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Theorie und Dichterlatein Ratschläge und theoretisches Wissen rund um das Schreiben.

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Alt 14.08.2010, 17:40   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Schreiben macht frei!

Schreiben!

Wenn ich den Kopf voll habe, muß ich schreiben. Andere Menschen, vielleicht die meisten, neigen dazu, alles, was ihnen von innen gegen die Stirn drückt, rauszulassen. Sie suchen sich das nächstbeste Opfer und plappern drauf los, unberührt davon, ob das Gegenüber sich für diese Art der Berichterstattung interessiert. Wie ein Stakkato prasseln die Sätze, oftmals auch nur Satzfetzen, auf den Zuhörer nieder, bis er nicht mehr weiß, worum es am Anfang ging oder er das Gesagte nur noch zum einen Ohr heinein und zum anderen Ohr hinausgehen läßt.

Bei mir ist das anders. Wenn mir der Kopf vor later Denkfüllsel zu platzen droht, muß ich schreiben. Ich schreibe alle Gedanken auf, die in meinen grauen Zellen hin- und herschnellen wie Wasserflöhe. Es zu erzählen würde mich aus dem Rhythmus bringen, denn ich wäre zu sensibel, um nicht zu spüren, wenn ich meine Zuhörerschaft überforderte oder, schlimmer, tödlich langweilte. Auch müßte ich damit rechnen, daß nicht jeder bereitwillig sich opfern würde, meinen Gedankenmüll über sich ausschütten zu lassen, sondern wahrscheinlich meinen Redefluß unterbrechen würde, um Zwischenfragen zu stellen oder aufrichtige Teilnahme zu bezeugen. Das würde mich völlig aus der Fassung bringen und vielleicht sogar dazu verleiten, vom Thema abzuschweifen und mich plötzlich auf einem völlig anderen gedanklichen Gelände wiederzufinden. Das wäre für mich völlig unakzeptabel.

Deshalb gehe ich, wenn mein Kopf überzulaufen droht, Menschen aus dem Wege. Auch Radio- und Fernsehgerät bleiben aus, die Zeitung bleibt gefaltet und das Telefonkabel wird ausgestöpselt. Absolute Ruhe lautet das Gebot. Das einzige erlaubte Geräusch sind das zarte, kaum hörbare Surren des PC und der Klapperton der Tastatur, wenn ich die Buchstaben eintippe. Nichts und niemandem ist erlaubt, mich von meinem Vorhaben abzulenken, das dazu angetan ist, meine Gedanken zu ordnen, sie aufgereiht wie auf einer Perlenschnur in meinen PC zu tippen und hernach in einer Datei abzuspeichern.

Nach einer Viertelstunde steht das Ergebnis vor mir, mein Kopf ist befreit und offen, neue Gedanken aufzunehmen, bis die Sammlung wieder einmal ein einziger unordentlicher Haufen ist. Dann verschaffe ich mir Ruhe und schreibe.

Ilka-M.
14. Augst 2010
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.10.2010, 19:05   #2
weiblich Usa Ell
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Jawohl, ich stimme Dir zu: "Schreiben macht frei!"
Ich kann Dich gut verstehen, mir geht es ähnlich.
Wenn ich mich geärgert habe, und ich habe darüber eine Geschichte
geschrieben habe, ist die Sache gegessen.
(Übrigens hätte ich Dich nicht als Kickersfan vermutet). Aber das sollen ja auch Menschen sein. ;-)
Usa
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Alt 15.10.2010, 19:47   #3
Thing
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Halli Hallo, Ilka-Maria -

man muß Dir zustimmen.
Feine und gleichzeitg lustige Metapher ".. wie Wasseflöhe".
Die marginalen Tippfehler (heinein) übersehe ich, denn ich kein Lektor.
Zwei Dinge möcht ich gern monieren:

Den Ausdruck "Gedankenmüll". Müll ist per se ein Abfallprodukt, aus dem man persönlich nichts Neues schaffen kann.
Mir gefiele der Ausdruck "Gedanken-Chaos" besser.
Ein Chaos läßt sich ordnen.


"Auch Radio und Fernsehgerät bleiben aus" finde ich unfreiwillig lustig.
Ausgeschaltet ist gemeint. Denn "ausbleiben" hat in meinen Augen eine völlig andere Bedeutung.

Eine feine, kleine Selbstbetrachtung.
Ich habe sie gerne gelesen.
Ich selbst reagiere bei diesem "Chaos" anders.

Kompliment!


Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.10.2010, 21:10   #4
weiblich Ilka-Maria
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Der Text ist nichts Besonderes, eher aus einer Laune oder aus einer kurzfristigen Betrachtung entstanden. Umso mehr freue ich mich, daß nach einigen Wochen seiner Existenz Retourmeldungen eingegangen sind, die ich gar nicht erwartet hatte.

Thing, wofür das Kompliment? Das hier ist nur eine Betrachtung, beileibe kein großer Wurf.

Dennoch in Demut an Euch beide: Danke.

