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Alt 21.02.2014, 22:26   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Ein Versprechen

Während der Fahrt sprachen wir kein Wort. Ich bemerkte, wie der Taxifahrer, als er bei Rot an einer Kreuzung anhalten musste, uns nachdenklich im Rückspiegel betrachtete. Offensichtlich erlebte er nicht oft, dass seine Kunden während einer Fahrt von fast einer halben Stunde durchweg schwiegen.

Als wir am „Landhaus Hainbach“ angekommen waren, das wir uns für diesen Abend – für diesen „speziellen“ Abend - ausgesucht hatten und Rick die Taxifahrt bezahlte, hoffte ich, dass die Küche des Hotelrestaurants exzellent genug war, um meinen Appetit zu wecken und meine miese Stimmung auszugleichen. Denn nach Speis und Trank war mir wahrhaftig nicht zumute.

Wir hatten uns am Tag zuvor gegenseitig versprochen, keine Szene zu machen und uns wie „erwachsene Menschen“ zu benehmen, wie es die schlauen Ratgeber, angefangen von „Frau Maria antwortet „ bis zu „Fragen Sie Frau Brigitte“, unisono empfehlen. Um sicher zu gehen, dass wir unser Wort halten, hatten wir uns auf einen „neutralen“ Ort geeinigt, an dem wir nicht alleine waren.

Das Restaurant gefiel mir wegen seines besonderen Charakters auf den ersten Blick. Entgegen den Erwartungen, die der Name „Landhaus Hainbach“ wecken könnte – rustikale Einrichtung, an den Wänden ländliches Gerät, im schlimmsten Fall das Bild eines röhrenden Hirsches -, war der Raum klassisch-dezent eingerichtet. An den Wänden hingen großformatige Ölbilder der unterschiedlichsten Stilrichtungen, unterbrochen von kunstvollen Fotografien in schwarz-weiß oder sepia. Den Tisch, der für uns reserviert war, zierte auf dem Fensterbrett die bronzefarbene Skulptur einer knienden Frau, die sich matt im Glas spiegelte und mich an Bruni erinnerte.

Beim Durchsehen der Speisekarte schweiften meine Gedanken ab. Wie wohl könnte ich mich in diesem Augenblick fühlen, wenn wir beide, Rick und ich, nicht in einer so vertrackten Situation steckten. Weshalb waren wir in den letzten Jahren nicht auf die Idee gekommen, mal etwas anders zu machen als das Gewohnte? Wann waren wir zum letzten Mal woanders Essen gegangen als zu „Piero“ um die Ecke? Das musste in der Steinzeit gewesen sein, denn ich konnte mich nur dunkel daran erinnern. Zuletzt waren wir sogar immer am gleichen Wochentag zu unserer Stammkneipe gegangen, dienstags nach der Arbeit, denn das war der einzige Tag, der in unsere Routine passte. Was Rick betraf, gehörten die meisten Tage dem Fußball, da richtete er sich ganz nach den Fernsehterminen und dem Spielplan seines Vereins, und am Donnerstag war Skatrunde. Ich besuchte an den meisten Abenden der Woche meine Sprachkurse oder meinen Literaturzirkel. Am Wochenende waren dann Einkauf, Haushalt und die Autopflege angesagt. Alles lief „smooth and by the numbers“, wie man auf Englisch sagt.

Aber etwas war offensichtlich doch nicht rund gelaufen, denn im Getriebe knirschte es gewaltig.

