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Alt 12.11.2017, 02:13   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Notruf

Erik, bester Freund,

wie so oft in den vergangenen Monaten bist du mein Retter vor der Nacht, die allen Menschen barmherzigen Schlaf schenkt, nur meinem ruhelosen Herzen nicht. Um dem Grübeln zu entrinnen, diesen immerwährend kreisenden Gedanken, die sich wie eine endlose Spirale durch mein Gehirn winden, bin ich meinem Bett entflohen und ans Fenster getreten, um Frieden im Betrachten des Mondes zu finden. Aber wie soll dieses seelenlose Gestein einem gepeinigten Gemüt Trost spenden können? So habe ich mich an meinen Schreibtisch gesetzt und das einzige getan, was mir heilsam erschien: Ich habe zu Papier und Füllhalter gegriffen, um diesen Brief zu schreiben in der Gewissheit, in dir einen Menschen zu haben, der mich kennt und versteht.

Wem sonst außer dir könnte ich mein Herz so offen ausschütten? Wer außer dir bringt die Geduld auf, meinen Kummer fortwährend über sich ergehen zu lassen, statt mich mit nutzlosen Floskeln abzuspeisen? Das Leben geht eben nicht weiter wie bisher, und die Zeit heilt keine Wunden. Jedenfalls nicht bei mir.

Während ich den Bogen fülle, höre ich Elly tief und gleichmäßig atmen. Wie kann sie so hart sein, stoisch den Alltag zu bewältigen und in den Nächten Schlaf zu finden, als ob nichts geschehen sei? Wie kann sie, die Mutter, nicht an der Unkenntnis darüber verzweifeln, was aus unserer Tochter geworden ist, während ich seit dem Tag ihres Verschwindens daran zu zerbrechen drohe? Liebt sie unser Kind weniger als ich? Oder ist sie einfach nur vernünftiger und will sich die Hoffnung nicht nehmen lassen? „Wenn du nicht aufhörst, zu spekulieren, verlierst du noch den Verstand,“ sagte sie zu mir, als ich ihr Vorwürfe machte.

Aber wie kann ich meinem Gehirn befehlen, nicht zu spekulieren? Es hat keinen Knopf zum Abschalten. Ein zwölfjähriges Kind verschwindet nicht einfach so, und selbst wenn ich mir hundert Anhaltspunkte dafür ins Gedächtnis zurückzuholen versuchte, dass sie weggelaufen sein könnte, fiele mir kein einziger ein. Die Szenarien, die meine Phantasie durchlaufen, sind grausam: Sie ist vielleicht an einem einsamen Ort verunglückt, wo sie niemand findet. Oder jemand hat sie entführt und irgendwo eingesperrt, um sie zu missbrauchen. Vielleicht ist sie tot, von einem perversen Täter ermordet.

„Hör endlich auf, dich zu zerfleischen,“ herrschte Elly mich an, als ich meine Szenarien mit ihr teilen wollte, „die Polizei tut, was sie kann.“ Das ist sechs Wochen her, und seitdem reden wir kaum noch miteinander. Sie bricht morgens früher zur Arbeit auf und kommt abends später nach Hause als sonst. Es ist offensichtlich, dass sie mir aus dem Weg geht, aber trotzdem muss ich ihr dankbar sein, dass sie die Kraft aufbringt, ihr tägliches Pensum zu absolvieren und uns mit ihrem Verdienst über Wasser zu halten, während ich mich nutzlos meinen Grübeleien überlasse.

Ich wäre ohne Zögern bereit, dem Teufel meine Seele um der Gewissheit willen zu verkaufen, was Kerstin zugestoßen ist, denn noch schlimmer als jetzt kann die Hölle für mich nicht werden.

