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Alt 20.02.2021, 14:55   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Gassenengel

„Kiki, komm mal schnell her!“

Kristina kam gähnend ins Wohnzimmer. „Was ist denn jetzt schon wieder?“

„Schau runter. Da geht gerade die Post ab.“

Kristina legte ihrer Schwester die Hände auf die Schultern während sie über sie hinweg aus dem Fenster sah.

„Das ist doch der Junghans, den Mama ständig anhimmelt.“

„In Handschellen.“

„Und all die Leute. Die Neubert natürlich, die alte Tratsche.“

„Was da wohl passiert ist?“

„Frag die Neubert, die weiß alles. Die erklärt dir sogar, wie das Schwarze unter deine Fingernägel gekommen ist.“

„Genau. Du hast immer tolle Ideen, Schwesterherz.“

Wie ein Wiesel eilte Ulla davon. Wenig später sah Kristina sie auf der Straße neben der Neubert stehen, die alle Umstehenden mit Worten benagelte. Das Polizeiauto war mit dem Festgenommenen bereits abgefahren. Sanitäter raunzten die Menschen an, den Weg zu ihrem Einsatzwagen freizumachen für die Kollegen, die mit den zugedeckten Bahren aus dem Haus kamen.

Es waren drei.

„Oh mein Gott,“ murmelte Kristina., die eine Ahnung beschlich: Babette und ihre Kinder, Tommy und Freddy, vier und sechs Jahre alt. Eine ganze Familie ausgelöscht.

Kurz nachdem sich die Menschentraube aufgelöst hatte, tauchte Ulla wieder auf. „Er hat sie alle umgebracht, sagen die Leute.“

Kristina schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Dazu wäre einer wie der Junghans nie fähig.“

„Du glaubst wohl noch an Grimms Märchen?“

„Sei nicht albern. Die Leute können doch gar nichts wissen. Vielleicht hat die Babette ihre Kinder umgebracht. Und dann sich selbst.“

„Die Neubert sagt aber, der Junghans war’s. Dass er selber die Polizei angerufen und schon alles zugegeben hat.“

Kristina schnaubte abschätzig. „Die Neubert, die Neubert … die personifizierte Straßenbibel. Ihr war ja schon mal die Jungfrau Maria erschienen, da haben sogar die Tauben vor Lachen Purzelbäume in der Dachrinne geschlagen.“

„Na und? Wenn sie doch dran glaubt …“

„Darf sie ja, solange sie die Klappe hält, statt über den Junghans zu urteilen.“

„Was liegt dir eigentlich an dem Kerl? Du redest ja schon fast wie Mama über ihn.“

„Er sieht halt verdammt gut aus.“

„Ach? Und deshalb ist dieser alte Knacker sauber – oder wie?“

„Übertreib mal nicht. Papa war auch zehn Jahre älter als Mama.“

„Und hat sie sitzen lassen.“

„Immerhin hat er uns nicht abgemurkst.“

„Da haben wir ja verdammt Schwein gehabt!“

„Du bist zynisch. Hast du denn überhaupt kein Mitgefühl? Stell dir vor, der Sebastian …“

„… der Junghans …“

Kristina rollte die Augen. „Meinetwegen der Sebastian Junghans. Also stell dir vor, der hat gar nichts angestellt.“

„Hör doch auf mit dieser Klugscheißerei. Ich hab auch einiges gehört, und danach war dein Sebastian ein Gassenengel, aber in seinen vier Wänden ein Scheusal.“

„Hast du aber nie gesagt, sondern dich immer hübsch von ihm hofieren lassen und ihm schöne Augen gemacht.‘“

„Blöde Kuh!“

„Tja, liebes Kind, die Wahrheit tut weh!“

Ulla holte aus und verpasste Kristina eine so kräftige Ohrfeige, dass ihr das Blut in die Schläfen stieg und sie die Hand zum Gegenschlag hob. Doch im nächsten Augenblick ergriff sie ein stolzer Trotz. „Ich werde ihn besuchen. Er braucht jetzt jemanden.“

Ulla sah ihre Schwester wie durch dicken Nebel an. „Sag mal, drehst du jetzt völlig durch? Der Typ ist vielleicht geisteskrank, dem brauchst du nur noch den nackten Hals hinzuhalten.“

„Blödsinn! Im Knast bin ich sicher.“

„Du hast ja sämtliche Schrauben locker. Ich kann kaum glauben, dass du drei Jahre älter bist als ich.“

„Ah ja, jetzt spielst du den Joker aus, liebes Schwesterlein. Der erste Versuch ging daneben, aber dann kam das geniale Wunderkind und hat die Ehre der Familie rausgerissen. Bravo und bravissimo!“

„Blöde Kuh!“

„Hatten wir schon."

„Ach, leck mich doch …“

Ulla wandte sich ab und lief ihrer Mutter in die Arme. „Was habt ihr beiden schon wieder? Euch hat man bis auf die Straße gehört. Kann man euch nicht eine Stunde allein lassen?“

Ullas Worte überschlugen sich: „Der da drüben … also … den hat die Polizei mitgenommen. Die sind alle tot. Und die Kristina, die ist in den verliebt … Die will zu ihm in den Knast …“

Kristina hatte ihre Mutter noch nie so blass gesehen, wie in diesem Moment.
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Alt 20.02.2021, 15:13   #2
männlich Ex-Ralfchen
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Dabei seit: 10/2009
Alter: 77
Beiträge: 17.302


nicht übel. ich mag vor allem die Dialoge sehr. nehme an das wird fortgesetzt. bin echt gespannt.
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