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Alt 10.03.2016, 00:14   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Nach Hause

Es geschah an einem Donnerstag. Sebastian Knecht schloss abends wie gewohnt seinen Laden ab und begab sich nach Hause. Als er sich müden Schrittes die Treppenstufen zu seiner Wohnung hinaufschleppte, nahm er wahr, dass die Türen seiner Nachbarn einen Spalt breit offen standen und ihn neugierige Augen verfolgten. Da er sich nicht betroffen fühlte, wunderte er sich nicht und vermied jeden Blickkontakt. Es interessierte ihn nicht, worauf seine Nachbarn zu warten schienen, er wollte nach der Arbeit seine Ruhe haben.

Doch als er seine Wohnungstür aufschloss, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Es roch nicht! All seine Sinne, die auf das rituelle Abendessen eingestellt waren, auf den appetitanregenden Duft aus der Küche, auf die wohlverdiente Stärkung nach vielen Stunden der Plackerei und des Ärgers mit der Kundschaft, schlugen augenblicklich Alarm.

Er rief den Namen seiner Frau, doch Lisa antwortete nicht. Die Küche war kalt, der Tisch nicht gedeckt, und seine Kolter lag nicht auf dem Sofa bereit, in die er sich nach dem Abendessen zu hüllen pflegte, während Lisa ihm das Fernsehgerät einschaltete und die Fernbedienung griffbereit auf den Beistelltisch legte.

Sie war nicht da. Zum ersten Mal nach vierzig Jahren Ehe war Lisa nicht an ihrem Platz.

Einfach unvorstellbar! Etwas musste passiert sein. Aber wie herausfinden, was? Wen könnte er fragen? Sie hatten weder Geschwister noch Kinder, und die Eltern waren längst tot. Die Notarztzentralen und Krankenhäuser abklappern? Nein, die hätten ihn längst informiert. Die Nachbarn fragen? Kommt nicht in Frage, das wäre peinlich.

Weil sein Herz zu rasen begann, setzte er sich im Schlafzimmer auf sein Bett. Da fiel ihm auf, dass ein Koffer fehlte. Sie besaßen zwei Koffer, die, wenn sie nicht gebraucht wurden, auf dem Kleiderschrank gelagert wurden. Der blaue Koffer war noch da. Der braune Lederkoffer fehlte.

Er öffnete Lisas Kleiderschrank. Er war nie gut gefüllt gewesen, sie brauchte nicht viel. Deshalb sah er sofort, was fehlte: Das Hochzeitskleid, das sie wie einen Schatz hütete, und der Wintermantel, den er ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Alles andere hing noch auf den Bügeln.

Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Situation völlig verrückt sei und alles von selbst ins Lot käme, wenn er nur ein wenig wartete.

Er wartete. Aber Lisa kam nicht wieder.

Dann überwand er seinen Stolz und begann, die Nachbarn zu befragen. Ja, man habe sie gesehen, wie sie mit einem Koffer das Haus verließ und in ein Taxi stieg.

Er fahndete nach dem Taxifahrer. Dieser erinnerte sich, dass Lisa zum Bahnhof wollte.

Dann verlor Sebastian ihre Spur.

Ein halbes Jahr später legte eine alte Deckenleuchte die Stromversorgung des Hauses lahm, weil eine Lampenfassung kaputt war und der Kurzschluss bis in die Panzersicherung raste. Sebastian kaufte eine neue Leuchte, nicht ohne die Vorstellung im Kopf, dass sie auch Lisa gefallen könnte, und begab sich in den Keller, um die Bohrmaschine und den Werkzeugkasten mit den Dübeln und Haken zu holen.

Der Keller war nicht abgeschlossen.

Unter den reglosen Füßen, die auf seiner Brusthöhe in weißen Brautschuhen hingen, lag ein umgestürzter Lederkoffer. Daneben ein Zettel mit den Worten: „Ich musste gehen, aber als ich den Fahrschein lösen wollte, wusste ich nicht, wohin.“

09.03.2016
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Alt 10.03.2016, 19:34   #2
männlich Gylon
 
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Liebe Ilka-Maria,
ich schon wieder. Fängt schon mit dem Namen „Knecht“ gut an. Warum „ein halbes Jahr später“ den Zeitraum würde ich kürzer wählen. Da hängt ja nur noch ein Gerippe mit Brautschuhen. Klasse!