Inzwischen ist die Nacht dem Tag gewichen, und der Himmel färbt sich allmählich von einem blassen in ein strahlendes Blau, während die feurige Morgenröte einem zarten Orange gewichen ist. Eine Amsel hat angeschlagen und bekommt muntere Antwort von einem Artgenossen. Alles da draußen wirkt so friedlich und lebensfroh, dass es mich schmerzt.

Treuer Freund, ich weiß, dass du mit deiner Antwort nicht lange auf dich warten lässt und ich bei dir verständnisvolle Worte finden werde. Aber wie lange wirst du meine Schwermut noch ertragen können, wie lange mich noch vor den schlaflosen Nächten retten?

In tiefer Dankbarkeit,

Dein Thomas


12.11.2017
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Alt 12.11.2017, 03:08   #2
männlich dr.Frankenstein
 
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Jemand der seine Tochter verloren hat oder irgendjemand anderen, der hängt sich an Momenten auf.

Wie sie immer gerufen hat Vati komm mal.
Wie sie sich über das Puppenhaus gefreut hat. (Entzückte Erinnerung... dann wieder Wut) Warum war ich nur nicht da!
(Verzweiflung) Hoffentlich ist ihr nichts passiert, sie lebt ich weiß es.
Ich will nicht das sie Tod ist... sie kann nicht tod sein, ich spüre es.
O gott wenn irgend so ein Schwein sie missbraucht!!! Wenn sie unsre Hilfe braucht. Liebling ich rette dich.
Wie sie nur ruhig schlafen kann. Ich geh kaputt. Sie muss Leben, sie muss...
Ich hab ihren Plüschteddy hier, den sollte ich immer küssen zur nacht.
Sag Teddy gut nacht...
(So in der Art... es wirkt ein bisschen kühl, nicht wie jemand der dem Wahnsinn nahe ist. "Den versteh ich besser als nicht Wahnsinnige."
dr.Frankenstein ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.11.2017, 08:43   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dr.Frankenstein Beitrag anzeigen
O gott wenn irgend so ein Schwein sie missbraucht!!! Wenn sie unsre Hilfe braucht. Liebling ich rette dich.
So wie Liam Neeson in seinen Action-Filmen? Ja, das ist ein Pfundskerl von einem Vater, auf den ist Verlass. Der weiß genau, wo er suchen muss, und faltet die Täter einfach zusammen. Schon wird alles wieder gut.

Leider sieht die Realität anders aus als im Kino. Da steht der Vater generell erst einmal mit unter Verdacht, mit dem Veschwinden des Kindes zu tun zu haben. Reine Routine der Kripo.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.11.2017, 15:58   #4
gummibaum
 
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Liebe Ilka,

der Brief ist ein bisschen zu literarisch für einen Notruf in unserer Zeit. Die Sprache ist gediegen, was der Verzweiflung die Schärfe nimmt. So habe ich die Sprache und das Psychogramm eines (differenziert empfindenden Mannes und) ohnmächtigen Vaters, jeweils gesondert genossen. Beides für sich genommen: sehr gut!

LG gummibaum
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Alt 12.11.2017, 16:29   #5
männlich Heinz
 
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Hallo Ilka-Maria,
zweifellos - gut geschrieben. Beinahe zu gut, zu überlegt und literarisch "zu" perfekt. Du versetzt Dich in eine männliche Seele, einen Vater, der schier verzweifelt ob des Verschwindens seiner Tochter. Mir fiel spontan das musikalische Vorbild ein - Rigoletto, dem die Diener des Herzogs seine Gilda entführt hatten. Inbrünstig sein Flehen: "Oh, gebt mein Kind mir wieder und der Himmel, er segn euch dafür!" Wem als Vater einmal die Tochter (zeitweise) weg genommen wurde, weiß, was sich da alles in der Seele des Bestohlenen abspielt. Es ist grauenhaft!
Ich bin mir nicht sicher, ob Du diesen Seelenzustand (Verzweiflung - Angst - Wut) durch Deinen Text "richtig" herüber bringst.
Sicher bin ich mir auch nicht, ob die Kripo a priori den Vater routinemäßig mit dem Verschwinden seiner Tochter in Verbindung bringt.
Fazit: Mein Lob überwiegt, meine Zweifel habe ich angemeldet.
Gruß,
Heinz
Heinz ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 12.11.2017, 17:26   #6
weiblich DieSilbermöwe
 
