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Alt 17.09.2007, 12:51   #1
Middel
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 28


Standard Angstlos

„Nachdem er die Angst erfuhr, hatte er nurmehr Angst vor der Angst.“ (Hans Arndt)

Es gibt Menschen, die haben Flugangst. Andere können sich nicht in engen Räumen aufhalten oder Zimmern ohne Fenster. Es gibt sogenannte phobische Ängste, die sich in Panik vor Menschenmengen oder öffentlichen Plätzen äußern können. Weit verbreitet sind hier auch Tierphobien, z.B. im Zusammenhang mit Spinnen, Schlangen oder Hunden. Manche Menschen fürchten sich vor Wasser, andere vor Pestiziden, es gibt unzählige Arten der Angst und dass schon seit jeher. Schließlich graute es Kain ja auch schon vor Gottes Strafe, nachdem er seinen Bruder Abel erschlagen hatte.
Nun, ich habe keine dieser genannten Ängste, aber das alleine wäre es nicht wert hier genannt zu werden. Bei mir verhält es sich völlig anders, es ist geradezu das Gegenteil von dem, was ich eben erwähnt habe. Ich kann überhaupt keine Angst spüren. Im Grunde genommen weiß ich bis heute nicht einmal was das ist: Die Angst.

Aufgefallen ist mir das zum ersten Mal mit zwölf. Wobei „aufgefallen“ schon zu sehr impliziert, dass ich es bewusst erlebt habe. Ich habe es in diesem Alter irgendwann akzeptiert, dies war ein mehr oder weniger schleichender Prozess. Wie kann man etwas wissentlich akzeptieren, das man nie vermisst hat, dessen Existenz einem gar nicht bewusst war? Bei mir äußerte es sich in ganz alltäglichen Situationen. Bei sogenannten „Mutproben“, die in diesem Alter unter uns Kindern weit verbreitet waren, war ich immer derjenige, der alles tat – und das bis zur Selbstgefährdung.
Ich war auf den höchsten Bäumen, sprang in die tiefsten Bäche, tat alles, was aufregend war und mir Anerkennung einbrachte. Das sollte sich auch später nicht ändern, aber erst einmal der Reihe nach.
Da Angst nicht der einzige Schutzmechanismus des menschlichen Körpers ist, substituierte ich diese in den darauffolgenden Jahren oftmals durch Intellekt und Scharfsinn. Wagemut ist das Eine, aber zu Wissen, dass man bei einem Zehnmetersprung auf Beton landend sein Leben lässt, eine ganz Andere.
Dessen ungeachtet entwickelte ich eine geradezu krankhafte Passion zu jeglicher Risikosportart. Ich kletterte quasi ohne Sicherung auf die höchsten Berge, tauchte in nahezu jede erreichbare Tiefe; Fallschirm-, sowie Skispringen, Triathlon und Bungeejumping gehörten ebenso zu meinen Hobbys. Ich probierte mich aus und ging an meine Grenzen, nur um festzustellen, dass es sie zwar körperlich gab, geistig jedoch nicht. In den ersten Jahren nach der Schule nahm ich jeden aufkommenden Extremsport dankbar an, jeder neue Trend wurde versucht, ich probierte dabei auch Auto-, sowie Motorradrennen, aber der Sport Mann gegen Natur blieb mein Steckenpferd.
Schon rein aus Zeitgründen war es mir irgendwann gar nicht möglich all diese Dinge zu koordinieren, aber da ich mich schnell langweilte und die Grenzen des machbaren immer sehr früh austaxierte, dauerte es nicht lang, bis mir der Spaß an einer Sache verging und ich mich mit der nächsten Sportart beschäftigte. Nebeneffekte dieser Passion waren zum Einen, dass ich einen sportlichen und durchtrainierten Körper bekam und zum Anderen blieben die Blessuren nicht aus. Glücklicherweise hatte ich nie ernsthafte Verletzungen, aber Zerrungen, Arm- und Beinbrüche, Quetschungen etc. gehörten für mich fast schon zur Normalität.
So ist es wohl auch nicht verwunderlich, dass ich meine erste Frau im Krankenhaus kennen lernte. Marlene war Ärztin und hatte mich schon des öfteren wieder zusammengeflickt. Nun ja, irgendwann bot ich ihr an dafür zu sorgen, dass gar nicht erst was passiert. Sie hatte schon öfter geflachst, dass ich einen „Aufpasser“ bräuchte. Sie wurde meine „Aufpasserin“.
Da ich sowieso ein leidenschaftlicher Sportfreak war, hatte ich diesen Aspekt sinnigerweise früh ausgenutzt und mich nach dem Sportstudium selbständig gemacht. Ich bot „Abenteuerreisen für Verrückte“ an, wie Marlene es nannte und konnte davon ganz gut leben. Aufpassen musste ich nur, dass ich bei meinen Planungen nicht zu weit ging. Denn selbst der verrückteste Extremsportler besaß ein Detail, das ich nicht kannte: Die Angst.

