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Alt 09.05.2016, 12:35   #1
männlich Big John
 
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Standard Ein neuer Palast für den König

Ein neuer Palast für den König

Es war einmal ein großer König, der regierte ein gewaltiges Reich mit viel Weisheit und Liebe zu den Menschen. Alle lebten ohne Mangel und in beständigem Frieden.*
Eines Tages jedoch wollte das Volk einen neuen König, denn es hatte genug von diesem - nach ihrer Auffassung - zwar harmonischen, jedoch langweiligen Beisammensein. Es verlangte die Menschen nach mehr: sie wollten Vergnügen und Unterhaltung, Ausschweifungen jeglicher Art und ein Leben über ihre Verhältnisse. Und so wurde der große König abgesetzt, um Raum zu schaffen für einen neuen Herrscher, der in der Lage war, den neuen, egoistischen Bedürfnissen der Menschen zu dienen. Der alte König zog sich ins Exil zurück, jedoch versprach er seinen wenigen verbliebenen treuen Anhängern, eines Tages zurückzukehren, um sein Reich neu zu gründen.*

Jahre gingen ins Land, und bald schon wurde den Getreuen des Königs eine Schrift gesandt, in welcher der König ihnen Anweisung erteilte zum Errichten eines herrlichen Palastes, von welchem aus er in naher Zukunft erneut zu regieren gedachte. Die Anweisung enthielt sehr präzise Angaben bezüglich der Abmessungen des Gebäudes, die Anzahl der Räume, die zu verwendenden Materialien und vieles mehr. Es war sozusagen die Grundstruktur des Palastes in Worten skizziert, sodass die Erbauer auch ohne seine Präsenz wissen würden, was zu tun war. Dazu listete der König noch unter Anderem all seine Lieblingslieder auf, die seine Untergebenen ihm zu Ehren singen konnten.*
Über Jahre hinweg studierten die Eingeweihten sorgfältig die Schrift, bis sie schließlich zum einstimmigen Entschluss kamen, mit dem Bau zu beginnen. Es verlief alles nach Plan, und alle waren fleißig dabei, alles genau nach Vorgabe der Überlieferung herzustellen.*
Jedoch... was kaum einer wusste, war, dass der König höchstpersönlich den Ort seiner künftigen Regentschaft von Zeit zu Zeit besuchen kam, um seinen Getreuen beim Bau beizustehen und ihnen zu zeigen, wie im Einzelnen seine schriftlichen Anweisungen zu verstehen waren, denn er wusste um die Unzulänglichkeiten der menschlichen Sprache und die Gefahr, die von falschen Auslegungen und den daraus resultierenden Fehlentscheidungen ausgehen konnte. Und so traf er sich immer mal wieder - bevorzugt am frühen Morgen - im Wald oder auf den Feldern mit einigen seiner Anhänger und redete mit ihnen ausführlich über sein künftiges Reich.*
"Sagt mir, mein Freunde", bemerkte er bisweilen, "wo sind denn all die anderen am Bau Beteiligten? Es wäre schön, auch sie meine vertrauten Freunde nennen zu dürfen, denen ich meine Gedanken mitteilen kann."*
"Ach HERR, sie sind zu beschäftigt mit ihrer Arbeit und ihren Alltagssorgen. Sie konnten leider nicht herkommen zu euch. Aber glaubt es - sie sind sehr fleißig und darauf bedacht, dass euer Palast schon bald fertig wird!"*