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Liebe Ilka,

ich schließe mich gummibaums Meinung an:

Zitat:
der Brief ist ein bisschen zu literarisch für einen Notruf in unserer Zeit. Die Sprache ist gediegen, was der Verzweiflung die Schärfe nimmt.
Das sehe ich genauso. Aber vielleicht spielt er ja auch in einer anderen Zeit ...

LG DieSilbermöwe
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Alt 12.11.2017, 18:45   #7
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
1,
Ich bin mir nicht sicher, ob Du diesen Seelenzustand (Verzweiflung - Angst - Wut) durch Deinen Text "richtig" herüber bringst.

2.
Sicher bin ich mir auch nicht, ob die Kripo a priori den Vater routinemäßig mit dem Verschwinden seiner Tochter in Verbindung bringt.

1.
Verzweiflung und Wut sind Gefühle, die nicht unbedingt nach außen dringen. Erst recht lassen sie sich schriftlich nicht unverfälscht weitergeben, denn das Niederschreiben setzt Reflexion voraus. Der "Notruf" ergeht ja auch nicht, weil der Fall bisher nicht gelöst worden ist, sondern weil er dem Vater seit Monaten schlaflose Nächte bereitet, aber auch, weil ihm inzwischen niemand mehr zuhört. Er braucht einen Freund, der ihm durch die Nacht hilft.

2.
Oh ja, die Kripo muss alle Personen im näheren Umkreis eines Verschwundenen bzw. Opfers überprüfen, auch die Eltern. So geschah es auch in einem Fall, über den ich gerade gelesen habe und der sich 1986 im Salzkammergut ereignete (kam zur 200. Jubiläumssendung von XY Ungelöst im Fernsehen). Der Vater des Opfers wurde, obwohl er einige Nächte schlaflos verbracht hatte, von der Kripo 12 Stunden lang verhört. Seine Gedanken, nachdem die 17jährige Tochter tot aufgefunden worden war, waren nicht Wut, sondern: "Gott sei Dank, jetzt kann sie wenigstens keiner mehr quälen."

Ich habe in den letzten beiden Jahren viel über Täter und Opfer gelesen, auch über die charakterliche Einschätzung von Tätern durch die Ermittler und Kriminalpsychologen. Jeder Mensch reagiert anders, keiner ist berechenbar, und in etlichen Fällen wurden die Täter sogar als sympathisch empfunden. Man mag sich das kaum vorstellen, aber eindimensionale Menschen gibt es nun mal nicht.

Ansonsten: Danke für das Feedback.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.11.2017, 18:49   #8
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von gummibaum Beitrag anzeigen
der Brief ist ein bisschen zu literarisch für einen Notruf in unserer Zeit.
Interessant. Kannst du das näher erklären? Wie hätte der Vater "in unserer Zeit" deiner Meinung nach geschrieben? Ich bin da etwas ratlos, denn heutzutage will jeder "cool" sein und sich den Anschein geben, mit jeder Situation locker fertig zu werden.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.11.2017, 22:40   #9
gummibaum
 
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Alter: 70
Beiträge: 10.909


Ich versuch's mal, liebe Ilka.

wie so oft in den vergangenen Monaten bist du mein Retter vor der Nacht, die allen Menschen barmherzigen Schlaf schenkt, nur meinem ruhelosen Herzen nicht.

Ich sitze wieder im Bett auf, finde keinen Schlaf, und wenn er kommt, sehe ich schreckliche Bilder. Danke, dass ich dir in solchen Momenten schreiben darf, wie schon oft in den letzten Monaten.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
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