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Alt 19.03.2021, 14:23   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Und die Moral von der Geschicht ...

Ein Lieblingssatz meines Onkels, wenn er von der Nachkriegszeit erzählte, lautete: „Man konnte froh sein, eine Frau zu finden, die nicht mit einem Ami im Bett gelegen hat.“

Als Kind wusste ich weder, was ein Ami war, noch was der Zusammenhang mit Frau und Bett zu bedeuten hatte. Aber aus dem abfälligen, beinahe feindseligen Ton meines Onkels spürte ich heraus, dass an der Sache nichts Gutes sein konnte. So missfällig spuckte ansonsten nur der Pfarrer von der Kanzel, wenn er seine Schäfchen vor den Verführungskünsten des Satans warnte.

Wenn mein Onkel diesen Satz von der Rampe schoss, meinte er zweifellos junge Frauen, obwohl er keinen Grund zur Klage hatte, denn er war längst mit einem Mädel verbandelt, das nicht nur in der gleichen Stadt wie er geboren war, sondern reinstes Südhessisch, aber kein Wort Englisch sprach, was Beweis genug war, dass sie sich noch nie mit einem Ami eingelassen hatte. Vermutlich war es die Solidarität mit Männern seines Alters, die trotz des kriegsbedingten Frauenüberschusses auf der Strecke blieben, was ihn zu solchen Äußerungen trieb. Sie waren halt alle arme Schlucker, die keine Konservendosen, Schokoriegel und Zigaretten zu bieten hatten. Not kennt bekanntlich kein Gebot.

Deshalb scherte sich auch Lydia, die im gleichen Haus wie Oma, also die Mutter meines Onkels und meines Vaters, wohnte, nicht um moralische Grundsätze, wie sie vor dem Krieg geherrscht hatten, aber binnen weniger Jahre genauso unaufhaltsam zusammenbrachen wie die Ost- und die Westfront. Überall fehlten die Männer, Frauen mussten ihre Arbeiten übernehmen und nach der Kapitulation obendrein den Schutt wegräumen. Die Menschen hungerten, und zwei mörderische Winter rafften die Alten, Kranken und Schwachen dahin.

Lydia war ein älteres Semester, jedenfalls in meiner Erinnerung, aber für Kinder sind alle Menschen über achtzehn schon uralt. Heute kann ich nicht mehr schätzen, wie alt oder jung sie wirklich gewesen sein mochte. Das vage Bild von ihr, das ich vor Augen habe, zeigt eine stattliche, gut angezogene und gepflegte Frau. Damals hörte ich zum ersten Mal das Wort „Hure“, mit dem ich abermals nichts anzufangen wusste, da ich mir den Satan immer in männlicher Gestalt ausgemalt hatte. Etwas näher kam ich der Sache erst, als von der „Ami-Hure“ die Rede war, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass der Satan auch eine Frau haben musste.

Dann kam jener Winterabend, an dem meine Mutter schwer atmend zu Oma in die Wohnung stürmte. Sie wollte mich abholen, setzte sich aber erst einmal in die Küche und rang nach Luft. „Was ist denn mit dir passiert, Mädel? Du bist ja kreidebleich.“ Sie stellte ihr ein Gläschen Kräuterlikor vor die Nase, an dem Mutter aber nur einnal nippte. Von Alkohol bekam sie Migräne.

„Ich bin gerade furchtbar erschrocken,“ begann sie zu erzählen. „Ich war fast im zweiten Stock, da ging das Licht aus und es wurde stockdunkel. Ich ging nach Gefühl weiter, um den Lichtschalter zu erreichen. Plötzlich hörte ich Schritte vor mir und stieß mit jemandem zusammen. Und dann tauchte vor mir ein leuchtendweißes Gebiss auf und sagte etwas Komisches, so etwas wie ‚ososari‘. Dann hat jemand das Licht angemacht, und vor mir stand ein pechschwarzer Kerl in Uniform. Aber ein Schornsteinfeger war das nicht.“

Oma lachte schallend, bis ihr die Tränen flossen. „Das war Tom, einer von Lydias Kunden. Der kommt schon seit zwei Wochen zu ihr.“

Mutter, ein Opfer preußisch-protestantischer Erziehung, schüttelte verständnislos den Kopf. „Diese Frau hat überhaupt keinen Anstand, wie kannst du darüber lachen.“

Aber Oma, selbst kein Kind von Traurigkeit, einmal geschieden und in wilder Ehe mit ihrem Sattlermeister Ludwig lebend, lachte umso mehr. Meine Augen wanderten zwischen ihr und dem empörten Gesicht meiner Mutter hin und her. Ich verstand nur Bahnhof. Noch lange hatte ich bedauert, diesem Tom, der meiner Mutter ungewollt einen derartigen Schrecken eingejagt hatte, nie begegnet zu sein.

