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Alt 18.06.2011, 00:44   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Lärm

Mitten in der Nacht. Ich werde plötzlich wach und höre Lärm. Ein Mann – eine Frau – ein Geschrei. Der Mann ist offenbar aufgebracht und brüllt in drohendem Ton. Ich verstehe nur vereinzelt ein paar Worte: „Hure“ oder „rumgemacht?“ bzw. „dumm gelacht?“. Die Frau schreit weniger laut, aber schriller und daher noch unverständlicher. Ich versuche mir den Leitsatz meiner Primärsozialisation in Erinnerung zu rufen: „Es wird alles wieder gut!“ Ich schließe die Augen.

Doch dann wird es lauter. Es wird plastischer; Töne werden zu Wörtern, Wörter zu Begriffen. Ich öffne die Augen vorsichtig wieder und überlege kurz, ob es zu diesem Lärm wohl eine Geschichte gibt. Aber die ersten Textteile, die mir dazu einfallen beunruhigen mich. Also beschließe ich, den Lärm für sich stehen zu lassen und schließe meine Augen.

Schließlich werden die Schreie immer intensiver und öffnen mir unwillkürlich erneut die Augen. Ich denke darüber nach, die Polizei zu rufen, doch mein Handy ist nicht greifbar. Ich schließe die Augen. Es wird leiser. Ich höre nur noch dumpfes Husten, dazu eilige Schritte. Dann periodisch wiederkehrendes, ekelhaftes Plätschern auf dem Asphalt. Es gelingt mir, meine Augen geschlossen zu halten. Der Lärm verstummt. Es wird alles wieder gut. Ich schlafe wieder ein.
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Alt 19.06.2011, 17:44   #2
männlich Ex-Jack
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Da hab ich auch mal ne Zeit lang gewohnt...
Aber wie könnte das auch anders sein, Mr. Schmuddel!

Zur Geschichte:
Ich finde sie sehr eindringlich geschrieben, hervorstechend ist, dass der Protagonist/ die Protagonistin immer wieder die Augen schließt, vielleicht auch ver-schließt.
Ein wenig verunglückt finde ich dies:

Zitat:
Töne werden zu Wörtern, Wörter zu Begriffen
Die Steigerung gefällt mir grundsätzlich- aber Wörter zu Begriffen?
Ich glaube du wolltest darstellen, wie die Wahrnehmung immer klarer wird, man hört zunächst nur die Laute, die entwickeln sich dann zu verstandenen Worten und diese setzen sich dann zu- ja, zu was zusammen? Ich vermute zu Sätzen, die man kennt, bestimmte Kombinationen: Redewendungen?
(So etwas wie: "Ver++++ dich!" oder "Dann fahr doch zu deiner Mutter!" ?)

Aber die Geschichte insgesamt finde ich gelungen, es ist eine dichte Impression, eine spannende Erfahrung. Die Reduzierung auf das Wesentliche, deine Orts- und Zeitangaben und spärlichen Beschreibungen zeichnen ein Bild mit ausreichenden Konturen, die der Leser gerne füllt!
Mir hats Spaß gemacht!

Liebe Grüße
Dr. Jack
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Alt 19.06.2011, 21:12   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Mitten in der Nacht. Ich werde plötzlich wach und höre Lärm. Ein Mann – eine Frau – ein Geschrei.
O je, o je! Das scheint wohl überall auf der Welt stattzufinden. Auf diese Art wurde ich auch mal Mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. So etwas bleibt im Gedächtnis.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.06.2011, 22:30   #4
männlich Schmuddelkind
 
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Danke, Dr. Jack

Das ist mein erster Prosa-Text, den ich hochgeladen habe und ich war mir sehr unsicher, wie er zu bewerten ist. Da hab ich nicht so viel Erfahrung. Bin also ziemlich froh, dass er - und dann gleich so ausführlich - kommentiert wurde.

Ja, das mit dem "Augen schließen" sollte genau dieses "die Augen vor der Realität verschließen" verdeutlichen. Immer im Hintergrund der naive, in seiner Konsequenz verheerende Satz: "Es wird alles wieder gut!" Und für den Erzähler bewahrheitet sich das ja auch. Der Lärm verstummt, er kann einschlafen und am nächsten Morgen ist das Problem nicht mehr existent. Aber was eben nicht erzählt wird, was dem Erzähler verborgen bleibt (oder zumindest so vage bleibt, um verdrängt werden zu können): Das Schicksal der Lärmenden.

