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Alt 22.03.2005, 00:15   #1
JonB1982
 
Dabei seit: 03/2005
Beiträge: 102


Standard Ein kleiner Schritt nach Vorne

Hier eine (wirklich kurze) Kurzgeschichte, die ich neulich verfasst habe...

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Ein kleiner Schritt nach Vorne

A short story by Johannes Barthel

Er wanderte scheinbar ziellos umher, den Kopf gesenkt, so dass sein Kinn beinahe auf seinem Brustkorb auflag. Die Dunkelheit um ihn herum störte ihn nicht, er nahm sie nicht einmal wahr. Sie war zu einem Teil von ihm geworden, in diesem Moment, da er sich so verloren und allein fühlte wie niemals zuvor. Das war es also, das war das traurige Ergebnis all seiner Hoffnungen, seiner Mühen, all dessen, wofür er die letzten Wochen gelebt hatte. Er hätte es wissen müssen. Alles ging ihm durch den Kopf, was in den letzten 24 Stunden geschehen war, es lief nochmals wie Film vor seinem geistigen Auge ab, und er hatte bis zu diesem Moment kein Detail vergessen. Es war früh morgens, und es musste wohl noch eine ganze Weile sein bis zur Dämmerung. Darin war er sich sicher, auch wenn er seit dem Beginn seiner ziellosen Wanderung durch das Dorf, das ihm an diesem Tag noch fremder erschien als die wenigen Male, die er zuvor dort war, jegliches Zeitgefühl verloren hatte.
Er zog die Kapuze seines Sweatshirts weiter nach unten, als wolle er sein Gesicht vollkommen in dem Fetzen Stoff vergraben. Die Sonnenbrille, die er trug, ließ ihm die Dunkelheit noch zigmal dunkler erscheinen, als er zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder den Kopf erhob und in den wolkenverhangenen Nachthimmel starrte, der vom Mond wage erleuchtet war. Sterne waren keine zu sehen, aber etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. Am Liebsten wäre es ihm sowieso gewesen, wenn nicht einmal der Mond zu sehen gewesen wäre und vollkommene Dunkelheit geherrscht hätte. Er wollte in diesem Augenblick nichts, als einfach in die Nacht zu verschwinden, ohne Aussicht auf Wiederkehr, ohne dass jemals wieder eine Menschenseele etwas von ihm gehört hätte. Er blickte kurz um sich um festzustellen, wo er sich ungefähr befand. Immerhin, so merkte er, war er nicht an einem Ende des Dorfes gelandet, das er noch nicht kannte. Zum ersten Mal seit Stunden blickte er auf seine Armbanduhr. Nur noch rund 20 Minuten, bis der erste Zug dieses Tages fuhr, der ihn aus dieser Einöde, diesem für ihn nun gottverlassenen Loch, herausbringen würde. Den Kopf wieder auf ihre Brust gesenkt setzte er also seine vermumte Gestalt in Bewegung Richtung Bahnhof.
In seinem Kopf lief der Film seines Lebens, besser gesagt der letzten paar Stunden seines Lebens, nun weiter. Das Gespräch, bei dem ihn das untrügliche Gefühl beschlichen hatte, dass es sinnlos war weiterhin zu hoffen. Das Schweigen, das ihm vorkam wie ein Vorgeschmack auf die Hölle, in welcher er sich bereits sicher wähnte. Und schließlich der Abschied. Der Abschied, der wohl der endgültige Abschied war. Es war zwar allem Anschein nach ein ganz normaler, alltäglicher Abschied, doch genau diese Tatsache machte es für ihn nur noch unerträglicher. Der letzte Abschied, und alles unter dem Deckmantel der Normalität. Er war sich sicher, dass er den Menschen, der ihm in jenem Moment so herzlich und nah erschienen war, aber gleichzeitig auch kühl und berechnend, niemals mehr wieder sehen würde. Und es war ihm nicht einmal vergönnt gewesen sich entsprechend zu verabschieden. Es trieb ihn in den Wahnsinn, wenn ihn auch im gleichen Moment ein Gefühl der Resignation überkam. War es nicht genauso zu erwarten gewesen? War es nicht schon immer in seinem Leben so gewesen, dass sich die Menschen von ihm abwandten, sobald sie ihm wirklich etwas bedeuteten?
