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Alt 08.10.2007, 11:59   #1
Amouroes
 
Dabei seit: 02/2006
Beiträge: 10


Standard Ahasveros Heimkehr

Ahasveros Heimkehr

"Und er selbst trug sein Kreuz
und ging hinaus nach der Stätte,
genannt Schädelstätte, die auf
hebräisch Golgotha heißt, wo sie
ihn kreuzigten."
(Joh 19, 12-17)

Um 7.30h landete sein Flugzeug auf der Landebahn Nummer 14 des Weizmann-Flughafen in Jerusalem. Planmäßige Ankunftszeit 7.15h. Die Passagiere erhoben sich und drängten zum Ausgang, an dem sich das Flugpersonal aufgereiht hatte und jedem Fluggast ein freundliches "Lehtra’ot" mit auf dem Weg gaben. Ahasvar wartete bis auch der letzte Passagier hinter der kleinen Eingangsluge verschwunden war. Erst dann erhob er sich gemächlich, knüllte ein kleines Informationsblättchen zusammen und warf es gekonnt auf seinen Nebensitz. Am Ausgang wurde auch er mit einem freundlichen " Lehtra’ot " verabschiedet. Es fiel ihm erst jetzt auf wie hübsch jene eine Stewardess doch war. Wie sehr sie seiner ersten Frau Rahel glich. Sie hielt ihm lächelnd ein neues Informationsblatt entgegen. Er griff danach. Seine Finger berührten für einen Moment ihre Hand. Dann betrat er israelischen Boden.

Die Sicherheitskontrollen waren weitaus weniger streng als er befürchtet hatte. Sie hatten nicht annähernd Amerikanischen Standart. Er musste sich nicht einmal seine Schuhe ausziehen oder seinen Gürtel abschnallen. Zu Beginn hatte er sich darüber noch ein wenig verwundert, dann wurde ihm allerdings klar, dass es wohl selten vorkam, dass ein palästinensischer Selbstmordattentäter mit einer Maschine aus Europa einflog. Auch sein gefälschter Reisepass, der ihn als Mitglied der jüdisch-orthodoxen Kirche auswies, wurde anstandslos angenommen. Ahasvar atmete auf. Er hatte sich ganz umsonst Sorgen gemacht.

Gegen 12.30h schloss er sich einer christlichen Reisegruppe an. Jerusalem hatte sich seit seinem letzten Besuch doch sehr verändert und es schien ihm zu mühsam sich alleine durchzuschlagen. Der Reisebus jedoch fuhr für nur 30 Schekel fast alle Sehenswürdigkeiten die er besichtigen wollte direkt an. Im Gegenzug musste er die Bekanntschaft eines dicken und ebenso geschwätzigen Getränkelieferanten aus Kavala ertragen. Innerhalb weniger Stunden besichtigte er das Grab Christi, den Palast irgendeines Patriarchen (er hatte schon lange aufgehört sich für Religion zu interessieren), die Höhle, in der sich die heilige Maria von Ägypten um ihr Seelenheil mühte und die Stätte an der eine andere Maria, Maria Magdalene, der Legende nach erschienen sein soll. Vor einem Plakat, das den schwankenden Jesus auf seinem Weg nach Golgotha abbildete blieb er stehen und ließ die Reisegruppe, die nun bereits auf dem Weg zur Klagemauer war, ohne ihn weiterziehen. Er hatte genug gesehen um seine Erinnerungen aufzufrischen.

Er betrachtete das Plakat genauer. Die dort abgebildete Person glich so überhaupt nicht dem Mann den er einst gekannt hatte. Der Jesus, der vor nun fast zweitausend Jahren, auf dem Weg seiner eigenen Kreuzigung, vor seiner Haustür haltgemacht, und ihn, Ahasvar, mit diesen erschöpften, Hilfe suchenden Augen angestarrt hatte, war ein eher untersetzter Mann mit asiatischen Gesichtzügen gewesen. Der Mann auf dem Plakat dagegen war zweifellos europäischer Abstammung. Auch trug, soweit Ahasvar sich erinnern konnte, der wahre Jesus seine Haare kurz, der damaligen Mode entsprechend. Jener Unbekannte dort oben hatte jedoch langes, braunes Haar und trug einen Dornenkranz auf seinem Kopf. Auch daran konnte Ashavar sich nicht erinnern.

Gegen 19.00h hatte er die Anhöhen der Grabkammer erreicht. Für ihn war es ein leichtes gewesen die Sicherheitsvorrichtungen unbemerkt zu umgehen. Mit fortschreitendem Alter waren seine Augen und sein Gehör immer besser geworden. Auch hatte er eine Art sechsten Sinn für Gefahren entwickelt und manchmal schien es ihm selbst ein wenig unheimlich, mit welcher Selbstverständlichkeit er den meisten Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen vermochte. Vorsichtig befühlte er die Felswand einer alten Grabkammer. Es fiel ihm schwerer als er gedacht hatte die verborgene Tür ausfindig zu machen. Die Zeit war auch hier nicht spurlos vorüber gezogen und Staub aus mehreren hundert Jahren Geschichte hatte sich zwischen die Spalten gelegt. Dennoch gelang es ihm schließlich die Gesuchte zu ertasten. Ahasvar entfernte mit einem kleinen Stock den Staub aus den Ritzen und lehnte sich gegen die losen Steine. Erst ganz sacht, dann immer stärker werdend, schließlich drückte er mit seinem gesamten Gewicht. Schon fürchtete er das es ihm niemals gelingen sollte die losen Steine nach Innen zu drücken, da gaben sie endlich ihren Widerstand auf und offenbarten ihm den Durchgang ins Innere der Grabkammer.

