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Alt 01.05.2015, 12:03   #1
Hans Werner
 
Dabei seit: 03/2008
Beiträge: 84


Standard Enrico im Jenseits

Enrico im Jenseits

Erzählung von
Hans Werner

Nachdem der Giftcocktail der Sterbehilfefabrik Dignitas in ihm ausgewütet hatte, war er plötzlich tot. Das war nun für ihn ein eigenartiger Zustand, den er seit vielen Jahren mit Spannung und Neugier erwartet hatte. Wie würde es wohl sein, wenn das Herz aufgehört hat zu schlagen und alle Gehirnfunktionen abgebrochen sind? Würde er dann noch das Gefühl haben zu existieren, würde er in seinem eigenen Selbst noch ein Zentrum des Denkens und Fühlens besitzen. Würde er unter Schuldgefühlen leiden, Freude oder Glück empfinden, würde er noch zur Liebe fähig sein? Solche Gedanken hatten Enrico oft beschäftig, und die Antworten, welche die Religion ihm gegeben hatte, waren ihm zu unscharf und unbefriedigend gewesen. Auf diese Weise entwickelte er zur Religion eine eher gleichgültige Einstellung. Seine vielen Zweifel taten ein Übriges und verwässerten nach und nach, was an Kinderglauben noch in ihm vorhanden war. Aber trotz dieser allgemeinen religiösen Indifferenz war in ihm immer noch die Überzeugung lebendig, dass es nach dem Sterben irgendetwas geben müsse.
Bei seinem eigenen Sterben fühlte er nun ganz genau den entscheidenden Moment des Übergangs vom Leben zum Tod. Zuvor hatte sich sein Körper gegen das Gift aufgebäumt und gebieterisch verlangt, sein Leben fortzusetzen. Als aber dieser Kampf entschieden war, war ihm plötzlich, als ob er wie auf einem Wolkennebel schweben würde, irgendeinem fernen Ziel entgegen, das sich am Horizont seines Blickfeldes als weiße Lichtmasse abzeichnete. War das nun Gott, war hier die Heimat seiner Seele? Im Augenblick des Schwebens fühlte er nur eine unbezwingliche Sehnsucht, sich diesem weißen Licht immer mehr zu nähern.
Bei dieser Flugbewegung schien ihm, als seien die Gesetze von Raum und Zeit aufgehoben. Irgendwie war er überall zugleich und fühlte doch jene Bewegung zu diesem Licht hin. Dabei hatte er durchaus das deutliche Gefühl, dass er zu sich selbst immer noch Ich sagen konnte. Nachdem sein schwerer Erdenkörper von ihm abgefallen war, befand er sich in einem transparenten Gebilde, wie in einem gläsernen Astralleib, der nach allen Seiten durchlässig und durchsichtig war, aber dennoch einen klar umgrenzten Körper darstellte. In ihm zirkulierte nicht mehr das Blut seines früheren irdischen Leibs, sondern an dessen Stelle die mannigfaltigsten Gefühle, die ihn als eine Art Flüssigkeit wie ein permanenter Strom durchliefen. Unter ihnen war das beherrschende Gefühl ein in solcher Intensität ihm bislang unbekanntes Liebesbedürfnis, das ihn mit unwiderstehlicher Sogwirkung dem weißen Lichte entgegenstreben ließ. Daneben gab es in ihm aber auch Schuldgefühle, weil er mit einer übergenauen Deutlichkeit alle Versäumnisse seines wirklichen Lebens erkannte und sie wie kleine schmerzende Wunden an sich spürte. Es waren nicht so sehr böse Taten, die ihn schmerzten, sondern vielmehr die vielen Unterlassungen, die verpassten Gelegenheiten, er dachte an die vielen kleinen Alltagssituationen, in denen er zum Guten hätte aktiv werden können. Das Komische war, dass solche Erinnerungen alle zugleich in ihm lebendig waren, wie in einem Film, in dem sich alle Szenen in einem Punkte konzentrieren. Daneben aber erlebte er auch Empfindungen stillen Glücks und wohltuender Zufriedenheit. Sie führten ihm jene Momente vor Augen, in denen er anderen Menschen zum Quell der Freude werden konnte. Am meisten indessen schenkten ihm die Gedanken an Claudia solche Glücksempfindungen. Die Sympathie zu diesem Menschen lebte in ihm mit ungebrochener Kraft. Es war ihm, als hätte er Claudia leibhaftig vor sich, als könnte er sie ganz eng zu sich heranziehen und mit seinem Astralkörper ganz und gar umhüllen, sodass sie seine unsichtbare Gegenwart spüren müsste. Er ahnte, dass sie von seiner übergroßen Nähe nichts wissen, sondern nur ein allgemeines, unerklärliches Wohlbehaben empfinden würde.
Wie er nun in diesem neuen Glaskörper dahinschwebte, achtete er zum ersten Mal auf seine Umwelt und machte dabei die überraschende Entdeckung, dass er sich immer noch auf der Erde befand. Er sah Straßen, Häuser, Menschen, Autos und konnte, in Sekundenschnelle von einem zum andern fliegen. Der Gedanke, bei einem anderen sein zu wollen, erfüllte sich augenblicklich, sodass er gar nicht das Gefühl hatte, eine Entfernung überwinden zu müssen. So wünschte er sich, in Claudias Nähe zu sein, und war auch schon im gleichen Moment bei ihr im Pfarrbüro. Sie saß gerade am Schreibtisch und arbeitete. Enrico konnte mühelos in ihr Bewusstsein schauen, er sah, woran sie gerade dachte. Sie war mit einer Lohnabrechnung für die Pfarrbediensteten beschäftigt. Sie rechnete Zahlen zusammen und tippte diese dann in den Computer. Ihr Geist war im Augenblick ohne jegliche Empfindung. Enrico flog zu ihr heran und wollte sich zu erkennen geben. Mit seinem Astralkörper versuchte er, Claudia zu berühren. Aber er konnte sie nirgends anfassen. Alle Berührungsversuche glitten an Claudias irdischem Leibe ab oder gingen durch sie hindurch, ohne dass sie das Mindeste davon spürte.