Der Mann und die Frau werden in erster Linie als Lärmquellen wahrgenommen, also nur in Bezug zum Erzähler mit seinem verständlichen Schlafbedürfnis, nicht jedoch als für sich existierende Menschen mit ihrer eigenen Geschichte. Diese will der Erzähler nämlich gar nicht wissen. Er kann sie natürlich (wie der Leser) vermuten, aber das wäre zu schmerzlich, dieses fremde Schicksal zu nah an sich heranzulassen. Also beschließt er, "den Lärm für sich stehen zu lassen".

Die Steigerung hin zum Konkreten hast du richtig wiedergegeben, aber was missfällt dir genau an "Wörter zu Begriffen"?

@Ilka-Maria: Auf diese Weise wurde ich auch schon jüngst geweckt. Das hat mich zu dem Text inspiriert. Habe das Gefühl, dass solche Probleme immer öfter öffentlich ausgetragen werden. Ich meine so etwas wie eine Verwischung der Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu erkennen. Vielleicht hat das was mit dem Internet zu tun? Wird ja immer wieder thematisiert, dass Jugendliche in sozialen Netzwerken immer mehr von sich preisgeben. Könnte ja sein, dass das auch auf das "reale" Leben abstrahlt.
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Alt 20.06.2011, 05:39   #5
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Vielleicht hat das was mit dem Internet zu tun?
Ich meine, es hat mit Alkohol und dem sozialen Hintergrund zu tun. Diese Konflikte sind so alt wie die Menschheit. Als ich das erlebte, gab es noch kein Internet - da dachten die Leute und die Arbeitgeber noch lange nicht an Computer.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.06.2011, 09:35   #6
Thing
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Solche Situationen kenn ich auch.
Ich steh dann auf, aber nach zwei schlchten Erfahrungen misch ich mich nicht mehr ein.
Bleibe stillter Beobachter und rufe notfalls die Polizei.
Ohne schlechtes Gewissen. Lieber einmal zu oft als einmal zu selten.

Aber schlafraubend ist das!
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Alt 20.06.2011, 17:55   #7
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Zitat:
Ich meine, es hat mit Alkohol und dem sozialen Hintergrund zu tun. Diese Konflikte sind so alt wie die Menschheit. Als ich das erlebte, gab es noch kein Internet
Das wahrscheinlich auch, aber ich meine (und vielleicht mag ich mich da irren), dass solche Konflikte früher eher privat gehalten wurden und jetzt überall auf den Straßen zu finden sind.

Zitat:
Bleibe stillter Beobachter und rufe notfalls die Polizei.
So mache ich das auch. Ist wohl das Vernünftigste. Oft wenn es um das Thema "Zivilcourage" geht, wird sich darüber beschwert, dass niemand eingreift. Aber sich einfach mal gegen einen robusten, vermutlich gewaltbereiten, aufgebrachten Mann zu stellen, ist womöglich dumm und nicht mutig. Das hilft wohl auch keinem. Da sollte man die Situation lieber aus sicherer Distanz beobachten und notfalls nach der Staatsmacht rufen. Trotzdem bleibt da immer ein Geschmack von Hilflosigkeit zurück und die Frage, ob man nicht hätte helfen können/sollen.
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Alt 22.06.2011, 19:52   #8
männlich Ex-Jack
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Hallo Schmuddel,

sorry, dass ich erst jetzt antworte, fatum hielt mich in seinen weisen Patschern...

Ich stoß mich deswegen daran, weil ein einzelnes Wort (in diesem Zusammenhang) ja schon ein Begriff ist, und so die Stelle des "Begriffs" leer bleibt, ich kannmir nichts mehr darunter vorstellen, bin quasi begriffstutzig und mache mir keinen Begriff davon, begreife nicht...

