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Alt 22.05.2005, 20:32   #1
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253


Standard Folge mir nicht

Als sie die Tür ins Schloss fallen ließ, spürte sie, wie ein eisiger Wind ihre Wange streifte. Die ersten warmen Wassertropfen des herannahenden Sommergewitters glänzten wie winzige Diamanten in ihrem Haar. Sie schaute um sich. Die nahezu akribisch hergerichtete Vertrautheit ihrer Wohnung ließ in ihr das Gefühl aufsteigen, dass etwas nicht stimmte.
Im Bad hörte sie Wasser tropfen. Sie rief nach ihm, doch er antwortete nicht. Schon oft war er in der Badewanne eingeschlafen, doch sie wusste auch, dass er nur schlafen kann, wenn absolute Stille um ihn herum herrscht. Jede Geräuschquelle machte ihn aufmerksam. War das Geräusch unregelmäßig, versuchte er krampfhaft, einen Rhythmus zu erkennen und war es rhythmisch, kontrollierte er aufmerksam, ob dieser Rhythmus auch eingehalten wurde. Beides hatte dasselbe Ergebnis: Er blieb hellwach.

Sie rief erneut, diesmal lauter, niemand antwortete. Nur ein Blitz zuckte in der Ferne und tauchte das Zimmer für den Bruchteil einer Sekunde in monochrom-grelles Licht. Die Luft war stickig und schien zu flimmern. Oder waren das ihre Augen, die ihr mal wieder einen Streich spielten? Es erschien ihr alles so unreal, als ob sie die Szenerie überblickte und doch nicht da war. Sie wusste, dass sie aus der Puste sein musste, denn sie war gerannt um dem drohendem Regenguss zu entkommen, doch weder hörte sie sich atmen, noch fühlte sie diesen wohltuenden Schmerz in ihrer Brust, der sie spüren lassen sollte, das ihre Lungen stoßweise mit frischem Sauerstoff versorgt werden. Scheinbar gab es keine Luft in diesem Augenblick und so stand sie ruhig da und war froh, dass sie kein Verlangen nach Atem verspürte. Für ein paar Minuten schien sie ihre Augen zu schließen, obwohl sie ihre Lider keinen Millimeter bewegen konnte. In diesem Moment realisierte sie, dass ihr jemand die Augen zuhielt, nicht bösartig, mehr ein Versehen. Sie kannte dieses Gefühl, nur hatte sie schon seit über drei Jahren nicht mehr halluziniert. Jetzt jedoch stand sie ihr gegenüber, wie ein Geist realer nicht sein könnte. Sie nahm die Hand von ihren Augen und betrachtete die Erscheinung.

Sie erschrak nicht, als sie die Gestalt sofort als ihr Spiegelbild erkannte und sie erschrak auch nicht als sie feststellte, dass sie eine Mischung aus Trauer und Abwesenheit auf dem Gesicht trug. Nur die Selbstverständlichkeit, mit der sie das alles hinnahm, machte ihr Angst.

Sie betrachtete gleichgültig, wie die Frau, die sie war, sich von ihr entfernte, in die Küche ging und sich ein kleines Steakmesser aus dem Schubfach nahm. Dann ging sie völlig neben sich und mit hängenden Schultern ins Wohnzimmer. Im Augenwinkel erkannte sie, wie sich die Frau auf das Sofa setzte, kurz nachzudenken schien und sich dann vom Handgelenk aus den Unterarm aufschnitt. Geister bluten nicht, jedenfalls nicht die, die sie sah. Warum sollte sie so etwas tun? Ihr Spiegelbild sank langsam in sich zusammen und sie sah, wie das nie da gewesene Leben aus ihr entwich. Dann verblasste das Bild.

Sie konnte ihre Augen schließen und holte tief Luft. Ihre Brust schmerzte und sie hörte wieder das Wasser tropfen. Es war vorbei. Die Zeit hatte stillgestanden, sagte sie sich und wie zur Bestätigung hörte sie von draußen einen grollenden Donnerschlag, der jedem Blitz folgt.

Dann öffnete sie die Augen. Das erste, was ihr auffiel, war der Laptop. Er war an. War er das schon, als sie eingetreten war? Sie ging näher. Ein leeres Textfenster erstreckte sich über den Bildschirm und der Cursor blinkte in Erwartung einer Eingabe. Sie setzte sich auf das Sofa, auf dem sie vor ein paar Augenblicken schon einmal gesessen hatte und auf dem sie gestorben war. Sie starrte den Cursor an in der Hoffnung, er könnte ihr sagen, was da grade eben passiert war. Sie halluzinierte nicht mehr, sagte sie sich. Sie war geheilt, und das hatte sie schriftlich. Sie wollte nicht, dass alles noch einmal von vorne begann. Sie dachte kurz daran, eine Tablette zu nehmen, doch entschied sich dagegen. Der Bildschirm flimmerte und das Weiß des Textfensters begann, ihre Augen zu schmerzen.

Da erschien ein F auf dem Bildschirm.