Ahasvar benötigte die ganze Nacht um alle sterblichen Überreste aus dem Inneren der Kammer an die frische Luft zu befördern und sie vor dem Eingang säuberlich zu einem kleinen Hügel zusammenzutragen. Er ging dabei recht sorgfältig vor, ähnlich einem Ritual. Nie trug er mehr als einen Totenkopf. Immer versuchte er sich das Aussehen des Unglücklichen in Erinnerung zu rufen. Nicht immer gelang es ihm. Hundertprozentig nur bei Rahel, seiner ersten Frau, deren Schädel er vorsichtig mit einem kleinen Seidentuch reinigte und abseits, einige Meter entfernt von dem Schädelhaufen niederlegte. Rahel, die so sehr dieser hübschen Stewardess geglichen hatte die nun irgendwo da oben, auf dem Weg in ein Ferienparadies, dicken Lieferanten aus Kavala alkoholfreie Getränke servierte. Jene Stewardess, deren Hand er noch heute Morgen berührt hatte, und die vielleicht irgendwann einmal das große Glück hatte abzustürzen und dabei ums Leben zu kommen.

Als der Morgen erwachte hatte er sein Werk vollendet. Schön säuberlich lagen die sterblichen Überreste seiner Familienangehörigen neben der Familiengruft. Verächtlich betrachtete Ahasvar sein Werk, griff nach dem obersten Schädel und schleuderte ihn hinab in Richtung der heiligen Stadt, die sich unter seinen Füßen offenbarte. Unter den Schmährufen Ahasvaros flog dieser durch die Luft, hüpfte einen kleinen Pfad entlang und zersplitterte schließlich. "Hier liegst Du gut, Vater", brüllte Ahasvar und griff nach dem nächsten Schädel, der schon bald ebenfalls durch die Luft flog und nicht weit entfernt vom Ersten zum liegen kam. Immer mehr Totenschädel flogen, hüpften und rollten, begleitet von den Rufen des Wahnsinnigen, den alten Grabhügel herunter. Den Überresten seiner Eltern folgten die seiner Frauen, mit Ausnahme dem Schädel von Rahel, dann die seiner Kinder, seiner Enkel und schließlich die der Kinder seiner Kindeskinder.

Noch stapelten sich einige hundert Totenschädel neben dem Grabhügel als Ashavar innehielt und sich auf den trockenen Boden setzte. Er hatte lange nicht mehr geschlafen und die Arbeit der vergangenen Nacht hatte ihn ein wenig erschöpft. Auch hatte ihm die Schandtat weitaus weniger Freude bereitet als er noch im Voraus gehofft hatte. Mit müden Augen griff er nach Rahel, legte sie liebevoll auf seinen Schoß und blickte mit ihr auf die Stadt seiner Kindheit herunter. Auch Jerusalem war alt geworden. Auch sie hatten die Jahrhunderte überlebt und unzählige Narben davon getragen. Sie sehnte sich, wie er, nach Ruhe und Frieden. Jerusalem, Ursprung dreier Weltreligionen und unzähliger lang vergessener Sekten. Dreimal hatte man sie niedergebrannt. Dreimal wieder aufgebaut. Die erste Zerstörung hatte er noch selber miterlebt. Ins Feuer war er damals gelaufen dem Tod dort drinnen zu begegnen. Umsonst. Römische Soldaten fanden ihn und verschleppten ihn zur Sklavenarbeit nach Galizien. Oh, wie hatte er das Römische Reich verachtet, diese mächtigste aller Riesinnen. Wie sehr hatte er ihren Untergang herbeigesehnt. Und dann als sie endlich stürzte, riss sie ihn doch nicht mit in ihr Verderben. Andere Nationen stiegen aus ihren Gliedmaßen hervor und versanken wieder. Von Felsen hatte er sich gestürzt, Gift zu sich genommen, tausend Male hatte er im Sterben gelegen, freiwillig, unfreiwillig und dennoch kannte der Todesengel keine Gnade mit ihm. Einst hatte er sich sogar den wütenden Horden der Völkerwanderung entgegengestellt. Doch deren Wurfspieße und Pfeile konnten ihm genauso wenig anhaben wie in späteren Jahren die gesamte moderne Kriegsmaschinerie des Ersten und Zweiten Weltkrieges.

Ahasvar erhob sich und lauschte. Es war 7.30h. In seinen Händen hielt er Rahel. Noch war nichts zu hören außer den Stimmen der Vögel und seinem eigenen schweren Atmen. Er wusste, bald würden sie kommen, ihn der Grabschändung bezichtigen und festnehmen. Er hatte keine Angst vor dem Gefängnis. Auch nicht vor den Roben der Richter. Er kannte sie nur zu gut, oft genug war er vor sie gezerrt worden, oft genug war er ihrer Willkür ausgeliefert gewesen. Und dennoch, vor einem jüdischen Richter hatte er sich noch nie verantworten müssen. Für ihn war das sozusagen eine Weltpremiere. Bei diesem Gedanken musste Ahasveros kichern.
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