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Alt 17.03.2024, 20:09   #1
weiblich ftatateeta
 
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Beiträge: 313


Standard aus der Märchenkiste

Ein Wolf und sieben Geißlein

In einem Wald nahe bei einem Dorf lebte einmal ein großer grauer Wolf. Er war schon alt, hatte hagere Flanken und räudiges Fell. Nachts heulte er so laut, dass den Leuten angst und bange wurde. „Hört nur“, sagten sie dann, das ist der böse Wolf.“

Er war aber nicht böse, nur einsam. Wenn er so allein durch den knackenden Forst streunte, drückte ihn sein Wolfsherz, als wollte es zerspringen. Dann jaulte er eben. In Menschensprache übersetzt hieß sein Gejammere nichts anderes als: „Ach hätte ich nur ein Geißlein. Hätte ich nur so ein saftiges leckeres junges Geißlein.“

Geißlein vernaschen war nämlich dem Wolf das Allerliebste. Davon träumte er Tag und Nacht. In seinem Revier gab es nur die immergleichen Maulwürfe und Nagetiere, deren er längst überdrüssig war. Zwar lebte im Dorf eine Geißenmutter mit ihren sieben Töchterchen, eins immer appetitlicher als das andere. Doch da war nichts zu machen. Die welterfahrene Alte passte auf ihre Kinder auf wie ein Geizhals auf seine Goldfüchse. Jeden Abend sperrte sie die Haustür dreimal zu und verriegelte die Fensterläden.

„Hütet euch vor dem bösen grauen Wolf“, schärfte sie ihren Mädchen ein. „Vor nichts muss sich ein junges Geißlein mehr in Acht nehmen als vor diesem Unhold.“

„Warum eigentlich, Mami?“ fragten die Zicklein.

Die Alte setzte eine strenge Miene auf: „Nun - weil er euch das Teuerste rauben will, das ihr habt.“

„Das Leben?“

„Das auch, wahrscheinlich. Aber zuerst - nun glaubt mir doch: der böse Wolf ist böse. Wenn ihr älter seid, werdet ihr es schon verstehen.“

Aber die Geißlein wollten es nun genau wissen, und so blieb der Mutter nichts übrig, als ihnen die Tatsachen des Lebens zu erklären. Sie tat es wie Generationen von Ziegen vor ihr vermittels eines Gleichnisses.

„Ja - hm - denkt doch mal an die lieben Bienlein. Die naschen an den Blüten, wie ihr wisst, aber wenn ihnen schon eine Ameise zuvorgekommen ist und das Nektartöpfchen leergeräumt hat, dann können sich die Menschen keinen Honig aufs Brot schmieren, sondern höchstens Rübensirup, und der schmeckt nicht halb so gut. Mit dem Wolf verhält es sich genau so, deshalb ist er böse."

Die jungen Geißlein verstanden nicht, was die Mutter meinte, aber sie gehorchten ihr doch und waren vorsichtig. Da konnte der Wolf noch so sehr vom Waldrand herüberlechzen.

Eines Tages musste die Geiß zu Messe fahren. Sie war Einkäuferin für ein Modegeschäft, in dem sich die reichen Ziegen mit Pelzen und Wollsachen eindeckten. Da hieß es in Paris die neuesten Stücke begutachten. Der Mutter war sehr bange um ihre Töchter.

„Wenn ich fort bin - dass ihr ihm nur ja nicht die Tür öffnet, dem bösen Wolf. Es würde euch übel ergehen. Und fallt nicht auf seine Tricks herein. Er ist gerissener als ihr ahnt.“

Die Älteste lachte: „Mami, wir sind doch keine patschigen Milchlutscher mehr. Sei unbesorgt, ich werde schon auf meine Geschwister aufpassen.“

So machte sich die Geiß auf den Weg. Der Wolf aber, der alles belauscht hatte, freute sich wie ein Schneck im Salat. Endlich würde er an die Safthäppchen herankommen.

Wer nun meint, er hätte sich die Pfoten mit Mehl bestäubt und Kreide gefressen, um die Stimme zu sänftigen, der täuscht sich. Solche Großvatermethoden mochte mancher Menschenpolitiker anwenden. Der Wolf hatte für dergleichen nur Spott übrig. Nein er ging gleich zur richtigen Adresse, dem dicken Landarzt, der für Mensch und Tier zuständig war. Ziemlich barsch brachte er sein Anliegen vor. „Ich möchte für einige Zeit meine Gestalt verändern. Ich will aussehen wie ein junger sportlicher Ziegenbock. Könnt Ihr etwas für mich tun? Ja oder nein?“

Der Doktor verzog keine Miene- Er nahm wie so oft an einem geheimen Patientenversuch teil, und diese Gelegenheit kam ihm gerade recht. „Ich habe hier ein neuartiges Tränklein, eine Gen-plus-Hormon-Tinktur. Die wird Euch zur gewünschten Erscheinung verhelfen.“

„Ehrlich?“

„Garantiert. Ihr müsst das Medikament aber regelmäßig einnehmen, alle sechs Stunden 20 Tropfen, sonst verliert es seine Wirkung.