Sie zuckte zusammen. War sie auf die Tastatur gekommen? Nein, unmöglich. Ihre Hände lagen sicher und gefaltet auf ihrem Schoß. Sie starrte ungläubig auf den Bildschirm. Wie konnte das sein? Sie hatte Angst, das F würde herausspringen und sie auslachen. Doch stattdessen erschien hinter dem F auf einmal ein O.

Ihr Herz raste. Empfing sie Botschaften aus dem Jenseits? Sie war bereits einmal für verrückt erklärt worden, jetzt hielt sie sich selbst dafür. Gespannt und ohne sich zu bewegen starrte sie auf den Cursor, der wie auf Kommando einen weitern Buchstaben preisgab, ein L.
Nach einer endlos erscheinenden Minute war die Botschaft komplett.
„FOLGE MIR NICHT“ stand auf dem Bildschirm. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und öffnete die Augen wieder, doch die Worte standen dort noch immer. Ein Blitz zuckte und wenig später folgte der dazu gehörende Donner, doch sie merkte nichts davon. Vielmehr fraß sich ein anderes Geräusch in ihr Ohr, das rhythmische Tropfen eines Wasserhahns. Sein Name schoss ihr durch den Kopf, und da fügte sich alles zusammen. Die Puzzleteile schienen so unstimmig und doch gehörten sie zu dem selbem Bild. Daher wusste sie auch, was sie erwarten würde, wenn sie jetzt das Bad betreten würde. Auch wenn es ihr nicht gefiel, so wusste sie doch, dass es unausweichlich war.

Ohne, dass sie es bemerkt hatte, war sie aufgestanden und zur Badezimmertür gelaufen. Sie öffnete sie und ließ alles auf sich wirken.
Das Blut hatte das Wasser nicht rot gefärbt, wie er es sich vorgestellt hatte, in seinen Bildern, seinen Gedichten, seinen Träumen. Viel mehr hatten sich Klumpen gebildet, die wie Schimmel auf dem Wasser schwammen. Das Messer lag auf dem Boden.

Als sie seine farblosen Lippen ein letztes Mal küsste, spürte sie, dass sie am Leben war, irgendwie. Sie drehte den Wasserhahn fest zu, das monotone Tropfen hörte auf.

„Damit du in Ruhe schlafen kannst.“ Flüsterte sie.
Riif-Sa ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.05.2005, 20:43   #2
Bluestar
 
Dabei seit: 04/2005
Ort: Chicago
Alter: 42
Beiträge: 155


Das ist mit Abstand das Beste was ich lange gelesen habe.
Und ich habe viel gelesen in letzter Zeit.
Meinen größten Respekt...das ist der absolute Hammer.
Sowas gehört veröffentlicht...nicht nur in einem kleinen Lyrikforum...nein, so richtig.

wow!

Blue
Bluestar ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.05.2005, 21:14   #3
Silent Winter
 
Dabei seit: 04/2005
Beiträge: 224


Gänsehaut o.O
Silent Winter ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.05.2005, 22:28   #4
Heartpain
 
Dabei seit: 12/2004
Beiträge: 49


... ein komisches gefühl macht sich in mir breit , unbeschreiblich bewegend und befleckend ...
Heartpain ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.05.2005, 22:35   #5
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253


was meinst du mit befleckend?
Riif-Sa ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.05.2005, 22:51   #6
Heartpain
 
Dabei seit: 12/2004
Beiträge: 49


hab mir gedacht das du das fragst , man sagt öfter das sachen die seele beflecken wenn die sachen sich dort "einbrennen" ob positiv oder negativ vermag ich hier nicht zu sagen, da ich das gefühl nicht deuten kann aber es ergreift mich.
Heartpain ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.05.2005, 10:54   #7
weiblich ravna
 
Benutzerbild von ravna
 
Dabei seit: 04/2005
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 732


haut mich glatt vom hocker. sehr gut, uneingeschränkt empfehlenswert. jetzt sitzt ein klumpen in meiner brust.
ravna ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.05.2005, 14:45   #8
Schatten
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 114


wow ravna in letzterzeit hört man ja unglaublich viel Lob von dir,
aber ich muss dir mehr als recht geben...dieser Text ist ...ist...mir fehlen einfach die Worte
(das kommt nur sehr sehr selten vor also nimm es als eins meiner größten Lob sagungen...)
Schatten
Schatten ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.05.2005, 15:00   #9
weiblich ravna
 
Benutzerbild von ravna
 
Dabei seit: 04/2005
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 732


ist das so, ja? dann sind hier wohl nur super schreiber unterwegs oder ich versuche mir bei den anderen die kommentare zu verkneifen
ravna ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.05.2005, 17:41   #10
Riif-Sa
 
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253


über ersteres wäre ich mehr erfreut
Riif-Sa ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.09.2005, 17:19   #11
Kayoko
 
Dabei seit: 09/2005
Beiträge: 40


Scheiße, so was Geiles habe ich auch schon lange nicht mehr gelesen!
Ich bin sprachlos ... einfach nur genial!
Kayoko ist offline   Mit Zitat antworten
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