. (Bellis Spanisch ist nicht wirklich schwierig zu verstehen.) Die deutsche Übersetzung bleibt nahe am Original und bringt trotzdem enorm viel von der Musik der Texte rüber.
Die Bilder in meinem Text gehen wahrscheinlich alle auf Bellis Konto. Ohne sie hätte ich keinen Text schreiben können, der auch mir rundum gefällt.

Schönen Abend
Url
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Alt 05.06.2015, 11:27   #7
weiblich shoshin
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Beiträge: 1.073

Mein Mann aus Pfirsich und Limonen
lass mich trinken aus den Quellen..

Wunderbar!

Lieben Gruß
shoshin
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Alt 05.06.2015, 12:15   #8
männlich urluberlu
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Mi hombre de limones y duraznos,
dáme a beber fuentes de melocotones y bananos
racimos de cerezas.

Tu cuerpo es el paraiso perdido
del que nunca jamás ningün Dios
podrá expulsarme.

Das von dir zitierte Gedicht stammt aus einer anderen Sammlung, deren Übersetzerin mMn nicht so überzeugend gearbeitet hat wie das spanisch-deutsche Team andernorts. Deshalb oben noch die zitierte Strophe in Originalsprache. Und hier diese Strophe in Übersetzung, wo man schauen kann, welche Probleme sich stellten und welche z.T. unglücklichen Lösungen gewählt wurden.

Mein Mann aus Pfirsich und Limonen
laß mich trinken aus den Quellen
der Aprikosen, Bananen und Trauben aus Kirsch.

Dein Körper ist das verlorene Paradies
aus dem mich nie
ein Gott wird vertreiben.

Vielleicht würde man auch in "Ich bin sehnsucht - verkleidet als Frau" solch holprige Stellen finden. Aber ich glaube, dort passt es doch eher.

Danke für deinen Beitrag zu G.B.
url
urluberlu ist offline   Mit Zitat antworten
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