Der Wolf bedankte sich und schluckte fürs erste gleich die halbe Flasche leer. Da wuchsen ihm tatsächlich ein Paar starke Hörner aus der Stirn, die Pfoten verwandelten sich in elegante Hufe, am Kinn wippte ein flottes Bärtchen – kurz, aus dem verfilzten Waldläufer wurde im Handumdrehen ein attraktiver Geißbock. „Ach du meine Fresse“ entfuhr es dem Wolf vor dem Spiegel, „so schlimm hatte ich mir das nicht vorgestellt.“ Nur die Aussicht auf die kommenden Genüsse bewahrte ihn vor einem schizophrenen Schub.

Als der Abend nahte, schlenderte der verwandelte Wolf zur Geißenhütte, hütete sich aber anzuklopfen, sondern spazierte nur vor den Fenstern auf und ab und tat, als ob gar nichts sei.

Die Ziegenmädchen drückten sich die Nasen an den Scheiben platt. Ganz seltsam war ihnen zumute. Sie seufzten und schmachteten: „Wie herrlich er aussieht - wie seine Hörner leuchten – wie der Wind sein Bärtchen zaust - ach ach – säße er doch in unserer Mitte, wie nett könnten wir zusammen plaudern.“

Es kam, wie es kommen musste. Die unschuldigen Dinger öffneten die Tür und baten den Fremden herein.

„Guten Tag, meine Hübschen“ meckerte der Wolf mit seiner neuen jugendlichen Stimme.

Entzückt begrüßten die Zicklein ihren Gast und boten ihm einen Löwenzahntrunk an, doch der Wolf ließ sich die Schlafkammer zeigen und begann ohne Umschweife, wozu er gekommen war: er vernaschte die sieben Geißlein, eins nach dem anderen. Da war des Staunens und Glucksens und Kicherns kein Ende.

Danach, satt und zufrieden, wollte der Besucher sich verabschieden. Aber die Ziegenmädchen, die ja nun den Unterschied zwischen Honig und Rübensirup kennengelernt hatten, ließen ihn nicht fort.

„Oh nein. Nicht doch. Wollt Ihr nicht ein wenig länger bleiben?“

Der Wolf grinste und willigte ein. Er zählte gewissenhaft die nächsten zwanzig Tropfen seiner Gen-Hormon-Tinktur ab und widmete sich erneut den sieben jungen Geißlein, und dann nochmal und – kurz gesagt, es wurde ein Fest, das sich die Orientalin Scheherazade nicht üppiger hätte ausdenken können.

Das Dumme war nur: während die Geißlein reihum schliefen, um bei Kräften zu bleiben, hatte der Wolf nicht eine Minute, um sich auszuruhen. Das hält auf Dauer der stärkste Bock nicht aus. Am Morgen des dritten Tages fiel er einfach um und blieb wie tot auf dem Fußboden liegen.

Die Zicklein hatten ein Einsehen, hoben ihren Gespielen mit vereinten Kräften ins Bett, schlossen die Vorhänge und ließen ihn in Ruhe. Der Wolf schlief 25 Stunden und 20 Minuten ohne Unterbrechung. Natürlich schluckte er in dieser Zeit nichts von seinem Tränklein. So verschwanden nach und nach die stolzen Hörner, das Bärtchen bildete sich zurück, das Ziegenschwänzchen wurde zur Wolfsrute, und am vierten Morgen lag im Bett wieder der große zottige Wolf.

Die Geißlein erschraken bis ins innerste Mark, als sie ihn zum Frühstück wecken wollten. Und weil sie von ferne schon die Mutter kommen hörten, verloren sie vollends den Kopf. Nur die Älteste wusste Rat.

„Schnell, wir fesseln und knebeln ihn. Dann machen wir eine große Unordnung und sagen, er hätte uns überfallen.“

Gesagt getan. Die Zicklein banden dem Wolf, der schon am Aufwachen war, die Beine zusammen und stopften ihm ein Sofakissen ins Maul. Dann warfen sie die Möbel durcheinander, zerrauften sich das Fell und spritzten sich Wasser ins Gesicht, als seien es Tränen. Im letzten Moment dachte die Klügste noch daran, das Türschloss zu zerschmettern.

Dann trat die Mutter ein. “Mami oh Mami! Gott sei gedankt, dass du wieder da bist. Etwas Entsetzliches ist passiert“, riefen alle durcheinander und warfen sich ihr schluchzend an den Hals.