Oma wischte sich mit ihrer Schürze die Tränen von den Wangen. „Hast du genug für meinen Sohn und die Kleine zu essen, Mädel?“

„Es reicht gerade so, Oma,“ antwortete Mutter.

Oma zog den Bettkasten des Canapés hervor, das zwischen Herd und Spülbecken stand. Mutter fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sie die Vorräte sah, die dort gehamstert waren. Oma fischte zwei Dosen Mischgemüse und eine Dose Fleisch heraus und drapierte sie vor Mutter auf dem Küchentisch. Dann bückte sie sich noch einmal und grapschte nach einer Stange Zigaretten. „Und die sind für deinen Mann.“

Nie wieder habe ich die Augen meiner Mutter so groß werden sehen wie damals. „Wo … wo hast du das alles her? Du hast doch nicht etwa …?“ Sie wagte nicht, die Frage voll auszusprechen.

Oma zwinkerte mit einem Auge. „Wo denkst du hin, Mädel. Frag die Lydia. Sie hat ein großes Herz.“
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Alt 19.03.2021, 16:34   #2
männlich Hans Plonka
 
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Beiträge: 855


Standard Und die Moral von der Geschicht

Lb. Ilka-Maria,

da werden bei allen Älteren die Erinnerungen aus der Kindheit wieder wach. Wie es damals war gerät langsam in Vergessenheit und ist dann kaum noch Vorstellbar. In späteren Dokumentationen habe ich dann gelesen, dass nach der sogenannten Befreiung noch ca. 12 Millionen Deutsche durch Duldung und Beihilfe der Befreier umgekommen sind. Dies geschah durch die Vertreibungen, durch Gefangenschaften, Mangelernährung und durch willkürliche zivile und auch militärische Übergriffe. Der verbliebene Rest wurde dann umerzogen. Für die Behandlung der Deutschen gab es kein Völkerrecht.

LG Hans
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Alt 19.03.2021, 16:55   #3
weiblich Ilka-Maria
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Ort: Arrival City
Beiträge: 31.089


Davon habe ich nichts mitbekommen, nur von den Flüchtlingen, die in einem Lager in derselben Straße lebten, in der ich mit meinen Eltern wohnte. Dort ging ich oft hin, um mit den Kindern zu spielen. Was das alles bedeutete, war mir damals nicht klar.

Die Familie meiner Mutter kam aus Pommern über Berlin nach Hessen und nach Niedersachsen, aber erst nach Kriegsende. Niemandem wurde Leid angetan, ein russischer Offizier sorgte dafür, solange die Familie noch auf Rügen war. Auch auf der Fahrt passierte nichts. Im Zug saßen russische Soldaten, die den kleineren Geschwistern meiner Mutter von ihrem Proviant abgaben.

Mein Vater, noch keine zwanzig Jahre alt, hatte den Russlandfeldzug überlebt und war zweieinhalt Jahre in britischer Gefangenschaft in einem Lager in Ägypen*. Er wurde fair behandelt. Allerdings war das Essen knapp, aber das war kurz nach dem Krieg in allen Ländern der Fall, die am Krieg teilgenommen hatten - ausgenommen die U.S.A. Mit dem Marshall-Plan und den Care-Paketen war das dann überstanden.

*(Den Entlassungsschein - "Certificate of Discharge" - habe ich heute noch.)
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2021, 18:53   #4
männlich Hans Plonka
 
Dabei seit: 03/2021
Ort: 59590 Geseke
Beiträge: 855


Standard Und die Moral von

Lb. Ilka-Maria,

Du warst damals sicher noch ein Baby oder noch nicht geboren. Die Sieger waren für die überlebenden Verlierer und ihre Nachkommen Befreier, was jedoch ein Ergebnis der Umerziehung war und ist. Geschichte und zum Teil auch Wissenschaft ist nicht die absolute Wahrheit sondern das was wir wissen sollen.

LG Hans
Hans Plonka ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.03.2021, 19:54   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Hans Plonka Beitrag anzeigen
Du warst damals sicher noch ein Baby oder noch nicht geboren.
Nein, war ich nicht. Ich war voll da und habe das ganze Programm mitbekommen: Trümmerhaufen, Besatzung, Flüchtlingslager, Kriegsheimkehrer, Kriegsversehrte (damals durfte man noch "Krüppel" über Menschen sagen, die Arme und Beine an den Fronten zurückgelassen hatten, womit sie noch gut bedient waren), Wiederaufbau, Gastarbeiter, 50-Stunden-Arbeitswochen (Akkord-Arbeit! Trotz § 1, die Würde des Menschen sei unantastbar) u.v.a.m. Heute würde man sagen: all inclusive.

Damals ging es noch nicht um die Wahrung von Besitzständen, was heute das einzige Thema zu sein scheint.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
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