Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 26.05.2005, 15:28   #1
mickey_blue_eyes
 
Dabei seit: 05/2005
Beiträge: 10


Standard Gleis 16a/b

Ein ganz normaler Vorgang wie ihn tagtäglich hunderte von Menschen erleben. Ich stehe am Gleis 16 a/b am Dortmunder Hauptbahnhof und warte auf meinen Zug nach Düsseldorf. Mit 10 Minuten Verspätung kommt dieser auch an und ich steige ein. Unten Klasse2, oben Klasse1. Ich entscheide mich spontan für Klasse2, weil ich tief in mir davon überzeugt bin, dass es dort menschlicher zugeht. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass mir gerade das nötige Kleingeld für das Zusatzticket fehlt, das mir das Tor zur 1. Klasse öffnen würde. Treppe runter, 2. Klasse, ein Blick nach links, drei freie Plätze auf einem Vierer. Ich setze mich auf den Platz in Fahrtrichtung am Gang. Der Typ mir schräg gegenüber sitzend macht sich ganz schön breit denke ich im ersten Moment, doch angesicht der Tatsache, dass er einen großen Koffer dabei hat, der nicht auf die geschickt konzipierte Gepäckablage über dem Fenster passt, verwerfe ich meinen ersten Gedanken, der da war ihn höflichst darauf aufmerksam zu machen, sich etwas in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken. Nun sitze ich da und der Typ mustert mich skeptisch. Im ersten Moment denke ich, ihm passt wohl nicht, dass ein Typ mit schwarzem Sakko, Armani Hose und guter Armbanduhr in der 2. Klasse sitzt. und dann noch ein Piercing im Gesicht. Das passt nicht zusammen, scheint er zu denken. Doch dann mustert er mein rechtes Bein, das über mein linkes geschlagen ist und denkt sich wohl „Der macht sich aber breit“. Verkehrte Welt!Daraufhin beschließe ich, die Augen zu schließen, damit nichts Unüberlegtes meine Lippen verlässt. Lange kann ich meine Augen allerdings nicht geschlossen halten, denn nur wenige Augenblicke nach dem Schließvorgang streifen merkwürdige Geräusche mein rechtes Ohr. Ich öffne meine Augen sofort, denn ich habe das Gefühl, ich müsste um mein Leben bangen. Eine vierköpfige Familie einer undefinierbaren Herkunft schlängelt sich an Taschen, Koffern, Füßen vorbei den Gang lang. Das erste Familienmitglied, ein alternder Herr. Er ist es, der die Geräusche erzeugt. Eine unverständliche Aneinanderreihung von Phantasiewörtern gepaart mit einem ordentlichen Schuss Atemnot. Ich wäre ihm dankbar, wenn er sein Mitteilungsbedürfnis nicht an meinem Ohr abladen würde. Das zweite Familienmitglied war, wie sich später herausstellen sollte, seine Frau. Diese war mit zwei gefüllten Plastiktüten bewaffnet. Eine H&M Tüte und eine fabrikneue Plus Tüte. Was sich in den Tüten befand, war mir zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt. Familienmitglieder Nr.3 und 4 waren ein hübsches Pärchen. Besonders die Frau war hübsch und gut angezogen. Das passte irgendwie nicht zusammen mit dem von Atemnot befallenen Wortneuschöpfer und der Plastiktütenfrau. Nachdem die Karawane weitergezogen war, werfe ich einen Blick auf meinen Freund von gegenüber. Dieser starrt immer noch mein rechtes Bein an und ich mache meine Augen wieder zu. Aus unerklärlichen Gründen mache ich nach einer Weile meine Augen wieder auf. Und was sehe ich?...Die Plastiktütenfrau hat in der Zwischenzeit ihren Gatten, der immer noch mit seinen Atemwegen und den Worten, die seine Lippen verließen zu kämpfen hatte, ebenfalls mit zwei Tüten versorgt. Jetzt wurde mir klar, was die beiden hier machen. Sie ziehen durch die Gänge des Zuges der Deutschen Bahn AG und legen sich auf die Lauer. Sie sind auf der Jagd! Auf der Jagd nach Leergut. Immer wenn einer der Fahrgäste eine Flasche leert, springen die beiden von ihren immer wieder wechselnden Plätzen auf und erbeuten die leeren Flaschen. Damit finanzieren sie wohl ihre wie bereits erwähnt durchaus ansehnliche Tochter. Diese steht übrigens mit ihrem Begleiter am Ende des Ganges und gibt den beiden Todesmutigen geheimnisvolle Zeichen sobald sich der flüssige Inhalt einer Flasche dem Ende nähert. Das passiert an einem heissen Tag, wie dem heutigen, sehr oft. Dementsprechend oft bekomme ich noch nicht gekannte Wörter ins Ohr geflüstert und kann das Jagdverhalten bei älteren Frauen und Männern studieren. Ich kann von Glück sagen, dass ich nur eine Eisteedose bei mir habe. Diese ist ja bekanntlich vom Pfand befreit. Eine halbe Stunde lang kann ich das Treiben noch beobachten, bevor der Zug in Düsseldorf einrollt. Dann steige ich aus. An Gleis 32c. Ist das etwa normal? Ich steige ein an Gleis 16a/b an einem Bahnhof mit 12 Gleisen und steige aus an Gleis 32c an einem Bahnhof mit höchstens 16 Gleisen. Wenn die Erlebnisse im Zug nicht gewesen wären, würde ich mir jetzt wahrscheinlich den Kopf über die Probleme der Deutschen Bahn zerbrechen.
mickey_blue_eyes ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Gleis 16a/b




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.