Mit der Zeit lernte Enrico auch seine neuen Augen zu gebrauchen. Er sah die vielen anderen Geister, die vor ihm in das Reich der Schatten eingegangen waren. Begegnete ihm ein solcher Geist, so spürte er überdeutlich das besondere Gefühl, mit dem ihm der andere Geist gerade begegnete. War da zum Beispiel Misstrauen, so spie und geiferte sein eigener Leib, und war es Liebe oder Sympathie, so überkam ihn ein friedvolles Empfinden, ein heiteres, ja vergnügtes Wohlbehagen. Allein der Gedanke an einen bestimmten verstorbenen Menschen brachte ihm den betreffenden Menschen zu sich. Keiner von ihnen war tot im eigentlichen Sinne. Alle Seelen existierten, auch die aus grauer Vorzeit. Alle waren sie da, und es war unbegreiflich, dass sie sich nicht auf die Füße traten, denn diese Abermillionen von Geisteswesen nahmen sich überhaupt keinen Platz weg. Im Gegenteil, schwebten einige Seelen zusammen vor sich hin, schien sich vor ihnen ein riesiger Korridor, ein Luftraum des Jenseits aufzutun.
Seine Gedanken zirkulierten in ihm, als wären sie alle zugleich da, und dennoch verdrängten sie sich nicht und stürzten ihn auch in kein Chaos. Obwohl sie gleichzeitig da waren, schienen sie in einem wunderbar geordneten Organismus auf- und abzuschweben. Er konnte sich ohne jegliche Mühe Menschen herbeidenken. Als er an seine Mutter dachte, schwebte sie an ihn heran, war aber im gleichen Moment so dicht bei ihm, dass er das Gefühl hatte, sie würde mit ihm in eins zerfließen. Er brauchte keinen Mund zum Sprechen, keine Zunge um Worte zu bilden. Diese waren auch gar nicht mehr nötig, denn seine Gedanken sprangen sofort ins Bewusstsein seiner Mutter. Auch hatte sie keine Augen, um Blicke zu versenden und aufleuchten zu lassen. Aber dennoch spürte er ihr Sehen, die innere Reaktion ihres Herzens. Wie sie dann ihre Gedanken zu ihm herübersandte, war ihm, als empfände er ein Übermaß von Lust, eine solche Lust, die man nur mit der irdischen sexuellen Erregung vergleichen konnte. Obwohl er natürlich keine Fortpflanzungsorgane mehr an sich trug und sein Astralkörper auch sonst keinerlei erogenen Zonen mehr aufwies, kannte er dennoch dieses Gefühl der höchsten Erregung. Und diese Erregung, wie er später merken sollte, erfüllte ihn immer dann, wenn ihm andere Seelen ihre Aufmerksamkeit zuwandten. So machte er nacheinander Bekanntschaft mit vielen verstorbenen Menschen, die er in Gedanken zu sich rief. Und auch er wurde ständig gedanklich zu anderen Wesen gerufen. Dann fühlte er immer einen heimlichen Stich, als würde er sich in einen Menschen frisch verlieben.
Bei allem hatte er überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Er kannte keine Körperbedürfnisse, weder Hunger noch Durst. Er hatte es nur noch mit den lästigen Schuldgefühlen zu tun, die ihn an irdische Versäumnisse erinnerten. Schlimm war, wenn er lebende Menschen vor sich sah, wie Claudia, oder seine früheren Vorgesetzten auf dem Rathaus, und er sich ihnen nicht mehr bemerkbar machen konnte. Wie gerne hätte er jetzt noch kleinere Missverständnisse ausgeräumt. Aber dafür gab es keine Möglichkeiten mehr. Alle Einflussnahme auf wirkliche Dinge der sichtbaren Welt um ihn herum war ihm versagt. Dafür fühlte er sich mit einer unwiderstehlichen Macht zu dem weißen Licht hingezogen, das vor ihm am Horizont aufleuchtete. Immer wieder geriet er in eine gleitende Bewegung zu diesem Lichte hin, und immer wieder meinte er, zurückzufallen. Da nahm ihn plötzlich ein Geistwesen bei der Hand und sagte ihm mit gütiger Stimme: „Hab keine Angst und sei getröstet. Du bist so, wie du bist, und das große Licht bescheint Dich mit Wohlgefallen. Höre auf, Dich abzumühen, und Du wirst ganz von selbst in dem großen Licht leben.“ Die gütige Stimme war verstummt und das Geistwesen verschwunden. Enrico aber fühlte in sich eine grenzenlose Erleichterung. Er machte sich nun keine Vorwürfe mehr, auch nicht darüber, dass er so vorschnell Hand an sich gelegt hatte. In diesem Augenblick war er schon von der Lichtmasse umgeben und spürte ein Glück, das so stark war, dass es ihn fast zerrissen hätte.
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Alt 01.05.2015, 12:45   #2
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Beiträge: 31.153


Klasse erzählt!

Über einzelne Sichtweisen könnte man mit Dir als Autor streiten, aber nicht über die Sichtweise des Protagonisten.

Was Dich inspiriert hat, liegt klar auf der Hand.

Ein wirklich wunderbarer Text mit einem formelhaften Ende: Der Mensch ist ein selbstbestimmtes Wesen.

Lieben Gruß
Ilka
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
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