Die verrücktesten und abenteuerlichsten Unternehmungen machte ich also weiterhin alleine und hin und wieder mit meiner Frau. Ob es daran lag, dass sie mir gefallen wollte oder ob sie von mir mit dem Angstlos-Virus infiziert wurde, kann ich beim besten Willen nicht sagen, nur wurde auch sie immer risikobereiter und furchtloser. Wir probierten die gefährlichsten Dinge aus, machten es uns zum Hobby Rekorde zu brechen, die andere Verrückte vor uns aufgestellt hatten und anstatt mich zurückzuhalten, spornte Marlene mich an. Erst viel später erfuhr ich, dass sie zu dem Zeitpunkt unter Drogen gestanden hatte. Eine Erkenntnis, die mich fast umbrachte.
Dass ich etwas nicht hatte, was andere haben, habe ich damals nie so empfunden. Ich habe auch nie daran gedacht, abnorm oder krank zu sein. Ich empfand mich als mutig, vielleicht etwas verrückt, aber bei klarem Verstand. Und da ich mich mit anderen extremen Menschen umgab, kam mir mein zum Teil selbstzerstörerisches Verhalten nicht als solches vor. Erst als meine geliebte Ärztin, meine Ehefrau, tragisch ums Leben kam, fiel ich in ein tiefes Loch. Dieser Tag brannte sich in meine Seele, wie es Angst wohl nur schwer vermag. Wenn man keine Verlustangst spürt, trifft es einen wohl um ein vielfaches härter, wenn der geliebte Mensch urplötzlich nicht mehr da ist. Es ist, als wenn einem ein Teil des Herzens einfach herausgerissen wird, ganz plötzlich, ohne Vorwarnung.
Dieser tragische Tod ereignete sich, ironischerweise, nicht mal bei einer unserer gefährlichsten Unternehmungen. Es war eher ein Wochenendausflug für uns, bei dem Marlene ihr Leben ließ. Ich stellte mir später oft diese eine Frage: Warum gerade beim freeclimben? Freeclimbing war für uns schon lange keine aufregende Sache mehr gewesen. Vielleicht deshalb, vielleicht in Kombination mit den Drogen, die sie nahm, vielleicht weil ich nicht spüren konnte, was Marlene versuchte mit diesen Drogen zu hemmen: Die Angst.

Ich begann von diesem Tag an langsam zu erahnen, dass mir etwas fehlte, dass ich ein Defizit hatte. Mir wurde klar, dass mit mir irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Den Schmerz im Herzen und Marlenes Absturz vor Augen machte ich mich daran, mein gesamtes bisheriges Leben Revue passieren zu lassen. Sicher, ich kannte die Begriffe: Furcht, Angst, Grauen usw., setzte sie aber immer mit Feigheit gleich. Langsam kam mir in den Sinn, dass Angst mehr war, als nur die Feigheit vor einer Aufgabe. Angst musste einen Sinn haben. Es traf mich wie ein Schlag.
Ich las alle Bücher über Ängste, Phobien und verbrachte Tage und Nächte ohne Schlaf vor dem Computer, durchstreifte Foren über Foren und Blogs und Tagebücher und Lexika ... bis, ja bis mir eines Tages klar wurde, dass ich noch so viel über Angst lesen konnte, ich aber immer nur ein Fisch im Goldfischglas bliebe, der alles um ihn herum zwar sieht, aber nicht begreift. Dieser Goldfisch, ich, musste einen anderen Weg finden, um dem Phänomen Angst auf die Spur zu kommen.
Ich entschloss mich dazu, Anzeigen aufzugeben, nach Menschen zu suchen, die mir von ihrer Angst erzählen können. Im Internet, in Tageszeitungen, in Foren und über Mundpropaganda suchte ich nach Menschen, die in schlimmen Situationen Todesangst verspürt hatten und die mir davon erzählen würden. Immer in der Hoffnung, durch diese Erzählungen und Berichte mehr über sie erfahren zu können: Die Angst.


