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Alt 16.06.2020, 22:45   #1
männlich Pattie
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Dabei seit: 07/2012
Beiträge: 264


Standard Beim Psychologen

Beim Psychologen

Immer, wenn ich meinen Psychologen besuche, habe ich ein schlechtes Gefühl. Ich fühle mich schuldig. Warum kann ich meine Probleme nicht lösen? Er arbeitet doch schon so lange mit mir. Das sagt er zwar nicht, wenn ich bewusst entspannt ihm gegenüber sitze, aber er schaut mich so an.

Ich beneide ihn und wundere mich über die Form seiner Arbeit. Ich denke immer, er wird mir schon noch sagen, was ich zu tun habe, am Ende der Sitzung oder bestimmt beim nächsten Mal. Aber ihm gelingt es, das Verhältnis umzukehren. Ich bin der Geschichtenerzähler und er hört zu. In Büchern habe ich gelesen, das sei die Therapie. Aber ob das auch die Lösung bringt. Na, man wird sehen. Er blickt mich fragend an, abwartend. Er weiß, was in mir vorgeht oder Tut er nur so?

Ich überlege, was könnte ich noch erzählen, damit es ihm nicht langweilig wird? Mir fällt ein Märchen ein. Er liebt Märchen über alles. Er setzt sich bequem zurecht in seinem Ledersessel. Ich kann beginnen.

Am Golf von Oman wirft ein Fischer seine Netze am Strand aus und nach vieler Mühe und vielen vergeblichen Versuchen findet er eine kleine, ganz gewöhnliche Flasche, die sich in den Maschen verfangen hat. Sie hat kein Siegel Salomos. Schon wieder kein Flaschengeist. Es ist eine Weinflasche, Chateau Neuf du Pape, Jahrgang 1973. „Oh, ein guter Jahrgang,“ denkt der kleine Fischer, „den Wein hat mir Gott gesandt, damit ich einen Tag lang im Paradies bin.“ Er schüttelt sie. Nix drin. „Mist, wieder kein Alkohol am Abend. Wieder nur Askese und Gebet.“ Da sieht er, wie sich hinter dem grünen Glas was bewegt. Schnell entkorkt er die Flasche und will sie gerade an den Mund setzen, damit der Alkohol ja nicht vorzeitig entweicht, als sich aus dem Flaschenhals ein kleiner, dicker Mönch zwängt und eine Papiertiara entfaltet. Der kleine Mönch setzt sich die Mütze auf, klettert mühselig schnaufend hinunter und küsst den Sandstrand.

Mein Psychologe blickt mich strafend an. Ich soll nicht abschweifen.

Der Mönch faltet die Papiertiara zu einem Schiffchen zusammen und wirft sie hinaus aufs Meer. Schade. Das wäre eine schöne Satire geworden. Der kleine Mönch blickt am Fischer hinauf. Sein Blick gleitet über die magere Taille und die Lumpen zum Gesicht, die dünnen grauen Haare ums Kinn und die rote Nase und er weiß Bescheid. Bei dem ist nichts zu holen, das ist ein Säufer.

Ich merke, dass ich, wenn ich nicht aufpasse, in eine andere Geschichte gerate. Mein Psychologe hat die Augen geschlossen und macht den Eindruck als schlafe er. Aber ich weiß, dass er nur auf einen Fehler, einen Widerspruch von mir lauert, um mir vorzuwerfen, ich hätte hier Brüche im Bewusstseinsprozess.

Der kleine Mönch in der braunen Kutte der Cordeliers reckt sich und die Tonsur glänzt frisch rasiert in der grellen Sonne und lispelt hinauf:

„Ich danke dir, dass du mich befreit hast. Vor genau siebenundzwanzig Jahren hat mich die römische Mafia in diese Flasche verbannt, als ich auf Pilgerfahrt in Rom weilte und in den Tiber geworfen.“

Der Fischer versteht nur Kamelmarkt, er kennt diese Orte und Leute nicht.

„Seitdem treibe ich in dieser Flasche auf den Weltmeeren herum. Ich bin nur ein kleiner Mönch, aber ich kann dir einen Wunsch erfüllen, wenn es in meiner Macht steht. Aber ich bin nicht sehr mächtig.“

Der Fischer kennt den Witz schon, den hat ihm der Nachbar schon vor Jahren erzählt. Darum fragt er nicht, ob ihm der Mönch eine Brücke über das Rote Meer bauen könne und auch nicht, dass ihm der Mönch die Frauen verstehen lehren möge. Er hat auch gar keine Frau. Aber er hat sich schon immer eine Nixe gewünscht. Er hat sie in der Ferne auf dem Meer miteinander spielen sehen mit ihren goldenen Haaren und den schuppigen Körpern, in denen sich das Meer in türkisenen Reflexen einwob.

Ob er schläft?

Der Mönch sieht den Fischer unsicher an, als der ganz bestimmt sagt:

„Bitte gib mir heute, wenn ich die Netze auswerfe, zum Fang eine Nixe.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gelingt. Bei der Abtreibungsgeschichte damals ist mir auch alles daneben gegangen. Aber bitte, wenn du nichts anderes willst, probier ich´s mal.

Umständlich stellt er sich ans Ufer, streckt segnend die Hände aus in Richtung Nixen und ruft laut:

„ Urbi et orbi.“

Der Fischer blickt erstaunt zu ihm hin:

„Bist du dir sicher, dass das der richtige Spruch war?“

Der Mönch wird ganz unsicher und fahrig:

„Meinst Du wirklich?“ –

„Na gut. Dann probier ich´s eben noch mal.“

Und er ruft laut:

„Pax vobiscum.“

Ich denke mir, dass die Geschichte glaubhafter gewesen wäre, wenn ich statt des Mönches den Papst in die Flasche gesteckt hätte. Aber mein Psychologe glaubt mir diese Übertreibungen nicht.

Der Mönch dreht sich zum Fischer um und zum Fischer gewandt:

„Also, jetzt müsst´s geklappt haben. Heute Abend wirst du einen großen Fang tun, mein Sohn.“, sagt er und verschwindet Richtung Schatt-el- Arab.

Als der Fischer am Abend voll Erwartung das Netz auswirft, findet er darin zwei wunderschöne Nixen und er verflucht den Mönch.

Die Stunde ist zu Ende. Für die nächste Sitzung, sagt mein Psychologie, soll ich einmal darüber nachdenken, was das Märchen für mich bedeutet. Ich werde wieder in das marokkanische Restaurant an der Ecke essen gehen und ein Pfeifchen anzünden.
Pattie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.06.2020, 15:25   #2
männlich Ex-Ralfchen
abgemeldet
 
Dabei seit: 10/2009
Alter: 77
Beiträge: 17.302


servus -

interessant und amüsant- dabei erinnere ich mich an meinen schizopeuten, der sich in den letzten Doppelstunden eine stunde lang von mir therapieren liess, bis es mir zuviel wurde.
Ex-Ralfchen ist offline   Mit Zitat antworten
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