Liebe Grüße Gylon
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Alt 10.03.2016, 19:59   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Gylon Beitrag anzeigen
Warum „ein halbes Jahr später“ den Zeitraum würde ich kürzer wählen. Da hängt ja nur noch ein Gerippe mit Brautschuhen.
Darüber hatte ich im Nachhinein auch nachgedacht. Zunächst war ich davon ausgegangen, dass die meisten Menschen nicht oft in den Keller gehen.

Deine Reaktion hat mir jetzt gezeigt, dass mir die Bedenken über den Zeitraum zu recht gekommen sind. Danke.
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Alt 10.03.2016, 20:29   #4
männlich Gylon
 
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Der Keller wird gern auch als Kartoffel, Obst, Gemüse oder Getränke Lagerraum genutzt. Es gibt natürlich auch Keller, die nie einen Menschen zu Gesicht bekommen. In einem Haus mit mehreren Parteien wäre das aber eher unwahrscheinlich und da die Gute ziemlich schnell anfangen würde zu müffeln, wäre ein nicht entdecken auszuschließen.
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Alt 11.03.2016, 12:05   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Gylon Beitrag anzeigen
In einem Haus mit mehreren Parteien wäre das aber eher unwahrscheinlich und da die Gute ziemlich schnell anfangen würde zu müffeln, wäre ein nicht entdecken auszuschließen.
Was meinst Du denn, was angemessen wäre? Zehn Tage, zwei Wochen?

Wenn ich mit meinem Keller vergleiche: Der liegt am Ende eines sehr langen Ganges, und auch noch um die Ecke herum, außerdem hat er festes Mauerwerk und eine normale Tür - also nix mit Lattenverschlag. Wenn ich dann noch bedenke, es könnte gerade ein brutaler Winter mit bis zu zwölf Grad minus herrschen (das könnte ich in die Geschichte noch einbauen), dann müsste doch ein Zeitraum von bis zu zwei Wochen plausibel sein - oder?. Ich möchte den Ehemann nun mal so lange wie möglich schmoren lassen .
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Alt 12.03.2016, 00:32   #6
männlich Gylon
 
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Liebe Ilka-Maria,
ich habe mich ein wenig belesen. Der Zeitpunkt wann eine Leiche anfängt zu verwesen und geruchsmäßig Aufmerksamkeit zu erzeugen ist von so vielen Faktoren abhängig, dass du bei entsprechender Beschreibung praktisch jeden Zeitraum wählen könntest. Wenn dein Keller einer Tiefkühltruhe entspräche, könntest du den Zeitpunkt ins nächste Millennium verlegen, sofern du die Stromversicherung sicherstellst. Du hast also die Qual der Wahl, du musst es dem Leser nur glaubhaft rüber bringen, ohne dass er ein Pathologie Studium absolvieren muss.

Liebe Grüße Gylon
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Alt 12.03.2016, 11:03   #7
weiblich Zaubersee
 
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Liebe Ilka-Maria,

zuerst dachte ich, ja, das kann jeden treffen, der nach Hause kommt, und der Partner/die Partnerin ist auf einmal nicht mehr da! Ein Schlaganfall, ein Hausunfall, ein Herzinfarkt ... was es eben so gibt. Ein Albtraum, so oder so.
Mit diesem Ende hatte ich nicht gerechnet, das ist so traurig ... ein Drama, das viel von der Verzweiflung verrät, die die Ehefrau während der Ehe wohl gelitten haben muss. Und von ihrer Unfähigkeit, sich daraus zu befreien. Und obwohl der Ehemann ja nur als Sorgender auftritt, verrät es auch eine Menge über ihn; zum Beispiel, dass er nicht erkannt hat, wie es seiner Frau geht, oder/und auch er nicht in der Lage war, die Umstände zu entwirren und aufzulösen.

Eine gute Geschichte ... eine, die den Film weiter abspult, auch nach dem Lesen.