„Angst und Liebe sind unmittelbar verbunden.“
(Graham Greene)

Für mich hatte die Angst in meinen Phantasien immer etwas weibliches. Warum kann ich nicht wirklich erklären. Vielleicht ist es ganz einfach und hängt mit dem Artikel zusammen, schließlich sagt man „die“ zu ihr. Aber wahrscheinlich ist es eher so, dass ich Frauen von jeher als etwas empfunden habe, in das ich mich nicht wirklich hineinversetzen kann. Sie haben für mich etwas magisches und oftmals nicht nachvollziehbares und gerade das macht sie so faszinierend. Als ich begriff, dass es Angst war, die mir fehlte und ich versuchte mir vorzustellen wie es wäre sie zu empfinden, war es fast so, als wenn ich versuchte nicht mehr ich zu sein, sondern eine Frau.
Auf meine Annoncen meldeten sich viele Verrückte, leider verrückt in einem anderen Sinne, als ich es mir erhofft hatte. Männer und Frauen, die sich einerseits einen Spaß daraus machten, einen „Freak“ wie mich zu verarschen, andererseits Menschen, mit denen ich nichts anfangen konnte, weil sie „krank“ im Sinne von krank waren. Ich hatte vorsichtshalber ein Postfach einrichten lassen und musste diesbezüglich keinen dieser Spinner persönlich ertragen, es ärgerte mich trotzdem, weil es mich keinen Schritt weiterbrachte auf meinem Weg zu ihr: Der Angst

Als ich es dann fast schon aufgegeben hatte jemanden zu finden, der mir weiterhelfen konnte, trat SIE in mein Leben. Anastasia.
Sie war so ziemlich das Gegenteil von mir, hatte Angst vor allem und jedem und hatte lediglich in der Hoffnung auf meine Anzeige geantwortet, jemanden zu finden, der ihr die Furchtsamkeit nehmen könnte. Bei ihr lag der Grundstein ihrer Ängste weit zurück in ihrer Kindheit vergraben. Damit hatte sie mir eines voraus, sie wusste woher ihr „Benefit“ an Angst kam (Sie nannte es ironischerweise so). Genau wie Marlene nahm sie Drogen, sie bekam sie vom Arzt verschrieben, weil sie sonst „handlungsunfähig“ war, wie sie sagte. „Meine Medizin“, „Mein Lebenselexier“, Diazepam war da noch das Harmloseste.
Die ersten drei Monate unserer Bekanntschaft fanden ausschließlich über Briefverkehr statt. Sie schilderte ausführlich, was sie im Leben schon alles durchlitten hatte und wie es ihr dabei physisch und vor allem psychisch ergangen war. Im heutigen Russland aufgewachsen, als Kind missbraucht, später mit dem Onkel nach Bosnien, Kriegserlebnisse, die falschen Männer, Mord, Todschlag, selbst ein Flugzeugabsturz kam in ihrer Lebensgeschichte vor. Alles war so echt, so hautnah beschrieben, dass die Gedanken an einen Fake für mich nicht in Frage kamen. Meine Wege zum Postfach wurden zu Pilgergängen. Es war wie eine Sucht, eine süchtigmachendes Ritual. Ich verzehrte mich nach ihren Briefen und wollte mehr, immer mehr, ich wollte, nein: MUSSTE sie treffen. Ich begann mich in ihre Geschichte zu verlieben und damit, eher beiläufig, auch in sie. Da sie Russin war, gab ich ihr in meiner Phantasie einen neuen Namen: strach. Russisch für Angst.