Er war mittlerweile am Bahnhof angekommen, der eigentlich nicht viel mehr verdient hätte als die Bezeichnung Haltestelle. Zwei Bahngleise, zwei Fahrkartenautomaten und zwei kleine Häuschen, die mehr schlecht als recht vor Wind und Wetter schützten. Die Beleuchtung war ebenfalls spärlich, doch die vermumte Gestalt wusste, wohin sie gehen musste. Ein kleiner, schmaler Fußgängerüberweg führte über die Bahngleise zum anderen Bahnsteig, von dem in wenigen Minuten sein Zug fahren würde. Gesenkten Hauptes schlich er also hinüber, löste seine Fahrkarte und setzte sich auf die unbequeme Sitzgelegenheit in dem Wartehäuschen. Während alldem drehten sich seine Gedanken jedoch nur um das eine Thema, das ihn schon die ganze Wanderung durch das nächtlich verlassene Dorf beschäftigt, ja sogar gequält, hatte. Der Schmerz, der Hass auf seine Umwelt und vor allem auf sich selbst, die erneute Enttäuschung, all das, was sich über die vergangenen Jahre stetig angehäuft hatte, überkam ihn in diesem Moment. Er blickte kurz auf und wollte gen Himmel schauen in der Hoffnung auf ein göttliches Zeichen. Doch alles, was ihm in den Blick kam war die Laterne in dem Wartehäuschen, die seine an die Dunkelheit gewohnten Augen trotz der Sonnenbrille blendete. Sein Haupt sank wieder zurück auf die Brust, und im gleichen Moment versank auch das letzte Fünkchen Hoffnung in ihm. Was hatte er sich auch erwartet? Hatte er ernsthaft glauben können, dass Gott ihm in diesem Moment beistünde, wo er doch sein Leben lang die Existenz eben dieses höchsten Wesens geleugnet hatte? Nein, er war allein. Wenn es einen Gott gab, so hatte dieser ihm genau in diesem Moment zu verstehen gegeben, wie er von ihm dachte. Keiner Menschenseele war er in den letzten Stunden begegnet, Gott hatte ihn, falls er überhaupt jemals an seiner Seite war, endgültig verlassen, er war am Ende.
Ein Geräusch kam näher. Das konnte aber unmöglich sein Zug sein, wie er sich schnell durch einen Blick auf die Uhr vergewisserte. Ihm war auch vorher schon aufgefallen, dass durch dieses kleine Nest ein reger Güterzugverkehr herrschte. Er wusste nicht warum, aber er stand auf und ging näher an die Gleise. Das Geräusch wurde zunehmend lauter, ja, es war eindeutig ein Zug, der sich da näherte. Dem Geräusch nach zu urteilen würde dieser Zug auch mit relativ hoher Geschwindigkeit durch den Bahnhof rauschen. Der Film, der noch die vergangenen Stunden ständig vor seinem inneren Auge abgelaufen war, kam zu einem abrupten Ende. Etwas anderes übernahm die Kontrolle, nicht mehr die resignative Ader, die ihn bisher in der Hand gehabt hatte. Er wusste, er hatte die Chance etwas zu ändern, in wenigen Augenblicken konnte er der Resignation und allem anderen ein Ende bereiten. Seine Gedanken rasten, er nahm das Geschehen um ihn herum, sofern es überhaupt ein solches gab, nur noch in Zeitlupe wahr. Er dachte an eine Zeile aus einem Gedicht, das er früher einmal selbst geschrieben hatte: They say hope dies last, but when it does, it dies fast. Da sah er den Zug heranpreschen, und ohne dass es ihm bewusst war warum, setzte er den linken Fuß vor den rechten, in Richtung Bahngleis.
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