Der Kellner riss mich in die Gegenwart zurück. „Haben Sie schon gewählt?“ „Nein!“ hätte ich ihn am liebsten angebrüllt. „Wie kann man denn wählen, wie kann man überhaupt ans Essen denken, wenn einem die Sprossen der Leiter, auf der man ganz oben steht, Stück für Stück abgesägt werden und über einem nichts mehr als der leere Himmel bleibt?“

Aber ich schrie nicht. Ich schluckte nur einmal hart und sagte zu Rick: „Ich kann mich nicht entscheiden, bestell du für mich.“

Rick aß mit gesundem Appetit. Ich nahm es mit einem Widerwillen zur Kenntnis, der sich in Ekel zu steigern drohte. Während ich lustlos an meinem Steak herumschnippelte, begann er, den Teller bereits halb leer, zu sprechen. „Ich habe bei der Anwältin schon mal vorgefühlt, und sie hat sich bereit erklärt, uns beide gemeinsam zu vertreten. Du brauchst also keinen eigenen Anwalt zu engagieren, das spart Kosten.“

„Wie nett,“ dachte ich.

„Wenn wir Kinder hätten, wäre das nicht gegangen. Aber bei uns liegt die Sache so klar, da gibt es keine Komplikationen. Jeder behält das, was ihm gehört, und über den Zugewinn werde ich mir nicht den Kittel zerreißen, da bekommst du natürlich, was dir zusteht.“

„Klar,“ dachte ich, „bei deinem Einkommen ist es kein Problem, dich großzügig freizukaufen.“

Ich kam mir schmutzig vor. Nicht dreckig, wie nach Gartenarbeit oder nach Waten durch Schlamm bei starkem Regen, sondern besudelt, als hätte mich ein Betrunkener angekotzt.

„Bestell mir noch ein Glas Wein.“

Er sah mich argwöhnisch an. „Bist du sicher? Du hattest schon zwei.“

„Wie gut er mich kennt,“ dachte ich und merkte, dass meine Nerven sich aufzulösen begannen wie ein zu arg strapaziertes Hanfseil

„Ich bin sicher, keine Sorge.“

Als er sich weigerte, das vierte Glas zu bestellen, gingen mir die Gäule durch.

„Ich kann meinen Wein auch selbst bestellen, dazu brauche ich dich nicht. Ich brauche dich zu gar nichts, weil du zu nichts zu gebrauchen bist. Du willst abhauen, weil ich deinen großen Wunsch nach Kindern nicht erfüllen kann und du dir eine Gebärmaschine angelacht hast, die nur scharf auf dein Vermögen ist. Aber was ist, wenn du es bist, der keine Kinder zeugen kann? Wie lange geht das schon mit euch? Ist sie bereits schwanger? Hast du den Beweis, dass der ganze Zirkus das alles hier wert ist? Wie kommt es, dass …“

„Schatz, setz‘ dich doch wieder … nicht hier … die Leute gucken schon alle ...“

„Na und? Sollen sie doch gucken! Und sie sollen es auch alle hören: Für das Feld, das du künftig zu beackern hast, brauchst du einen starken Pflug, das lass dir gesagt sein!“

„So beruhige dich doch, Schatz. Ich habe es dir doch erklärt: Ich liebe dich, aber ich bin verrückt nach Kindern. Ich will diese Chance. Und ist es nicht auch des Herrgotts Wille, dass …

„Steck dir deinen Herrgott und deinen ‚Schatz‘ in den Arsch!“

Dann wollte ich gehen, war mir aber nicht bewusst, dass ich in der Rage das Tischtuch in der Faust hielt. Außerdem war meine Körperhaltung und das, was dann geschah, stark vom Alkohol beeinflusst. Ich beschloss, den „neutralen Ort“ zu verlassen, zog das Tischtuch samt seiner Besatzung zu Boden, was die Aufmerksamkeit im Restaurant allerdings nicht mehr zu steigern vermochte, und schritt unter Aufbietung all meiner Kräfte erhobenen Hauptes und geraden Ganges durch den Raum und zum Eingang hinaus. Draußen setzte ich mich benommen auf einem Mäuerchen nieder, das einen Vorgarten abgrenzte.

Ich hatte mein Versprechen gebrochen.

Er auch, aber eher.