Ich kannte das Wort Angst in nahezu allen Sprachen. Konnte es perfekt aussprechen und über seine Geschichte, also seinen Ursprung, hätte ich Seminare halten können. Nur war es weiterhin für mich nicht greifbar. Eine Worthülse ohne Inhalt, ein Bild ohne Konturen.
Anastasia hatte natürlich ein weiteres Motiv für ihre Briefe gehabt. Ich schickte ihr einen nicht zu verachtenden Betrag für ihre Schilderungen, für eine russische Einwanderin, die schon fast alles durchgemacht hatte, leicht verdientes Geld. Was mich ein wenig verwunderte waren ihre, wenn auch nicht in lupenreinem Deutsch geschriebenen, aber dennoch jederzeit verständlichen und lebhaften Erzählungen. Ich fragte sie danach und sie versicherte mir zwar arm und durchs Leben schwer gezeichnet zu sein, aber keinesfalls unintelligent, geschweige denn dumm.
Ich schämte mich fast für meine Frage, wollte sie aber dennoch unbedingt sehen. Meine Absichten ließ ich immer deutlicher in meinen Briefen durchscheinen und drohte unterschwellig mit der Einstellung meiner großzügigen Zahlungen, sollte sie sich auch weiterhin weigern sich mit mir zu treffen. Schließlich willigte sie ein.
Schon Tage vor unserem Treffen konnte ich weder schlafen noch richtig essen. Ich war aufgeregt, wie ein kleines Kind. Wir verabredeten uns in einem öffentlichen Lokal und ich war schon lange vor unserem vereinbarten Zeitpunkt dort und wartete sehnsüchtig auf sie. Ich malte in Gedanken strach in die Luft. Es dauerte eine Zeit, aber sie kam. Wir sahen uns an, sprachen erst kein Wort. Es war eine Mischung aus Verlegenheit und Neugierde. Wer würde das Eis brechen, zuerst etwas sagen? „Hattest du keine Angst, dass ich nicht komme?“ Wir mussten beide lachen. Sie war hübsch, sehr hübsch und jünger, als ich sie mir vorgestellt hatte. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, was sie alles schon erleben musste.
Wir unterhielten uns bei einem Kaffee. Es war belanglos, aber nicht uninteressant. Es kam weniger auf das an, was wir sagten, sondern was wir wussten. Wir taxierten uns und wollten mehr wissen, ohne mehr zu verlangen – vorerst.
Wir reagierten also beide zögerlich und ließen uns Zeit. Zum Teil aus den genannten Gründen, wir hatten aber beide auch ganz unterschiedliche Motive für unser reserviertes Auftreten. Bei mir war es vor allem der Wille sie nicht zu vergraulen und alles aufs Spiel zu setzen, bei ihr war es simpler, sie hatte Angst.
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Alt 17.09.2007, 12:59   #2
Middel
 
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Beiträge: 28


Standard Angstlos (2)

"Viele würden sagen 'Ich habe Angst'. Wenn sie mutig genug wären."
(Robert Heinlein)

Trotz oder gerade wegen ihrer Angst, sie war mitgekommen, mit zu mir. „Du würdest es mir doch sagen, wenn du mich umbringst?“, scherzte sie, aber ich merkte ihr an, dass sie sich von Sekunde zu Sekunde unwohler fühlte. Sie war sich sichtlich nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, mich zu begleiten. „Es ist schwer für mich nachzuvollziehen, was gerade in dir vorgeht“, erwiderte ich, „wie fühlt es sich an?“ „Erinnerst du dich, wie ich von ‚kaltem Loch’ sprach? Von ‚Loch, das dich frieren lässt, während du schwitzt’? Ich bin in kaltem Loch gerade, alles friert, lässt sich langsamer bewegen, Hände, Beine, Kopf ... alles!“ Sie schaute sich um in meinem Appartement. Fast entschuldigend sagte ich: „Ich hatte mal ein Haus, doch derzeit fehlt mir ein regelmäßiges Einkommen, so dass das erst mal flach fällt. Hab’s verkauft. Von dem Erlös lebe ich zur Zeit und ...“ „...und ich“, fiel sie mir ins Wort. Es klang gar nicht verlegen, so wie sie es sagte, eher wie eine sinnvolle Ergänzung.
Ihr Blick fiel auf meine Büchersammlung. Da standen Dutzende von Büchern und sie alle handelten von diesem einen Thema: Angst

„Hast du Mut?“ Wie mich diese Frage traf, so unscheinbar, fast belanglos, so tief fuhr sie mir durch Mark und Bein. Warum, fragte ich mich, warum hab ich mir diese Frage nie selbst gestellt? Wie kann man mutig sein, wenn man keine Angst verspürt? Für mich gab es so was wie Mut oder Tapferkeit nie, weil es nie eine Hürde gab, die es zu überwinden galt. Ein weiteres Manko offenbarte sich mir, hervorgerufen durch eine drei Worte umfassende lächerliche Frage. Ich schaute sie an, sehr lange, die Worte, die ich hätte antworten können entglitten mir dabei und ich brachte lediglich ein achselzuckendes „schwierige Frage!“ heraus. Es brachte mich in den folgenden Tagen dazu, meine Suche zu erweitern. Inwiefern gehören Angst und Mut zusammen und lässt das Fehlen von Angst den Schluss zu, dass auch Mut nicht existent ist? Ist Angst gar erst der Nährboden für Mut?