Liebe Grüße
Jack
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Alt 22.06.2011, 21:39   #9
Thing
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Halli Hallo, Schmuddelkind -

mit der Zivilcourage ist das so ne heikle Sache:
Vor etwa 10 Jahren war ich auf einer Demonstration gegen einen NPD-Aufmarsch.
Mein - relativ leiser - Ruf nach "wehret den Anfängen!" - wurde mit einem Stiefeltritt an meinen Knöchel schmerzhaft niedergemacht.
Seitdem ist meine Zivilcourage zaghaft geworden.
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Alt 23.06.2011, 18:59   #10
männlich Schmuddelkind
 
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Zum Begriff "Begriff": Ich verstehe unter einem Begriff ein Wort mit Bedeutung. Jetzt verstehe ich deinen Einwand so, dass du meinst, ein Wort ohne Bedeutung sei gleichzusetzen mit einem Laut oder Ton, weswegen dann tatsächlich die Steigerung, entweder von Ton zu Wort oder von Wort zu Begriff unsinnig wäre. Ich allerdings würde auch zwischen Ton/Laut und Wort derart differenzieren, dass man bei einem Wort (ohne erkennbare Bedeutung) wenigstens semantische Einheiten erkennt, etwa anhand der Betonung. Wenn man etwa eine völlig fremde Sprache hört, wird man oft nicht mal sagen können, wo das eine Wort aufhört und das andere Wort anfängt. Man hört also nur Töne. Dass solche Töne in dem Beispiel zu Wörtern werden, bedeutet, dass man nach und nach sprachliche Struktur erkennt: Handelt es sich um Fragen? Geht es um Befehle? Dass diese dann zu Begriffen werden, erfüllt die Struktur dann mit Inhalt, mit Sinn, auch dadurch dass verschiedene, für sich genommen bedeutungslose Worte in ihrem Zusammenhang erkannt werden können.

Zur Zivilcourage: Ich hatte zwar keine vergleichbaren Erfahrungen, aber ich weiß, dass Menschen gefährlich sein können. Und da muss man abwägen, bis zu welchem Grad Einmischung mutig ist und ab wann sie übermutig ist.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.06.2011, 15:44   #11
weiblich Di NuaXxSaphire
 
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Standard Schöne Geschichte, Schmuddelkind

Ich kann deine Geschichte nur loben. Gefällt mir wirklich sehr. Du hast die Angstgefühle der Person gut beschrieben, und das "Wegsehen" geschildert. Nur gefällt mir der Anfang nicht so.

Mitten in der Nacht. Ich werde plötzlich wach und höre Lärm. Ein Mann – eine Frau – ein Geschrei. Der Mann ist offenbar aufgebracht und brüllt in drohendem Ton

Du bist zu schnell in die Story gesprungen. Meiner Meinung nach nicht so offenkundig und etwas schwer verständlich.

Ansonsten DH !
Di NuaXxSaphire ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.06.2011, 00:00   #12
männlich Schmuddelkind
 
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Danke!

Ich bin mit dem Anfang auch nicht ganz zufrieden, aber das liegt nicht daran, dass ich zu schnell in die Geschichte eingestiegen wäre. Das ist nämlich gewollt: Der Leser soll ebenso plötzlich und unvermittelt in die Situation gerissen werden, wie der Erzähler, der eben noch schlief und dann urplötzlich unweigerlich Teil einer sozialen Situation wird. Was mir an meinem Anfang nicht gefällt, ist eher die Formulierung.

LG

P.S.: Ich habe deine Geschichten auch gelesen und für gut befunden, aber ich muss nochma drüber nachdenken. Werde dann bei Gelegenheit mal was dazu schreiben.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.01.2012, 02:56   #13
männlich Ayatollah
 
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Ich vermute meine Interpretation ist gewagt, aber ich sehe eine sehr, sehr dunkle Seite in diesem kurzen Text. Das Gelungene an Schmuddi's Text scheint mir, die Verbindung einer einfachen, nüchternen Sprache, mit Grauen als Inhalt, zu sein. Kann auch ne sehr schwarze Komödie sein...irgendwie. Puuh. Da gibt es viele doppelte Böden...und das macht eine gelungene Story, hier auch Vignette, aus. Respekt!
Ayatollah ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.01.2012, 03:10   #14
männlich Schmuddelkind
 
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Ja, eine Gute-Nacht-Geschichte ist es sicherlich nicht. Ist ja schon ne Weile her, dass ich es geschrieben habe. Aber ich glaube, das Erschreckende daran (wenn man es denn erschreckend findet) ist, dass man nichts Genaues weiß, aber Vieles erahnen kann, dass es hier nicht die Beschreibungen des Autors oder Erzählers sind, die einem Angst machen, sondern die eigenen Gedanken, die man in die großen Lücken hineindenkt.

Vielen Dank jedenfalls für deinen Denkanstoß!
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
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