Es ging gut. Die Alte merkte nicht, was sich wirklich zugetragen hatte, und holte Hilfe. Der Wolf versuchte gar nicht erst sich zu verteidigen, denn zuzugeben, dass er sich in einen Ziegenbock hatte verwandeln lassen, dazu war er denn doch zu stolz. Die Polizisten und Reporter glaubten ohnehin den süßen jungen Geißenmädchen. In allen Zeitungen erschien die Geschichte, wie tapfer sie sich des Unholds erwehrt hatten, und ein abstoßendes Foto war immer dabei.

Der alte Wolf musste den Rest seines Lebens in einem Zoo hinter Gittern verbringen und war einsamer als je zuvor. Die meisten Menschen eilten schaudernd an seinem Käfig vorbei. Nur das jüngste Geißlein besuchte ihn ab und zu brachte jedes Mal ein Töpfchen Rübensirup mit.
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Alt 19.03.2024, 14:43   #2
männlich dunkler Traum
 
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Standard Hallo ftatateeta

... ich liebe das jüngste Geißlein. Wo praktiziert der Doktor?

wsT
dT
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.03.2024, 15:52   #3
weiblich ftatateeta
 
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Hallo, d.T.
Freut mich, dass du Spaß hattest. Die Arztpraxis ist in Wolkenkuckucksheim, da wo du mit den Beinen ohnehin schon bist.
LG
ftatateeta
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Alt 21.03.2024, 14:54   #4
männlich Heinz
 
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Liebe ftatateeta,
es macht einfach Spaß Beiträge von Dir zu lesen. Nebenbei geben sie der Fantasie Futter und regen zu weiterem Nachdenken an.
Beispiel:

Als der Wolf so durch den knackenden Forst stromernde,
an Eiche sieben den nackenden Horst den Hintern bohnerte,
,,, usw.

Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2024, 19:46   #5
weiblich ftatateeta
 
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Hallo Heinz.
Schön, dass du wieder da bist. Bohnere nur fleißig weiter dein Dichterorgan und andere Körperteile.

Und sei gegrüßt von
ftatateeta
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Alt 25.03.2024, 04:40   #6
weiblich Lee Berta
 
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Es ist wirklich sehr amüsant geschrieben, aber inhaltlich verkleidet sich ein alter Bock, um Minderjährige und sogar Kinder (!) zu täuschen und zu verführen und da hört bei mir der Spaß auf.

Meckernde Grüße,
die Geiß
Lee Berta ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.03.2024, 15:36   #7
männlich Heinz
 
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Hallo Ftatateeta,
und keiner hat gemerkt, dass ich aus Versehen "stromernde" statt "stromernte" geschrieben habe.
Liebe Lee Berta,
konsequent wäre es, wenn alsbald alle Märchen der Brüder Grimm genauer unter die Lupe genommen würden! Da tun sich Abgründe auf.
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.03.2024, 16:58   #8
weiblich Lee Berta
 
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
Hallo Ftatateeta,
und keiner hat gemerkt, dass ich aus Versehen "stromernde" statt "stromernte" geschrieben habe.
Liebe Lee Berta,
konsequent wäre es, wenn alsbald alle Märchen der Brüder Grimm genauer unter die Lupe genommen würden! Da tun sich Abgründe auf.
Liebe Grüße,
Heinz
Das ist absolut wahr, denn da werden dauernd Kinder verheiratet. Kleine Mädchen mit erwachsenen Prinzen.
Aber man könnte hier die ganze Sexualität einfach raus nehmen, weil der Wolf eigentlich nur Spielkameraden haben will, aber alle haben Angst vor ihm. Dabei ist er so ein netter, flauschiger Kerl. Das wäre kindgerecht.
Hier wird es so dargestellt, dass alle Kinder Sex mit erwachsenen Männern genießen und dann auch noch Vergewaltigungen erfinden. Das ist schon ganz schön heftig, damit gewinnt man sicher keine Kurzgeschichtenwettbewerbe.

Liebe Grüße,
Lee
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Alt 25.03.2024, 18:44   #9
weiblich DieSilbermöwe
 
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Hallo ftatateeta,

ich finde die Geschichte großartig!

LG DieSilbermöwe
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Alt 26.03.2024, 12:04   #10
weiblich ftatateeta
 
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Hallo, ihr.

Danke fürs Lesen und Kommentieren.
@ Lee Berta
Dass du dich auch in diesem Kontext für die Belange der Kinder einsetzt, ehrt dich. Um eine „kindgerechte“ Wohlfühlstory mit Kuscheltierfaktor handelt es sich hier freilich nicht. Auch nicht um eine Reportage über männliches Sexualverhalten.
@ Heinz
Thema Grimm. Wie recht du hast. Ihre z.T. hanebüchenen Geschichten liegen immer wieder unter diversen Lupen. Dabei haben die Märchenbrüder schon kräftig redigiert, um die Texte biedermeiertauglich zu machen. Z.B. wird im Original Rapunzel schwanger von ihrem haarekletternden Galan. Ohne Trauschein!

Liebe Grüße
ftatateeta
ftatateeta ist offline   Mit Zitat antworten
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