Wir wurden ein Paar. Ein ganz besonderes, in vielen Dingen merkwürdiges, Paar. Eine Beziehung wie mit Anastasia hatte ich noch mit keiner Frau zuvor gehabt. Wir lernten voneinander, nahmen und gaben. Wir stritten nie, es gab keine Grundlage dafür. Wir waren so verschieden, dass wir uns unendlich nah standen, man könnte sagen wir ergänzten uns perfekt. Beide hatten wir in unserem bisherigen Leben die perfekte Nische für unser Verhalten, unsere Gefühle, unser Leben an sich, gefunden. Hatten uns mit unserer Situation arrangiert und uns im Alltag mehr oder weniger zurechtgefunden. Nun entdeckten wir die jeweilige Gegenseite des uns bis dato verborgenen durch den Anderen. Es war aufregend und sinnlich, spannend und interessant. Es ließ uns beide nicht mehr los.
Wir spielten Spiele. Die Regeln waren einfach, aber strikt. Wir brachten uns in Situationen, die Ängste hervorbrachten. Anastasia berichtete was sie empfand und ich ging weiter, als sie es jemals wagen würde. Für sie wurde es zu einer seelischen und für mich zu einer körperlichen Zerreißprobe. Unser Lieblingsspiel hieß „gehorchen“. Mir wurden dabei die Augen verbunden und ich musste ihre Anweisungen befolgen und zwar soweit, bis sie mich entließ. Einmal verband sie mir die Augen und ließ mich Schritt für Schritt Richtung Klippe schreiten. Ich lauschte dabei ihrer zerbrechlichen und angsterfüllten Stimme und es war ein wahrer Genuss für mich, der leibhaftigen Angst so nahe kommen zu können. Ich weiß nicht ob sie mich liebte, mich zu schaden lassen kommen würde sie aber nicht. Obschon immer ein Risiko bestand. Wir spielten schließlich ohne Netz und doppeltem Boden, denn alles andere hätte unseren Ansprüchen und unserem Zweck nicht genügt. Mit verbundenen Augen freeclimben oder ohne etwas sehen zu können auf einer Balustrade balancieren sind lebensgefährliche Angelegenheiten – aber so war es ja auch gedacht. Aber es war es der Beginn unserer Beziehung und unsere Ideen wurden mit der Zeit ausgereifter, ausgefeilter und gewiefter. Wohin würde es uns am Ende treiben, unser Spiel mit der Angst?


„Mut ist, wenn man Todesangst hat, aber sich trotzdem in den Sattel schwingt.“
(John Wayne)

Die eine Frage ließ mich von nun an nicht mehr los. „Hast du Mut?“ Und ich stellte sie mir täglich auf’s Neue, ohne auch nur annähernd eine Antwort darauf zu bekommen. Hatte ich Mut? Schließlich tat ich all die Dinge, die andere Menschen nur unter großer Anstrengung und Überwältigung ihrer inneren Konflikte taten – wenn überhaupt! Aber ich tat sie ebenso gleichgültig, wie ich mir zum Überleben etwas zu Essen und Trinken gönnte. Sterben wollte ich nicht, aber Angst davor hatte ich auch nicht. Andererseits wusste ich ja nicht einmal, wie sie sich anfühlte, was sie ausmachte, wie es war, wenn man sie hatte ... Es war ein mentaler Teufelskreis, in dem ich mich befand und ich wusste ich musste eine Lösung für mein Problem finden. Ich ahnte ja nicht, dass ich schon längst eine Veränderung herbeigerufen hatte, die einer „Lösung“ sehr sehr nahe kommen würde.