Liebe Grüße

Mara
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Alt 12.03.2016, 12:21   #8
männlich Sylvester
 
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Hallo Ilka-Maria,

mir gefällt die Geschichte auch gut, bzw. sie macht mich betroffen.

Abgesehen von dem etwas zu langen Zeitraum, die die Verschollene im Keller modert, hat mich aber auch beschäftigt, was sie bewogen haben mochte, vierzig Jahre auszuharren, und dann erst zu fliehen, und die Frage lautet dann auch: warum ? Das kann man sich als Leser zwar zurechtphantasieren, aber der Text deutet es eigentlich nicht an.

So könnte man denken, der Grund ist, dass Sebastian seine Lisa de facto zur Hausangestellten degradiert hat. ODER dass das große Schweigen in dieses Haus eingezogen ist. ODER dass er nimmt, aber nur kritisiert, ohne je irgendwie zu danken. ODER alles zusammen.
Da würde ich mir wünschen, dass der Grund im Text noch deutlicher hervortritt.

Vielen Dank fürs Teilen.

Gruß,

Sylvester
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Alt 12.03.2016, 12:54   #9
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Sylvester Beitrag anzeigen
So könnte man denken, der Grund ist, dass Sebastian seine Lisa de facto zur Hausangestellten degradiert hat. ODER dass das große Schweigen in dieses Haus eingezogen ist. ODER dass er nimmt, aber nur kritisiert, ohne je irgendwie zu danken. ODER alles zusammen.
Da würde ich mir wünschen, dass der Grund im Text noch deutlicher hervortritt.
Das kann ich gut verstehen, Sylvester. Das Problem ist nur: Meine Geschichte berichtet aus der Perspektive des völlig ratlosen Ehemannes, der selbst auch nur Vermutungen anstellen kann. Wenn ich sie so schreiben will, dass Du als Leser eine Erklärung für den Ausbruchsversuch der Ehefrau bekommst, muss ich von einer völlig anderen Perspektive ausgehen. Ich brauche dann einen außenstehenden Beobachter als Erzähler, der mehr weiß als die Figur in der Geschichte. Ich kann das ja mal versuchen.

Danke für Dein Input.

Besten Gruß
Ilka
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Alt 15.03.2016, 01:41   #10
gummibaum
 
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Hallo Ilka,

es ist von Vorteil, dass Fragen offenbleiben. Eingrenzen würde ich die Situation so:

Das gezeigte Rollenverhalten lässt keine Entwicklung zu. Damit fehlt etwas.

Ein Bewahren und Heiligsprechen von dem, was früher mal war, verhindert aber, vorwärts, in die Zukunft zu denken. Auch, über das Problem zu sptrechen.

Zum Aufbruch nimmt die Frau nur Brautkleid und Verlobungsgeschenk mit: will also unbewusst an den Anfang dieser Beziehung, als sie vielleicht noch Perspektiven hatte, reisen.

Eine Fahrkarte dorthin gibt es natürlich nicht.

Gern gelesen.

LG g
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Alt 15.03.2016, 07:14   #11
weiblich Ilka-Maria
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Danke, gummibaum, in diesem Sinne ist die Geschichte ausbaufähig. Sie dürfte ohnehin noch ein wenig länger sein.
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Alt 16.03.2016, 21:29   #12
Thing
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Danke, gummibaum, in diesem Sinne ist die Geschichte ausbaufähig. Sie dürfte ohnehin noch ein wenig länger sein.
D finde ich nicht. Eher würde ich kürzen.
Manche Wendungen gefallen mir nicht, da in meinen Augen zu gekünstelt.
Aber dem "Klasse" schließe ich mich gern an.

Thing
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Alt 08.05.2016, 21:58   #13
männlich Schippe
 
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Hallo Ilka

Gerade gelesen hat mich unterhalten. Und danke für die Wortschatzerweiterung (Kolter).
Mfg
Schippe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.05.2016, 04:07   #14
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Schippe Beitrag anzeigen
Und danke für die Wortschatzerweiterung (Kolter).
Mfg
Leider gehen immer mehr Begriffe verloren. Inzwischen gibt es Lexika über "vergessene Wörter".

Besten Gruß
Ilka
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