Ach ja, noch eine Nachbemerkung:

Wir Offenbacher (und das bin ich von Geburt) sind keine Menschen, sondern eine eigene Spezies. Und deshalb standen wir nie unter preußischer Herrschaft wie Frankfurt. Ein Offenbacher ist und bleibt ein Offenbacher.

Auf gute Nachbarschaft,
Ilka-M.
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Alt 16.10.2010, 08:14   #5
weiblich Usa Ell
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Wieder was gelernt über die Offenbacher. Mann/Frau lernt nie aus!
LG Usa
Usa Ell ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.10.2010, 19:35   #6
männlich Lucifer
 
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Puhhh,da hab ich jetzt ja wohl mal nach dem Ausatmen nach deiner Überschrift erst mal die Luft angehalten.

"Schreiben macht frei".


"Arbeit macht frei."
(Aufschrift am Eingangstor des KZ Auschwitz)



Der Sinn des Ganzen hat hoffentlich eine ganz unterschiedliche Komponente.

Die des Ungezwungenen,des selbst-darstellerischen Gefühls,etwas von sich aus zu fertigen,dessen man nicht von höherer Gewalt aus genötigt wird.

Die Hitlerschen Komparsen hatten,im Auftrag ihres Führers,beiden oben genannten Faktoren die Existens abgesprochen.

Die Freiheit des Ausdrucks der Rede,sowohl auch in Form der Lyric war verboten und wurde mit Zuchthaus bestraft.

Wie wohl können wir uns heute fühlen,unbekümmert zu schreiben,was uns bekümmert.

Trotzdem,liebe Ilka-Maria,ein gutes Script.

Gruß Lucifer
Lucifer ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.10.2010, 20:47   #7
weiblich Ilka-Maria
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Danke, Lucifer. Ach herrjeh, wenn ich auf den gesamten Nazi-Jargon Rücksicht nehmen wollte, könnte ich Tag für Tag nur noch mit einem Maulkorb rumlaufen. Political Correctness haben wir schon genug, und es stinkt mir gewaltig, daß man heutzutage nicht mehr das Maul aufmachen darf.

Erst kürzlich ist hier der Ausdruck "jedem das Seine" angeprangert worden, Nazi-Jargon eben. Wenn die Nazis Schillers "Glocke" für sich in Anspruch genommen hätten, wären wahrscheinlich die Schüler der Nachkriegszeit in hellen Jubel ausgebrochen.

"Ausmerzen" ist auch solch ein Wort, aber selbst das ist nicht auszumerzen.

Darf man einen Giftpilz nicht mehr "Giftpilz" nennen, weil es bei den Nazis ein antisemitisches Kinderbuch mit diesem Titel gab?

Und was ist mit dem Muttertag? Stammt zwar aus England (oder sogar Amerika?), wurde in Deutschland aber von den Nazis eingeführt. Stört sich jemand daran?

Man darf sagen, daß man "den Kopf frei" bekommen müsse - aber nicht, daß das Schreiben frei macht? In den Konzentrationslagern war das einzige, was viele Menschen noch hatten, Papier und Stift, um über ihr Elend zu schreiben oder es in Zeichnungen festzuhalten. Das war tatsächlich die einzige Freiheit, die sie noch hatten - solange sie sich nicht erwischen ließen.

Man kann es wirklich übertreiben. Das beste Beispiel dafür ist die inzwischen legendäre "Jenninger-Rede". Jenninger mußte nach seinem Vortrag dem Druck weichen und vom Amt zurücktreten. Dieselbe Rede trug wenig später Ignaz Bubis in der Frankfurter Westendsynagoge vor; es gab keine Proteste.

Danke für's Lesen.

LG
Ilka-M.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.10.2010, 21:48   #8
männlich Lucifer
 
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Liebe Ilka-Maria,

du bist großartig in deinen (Über)Redungskünsten.Ich würde dir niemals ins Wort fallen,aus peripheren Gründen.
Aber wie gesagt,Wortfetzen können ein Reflex sein,der augenscheinlich beantwortet werden sollte,bevor er mißverstanden wird.

Gruß Lucifer
Lucifer ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.10.2010, 22:30   #9
weiblich Ilka-Maria
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Hab's verstanden, Lucifer. Ist okay.

LG
Ilka-M.
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Alt 19.10.2010, 11:24   #10
Thing
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Halli Hallo, Ilka-Maria -

ja. Stimmt.
Muß man sich verbiegen und formulieren" Arbeit kann befreien" oder "Schreiben kann befreien" oder "Jedem soll man das Seine zugestehen (suum cuique gibt es seit fast ewig!) ?

Wirklich - man dürfte fast nichts mehr zitieren, was unglückseligerweise auch von den Nazis adaptiert wurde.

Also:
Mich kann Schreiben befreien.


Thing
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Alt 23.03.2011, 14:37   #11
männlich eternaldots
 
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Beiträge: 11

Hab kürzlich jemandem ein Gedicht geschrieben.
Hat mich davon befreit durch die Stadt zu stieben,
und was zu suchen und zu kaufen,
und planlos hin und her zu laufen.
eternaldots ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.03.2011, 22:29   #12
männlich ZychoyZ
 
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