Eine kurze Weile saß ich da, dann senkte sich eine Hand sachte auf meine Schulter. Ich reagierte wie angestochen. „Hau endlich ab!“

„Nein, ich bin es nicht. Ich habe ihr Gespräch mitgehört – nicht alles, aber genug. Ihnen geht es schlecht, wenn ich das bemerken darf.“

„Und was wollen Sie dagegen tun?“

„Ich könnte Sie nach Hause bringen. Oder Ihnen ein Taxi bestellen?“

„Taxi ist in Ordnung.“

Ich hielt durch, bis mich der Taxifahrer vor meiner Haustür ablieferte.

Aber beim Aufschließen schoß der Vulkan in mir hoch und entlud sich in all den Tränen, die kalt nach innen gegossen waren und mir jetzt als heiße Lava über Wangen liefen.

Und als ich die Treppen hinaufstieg zu unserer Wohnung, da wusste ich: Du, Rick, lebst nicht mehr hier. Ich war frei. Genesen von Krankheit und Schmerz.

Da erlosch der Vulkan.

Auf seiner Asche wächst neues Leben. Mein Leben.
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Alt 21.02.2014, 22:52   #2
Thing
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Paradebeispiel für den Aufbau einer Kürzestgeschichte.
Eine spannende Einleitung, die noch nichts verrät.
Gliederung par excellence:
Vermeidung des Blockes.
Raffiniertes Auf und Ab.
Abschluß wie "nach Vorschrift":
Kurz. Knapp. Außerdem nicht schlüssig vorhersehbar.

Lediglich das Gedachte hätte nicht als wörtliche Rede behandelt, sondern kursiv geschrieben.


Thing
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Alt 22.02.2014, 09:29   #3
weiblich Ilka-Maria
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Danke für die Rückmeldung, Thing.

Ich habe die Geschichte bewusst kurz gehalten, um die Leser bei Poetry nicht zu sehr zu strapazieren. Psychologisch könnte sie sehr viel tiefer ausgeleuchtet werden, ich hätte dazu eine Menge Ideen. Aber dann würde wahrscheinlich ein Roman daraus.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.02.2014, 09:56   #4
weiblich shoshin
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ich hab eine elegante dame vor mir gesehen (christane hörbiger hätte mir in der rolle gut gefallen, etwas jünger noch). eine dieser frau, bei der man immer das gefühl hat, sie trügen auch beim sex diese aufsteckfrisuren, aus denen sich nie auch nur ein einziges haarsträhnchen löst, die unter keinen umständen die kontenance verlieren können und natürlich niemals ein versprechen (sich selbst auferlegte regel) brechen.
ich hab mir gewünscht, dass sie ihm auch noch das glas rotwein über das weißes hemd schüttet, diesem aalglatten, ignoranten und infantilen lügner, der noch erkennen wird, was dieses sprichwort bedeutet: hinter jedem erfolgreichen mann, steht eine frau! aber das wär zu plakativ gewesen und außerdem hatte sie dieses glas (zuviel?) schon ausgetrunken.
wenn sie sich dann später zu hause im spiegel sieht, mit offenem haar und der verronnen schimke, findet sie sich genau SO schön. man wünscht ihr, dass sie in zukunft noch viele ihrer versprechen (regeln) brechen wird.
es war eine heikle aufgabe, dass bei dieser kürze das ganze nicht in richtung seifenoper kippte. kompliment! ich mag die feinen details, die kniende frau, ihre spiegelung, die sepiafotos zwischen den schweren öfgemälden, die beschreibung des leblosen alltags, die lava...
ich wäre neugierig, was aus der fruchtbaren asche wächst. und so schnell geht die heilung des schmerzes wohl auch nicht, auch wenn es sich im ersten zorn so anfühlen mag. das herz hat oft andere gründe, die die vernunft nicht versteht. die beiden müssen sich wohl erst geduldig annähern.
ja, ich würde gerne mehr lesen.
lg
shoshin - *miterlebt*
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Alt 23.02.2014, 10:23   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von shoshin Beitrag anzeigen
ich wäre neugierig, was aus der fruchtbaren asche wächst. und so schnell geht die heilung des schmerzes wohl auch nicht, auch wenn es sich im ersten zorn so anfühlen mag. das herz hat oft andere gründe, die die vernunft nicht versteht. die beiden müssen sich wohl erst geduldig annähern.
ja, ich würde gerne mehr lesen.
lg
shoshin - *miterlebt*
Danke für Deinen ausführlichen Kommentar.