Wenn ich Anastasia in „Angstsituationen“ brachte, wurde es besonders brenzlig. Zumindest anfangs. Ich dachte mir besonders gefährliche Aufgaben aus, immer in Bezug zu Umständen, die sie schon einmal erlebt hatte und die sie sehr mitgenommen hatten. Es waren psychische Drahtseilakte, die sie anfänglich bis an alle körperlichen Grenzen brachten.
Doch irgendetwas hinderte mich nach und nach daran, ihr ernsthaft gefährliche Situationen aufzuzwingen, wobei zwingen ja nicht wirklich stimmte. Schließlich war dies Teil unseres Spiels. In mir drin veränderte sich schrittweise alles. Ich konnte zwar immer noch keine wirkliche Angst verspüren, sei es auch nur für jemand Anderen, aber andere Gefühle verdichteten sich so sehr und übernahmen Aufgaben, die eigentlich die Angst innehaben sollte. Einige davon waren Mitleid, Respekt und vor allem LIEBE. Ich habe es mir erst viel später eingestanden, doch was ich für Anastasia empfand war nichts anderes als Liebe. Heute ist für mich klar, dass Liebe kein Gefühl in der Bedeutung anderer Gefühle ist, sondern eher eine Ansammlung von autarken Sinnen innerhalb eines eigenen Mikrokosmos, völlig unabhängig vom restlichen Denken und Fühlen. Paulo Coelho schrieb einmal: „Wir haben den größten Teil unserer Gefühle durch Angst ersetzt.“ Ich hatte die Angst durch Liebe ersetzt.

Anastasia bemerkte irgendwann, dass ich sie schonte und stellte mich zur Rede. Im Gegensatz zu unserer ersten Begegnung war sie nun die autoritäre und selbstsichere Person und ich blieb im Vergleich zurückhaltend uns blass. Wie schnell sich alles geändert hatte. Es wurde deutlich, dass sie von unseren gemeinsamen Aktivitäten weitaus mehr profitierte, als ich – zumindest augenscheinlich. Niemand konnte ihr mehr etwas antun, das war ihr bewusst, sie hatte alles schon er- und vor allem überlebt. Sie lebte zudem ohne Medizin, ein bis Dato undenkbares Szenario für sie. Das Positive war, dass sie nun keine Angst mehr haben brauchte, da es nichts gab, was sie nicht schon in ähnlicher Art und Weise erlebt hatte. Das – zumindest aus meiner Sicht – Negative war, dass sie hart geworden war, kalt und hart. Es schien fast so als hätte sie etwas verloren, etwas, das sie ihr ganzes Leben begleitet hatte: Die Angst.

Unser Gespräch endete damit, dass wir uns stritten und sie mich verlassen wollte. Doch das konnte ich nicht zulassen, alles, nur das nicht. Ich bat sie darüber nachzudenken, es sich zu überlegen. Doch was hatte sie noch von mir, wenn ihre Grenzen die meinen weit überschritten und ich ihr nichts mehr zu bieten hatte. Nichts, außer meiner bedingungslosen Liebe. Doch, genau dieses Bedingungslose war es, was sie von mir forttrieb. Das, was jede andere Frau glücklicher gemacht hätte, als alles andere, stieß sie von mir fort. Sie wollte nicht geliebt werden und schon gar nicht bedingungslos. Sie wollte keine Gefühle mehr zulassen, wollte nicht mehr enttäuscht werden können, Angst um jemanden haben müssen. Sie wollte nicht für das gemocht werden, was sie war, weil sie selbst nicht mochte, was sie war. „Nein!“, schrie sie, „Njet!“ In diesem Moment wusste ich, dass Anastasia geworden war wie ich, mit einem Unterschied, ich hatte mich in eine andere Richtung entwickelt.

Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, habe ich sie nie wieder gesehen. Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben habe ich in diesem Moment geweint. Es fühlte sich an, als wäre ein Teil von mir gestorben, der Teil, der lebte und fühlte. Ich wusste ich würde nie mehr so etwas empfinden können und ich behielt Recht. Selbst jetzt, in hohem Alter, fehlt mir dieses Gefühl. Anastasia hatte mir geholfen den Verlust der Angst auszugleichen, um mir dann diesen Ersatz, der mir alles bedeutete, zu nehmen. Ich bin ihr nicht böse, warum auch? Ohne sie wäre ich ein anderer Mensch geworden, sinnentleert und ohne Zukunft. Sie gab mir eine Aussicht, indem sie mir zeigte, was möglich ist, wenn man Gefühle zulässt. Keine Angst verspüren zu können, bedeutet nicht den Verlust aller Gefühle hinnehmen zu müssen. Ich habe seit diesem Tag jede Sekunde meines Lebens damit verbracht, nach ihnen zu suchen. Und wenn ich sie auch niemals finden sollte, so hat die Suche alleine meinem Leben einen Sinn gegeben und dafür danke ich ihr.

„Es gibt nur eine einzige Art von die Liebe, die wirklich zählt und das ist die unerwiderte Liebe - die bleibt für immer.“
(Woody Allen)
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