Wieder am Bau angelangt, konnten es die Freunde des Königs kaum erwarten, die vernommenen Wünsche des Königs in die Tat umzusetzen. Sie waren inspiriert und voller Tatendrang!
"Was in Gottes Namen tut ihr da?!", wurden sie da prompt von den anderen Getreuen des Königs gestoppt.*
"Oh, wir verzieren heute all die Kanten und Ecken mit Schmetterlingsfiguren und Zierpflanzen. Der König liebt nämlich die Natur und Farben!"*
"Davon ist in der Schrift nichts zu finden! Wir finden weder etwas über Schmetterlinge noch über bunte Blumen. Nehmt diese Dinge wieder ab, oder ihr handelt gegen den Willen des Königs! Alles was wir mit Sicherheit vom König haben, sind diese schriftlichen Anweisungen, deshalb bleiben wir bei dem, was hier steht. Denn dem ist NICHTS hinzuzufügen!"*
So wurden unter Anderem auch die Versuche der Königsfreunde unterbunden, in einem Raum eine Musikgruppe einzurichten, die neue Lieder für den König schreiben und produzieren sollte, denn nach jedem hoheitlichen Treffen waren die Königsfreunde tief inspiriert und voller neuer künstlerischer Energie. Auch farbenfrohe Teppiche, Fensterschmuck, allerlei Lampen und Leuchter, schlichtweg alles, was die Schriftgelehrten nicht im Text des Königs finden konnten, wurde strikt verwehrt. Es gab tausende solcher Kleinig- und Großigkeiten, über die endlos lang debattiert und gestritten wurde.*
Schließlich wandten sich die Königs-Freunde frustriert von den Schrift-Freunden ab und begannen ihrerseits, einen neuen Palast zu bauen. Sobald die Grundfestung stand, luden sie den König ein, um seine Vorstellungen und Gedanken zu hören. Dann wurde alsbald geschmückt, verziert, bemalt und aufgebrezelt, dass es eine wahre Freude war zuzusehen! Der König und seine Freunde hatten mittlerweile so viel Zeit miteinander verbracht, dass sich ihre Vorstellungen und Ideen immer mehr anglichen. Sie waren am Ende ein Herz und eine Seele, und so wurde der Bau in all seiner Pracht tatsächlich endlich fertiggestellt! Dieser war nun sogar behindertengerecht - Auf mündliche Anweisung des Königs wurden nämlich alle Treppen im Palast (die laut Königsschrift eigentlich Gesetz waren) eingerissen und durch großzügige Rampen ersetzt. Von diesen Rampen stand in der Schrift des Königs zwar nichts, denn damals gab es noch keine Rollstühle, in denen körperlich Behinderte hätten fahren können, doch die Königsfreunde gehorchten sehr gerne der neuen Anweisung des Königs. Auf diese Weise wurden noch viele kleine Veränderungen vorgenommen, bis der König schließlich zufrieden war und sich sehr darauf freute, seinen Thron endlich zu besteigen.*

Der Palast der Schriftgelehrten ragte direkt gegenüber in die Höhe. Es war ein graues, kalt wirkendes Gebäude, in welchem die Erbauer in ritueller Gewohnheit ihre Lieder sangen, wahllos aus der Schrift lasen und sehnsüchtig darauf warteten, dass der große König endlich wiederkäme, um in ihren Palast einzuziehen. Interessant war: Einige von ihnen konnten in ihrem tiefsten Innern nicht leugnen, wie leer, kalt und uninspiriert ihr Werk geworden war. Und so begannen sie nach und nach - oftmals unbewusst - dieses fehlende Etwas auszufüllen mit ihren eigenen Vorstellungen und den ihnen anhaftenden Gesetzlichkeiten und Traditionen. So wurde ihr Tun und Trachten schon bald ein ominöses Gemisch aus den Anordnungen des Königs und den eigenen Ritualen und Ideen. Doch für jene Untergruppe der Schrift-Freunde war es nun Ein und Dasselbe.*
Plötzlich merkten sie alle, dass nebenan eine große Feier stattfand - es wurde gespielt, gesungen, getanzt und musiziert. Als sie sahen, dass dort im anderen Palast ihr lang erwarteter König seinen Thron bestiegen hatte, liefen sie hinüber und fingen an zu klagen:*
"Oh großer König, wollt ihr nicht in den Palast einziehen, den wir für euch erbaut haben?? Wir haben uns Wort für Wort an eure Überlieferung gehalten und singen seit Jahren nur eure Lieblingslieder, um euren Empfang zu üben! Kommt doch herüber und besteigt euren wahren Thron!"*
Da nahm der König eine der Schriften, ging hinüber zum anderen Palast, hinein in den großen Thronsaal und schließlich die kahlen Stufen hinauf zum Thronsitz. Dort drehte er sich zu all den erwartungsvoll dreinblickenden Gelehrten um, hob die Schrift hoch und sagte:*
"Hier habt ihr euren König! Ihr lasst euch schon die ganze Zeit von ihm regieren - ihr braucht mich nicht!"*
"Aber Herr, wir lieben euch doch! All das haben wir nur für euch getan und um euretwillen befolgt!"*
"Nein - ihr habt es für euch selber getan, um euch an eurer eigenen Gerechtigkeit zu ergötzen und euch mit eurer verbissenen Gesetzlichkeit erhaben, überlegen und sicher zu fühlen. Ihr liebt das Gesetz, doch nicht mich. Und ihr kennt nur dieses Gesetz, doch mich kennt ihr nicht! So seid auch ihr mir fremd, wie ich euch fremd bin."

Mit diesen Worten legte er ihnen die Schrift auf den Thron und ging wieder hinüber, um mit seinen Freunden sein Friedensreich zu errichten.*
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Stichworte
gesetz, könig, palast



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