Was aus einer gescheiterten Beziehung werden kann ... da gibt es viele Möglichkeiten. Erfahrungsgemäß kommt es aber selten vor, dass sich ein Paar nach der Trennung wieder annähert. Was passiert statt dessen? Manche Menschen bleiben allein bzw. in einer außerehelichen Beziehung. Bei Männern herrscht die Tendenz vor, mit einer neuen Partnerin nochmal zu beginnen. Dabei kann es zu einer mühevollen Suche nach der "Richtigen" kommen, die er vielleicht findet; aber es kann auch so ausgehen, dass er irgendwann Abstriche macht, nur um nicht alleine zu bleiben. Frauen sind in der Regel wählerischer und ziehen, wenn sie keinen geeigneten Partner finden, das Singledasein vor. In meinem Umfeld habe ich viele Varianten beobachten können.

Was das Beschreiben solcher Konflikte angeht: Mich interessiert mehr, was vor der Trennung geschah, vor allem, wieso die Warnzeichen, die es immer über einen langen Zeitraum gegeben haben musste, ignoriert wurden. Hätte es sie nicht gegeben, wären sie nach dem Fiasko nicht glasklar erkennbar: Wenn alles in Scherben gegangen ist, gibt es keinen Grund mehr, Rücksicht zu nehmen, Dinge unter der Decke zu halten und Streit zu vermeiden, sondern die Wahrheit darf dem Partner mit Wucht gegen den Schädel gedonnert werden.

Wenn ich also mehr über dieses Thema zu schreiben gedächte, käme es wohl zu einer Rückblende mit all den kleinen Unbehaglichkeiten des Ehealltags, welche das Paar nicht wahrhaben will, die aber unweigerlich auf das Scheitern der Beziehung zulaufen.

Dank für's Lesen und einen schönen Sonntag,
Ilka
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Alt 23.02.2014, 11:23   #6
weiblich shoshin
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zum ersten teil: "was nach einer gescheiterten ehe passiert" dazu kann ich nur sagen: das entspricht auch meinen erfahrungen. und dein blick darauf ist sehr klar (und irgendwie nachsichtig). aber wäre es nicht auch spannend diese hintergründe zu beleuchten. wer schafft es wirklich, sich wie ein phoenix aus der asche zu erheben, das ist die spannende frage? im prinzip gilt hier wohl das gleiche, wie für eine rückblende. es stellt sich immer die frage, was verdrängt man, damit man sich (scheinbar) behaglich und sicher fühlen kann. also, was ist an diesen bildern (oder gefäßen), die wir vom anderen und uns selbst erschaffen, wirklich die wahr, also im sinne von wahrhaftig? was projizieren wir an wunschbildern, erwartungen, aber auch vorurteilen, die uns den blick verstellen, auf das, was wirklich ist? ja, wär spannend. ich hab das gefühl, du denkst ohnehin sehr ernsthaft darüber nach, es zu (be)schreiben.
schönen sonntag auch dir!
shoshin - *versucht das gefäß gerade zu leeren *
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Alt 23.02.2014, 12:05   #7
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von shoshin Beitrag anzeigen
wer schafft es wirklich, sich wie ein phoenix aus der asche zu erheben, *
Ich habe das geschafft. Und war über mich selbst erstaunt.
Ich hätte es nämlich gleich haben können, ohne über den Umweg über die Ehe.
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