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Alt 06.02.2018, 00:04   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Der Sohn des Jägers - Ein Märchen

Es war einmal ein Jägerssohn, der mit seinem Vater den Wald durchstreifte und mit den Jahren die Sprache der Tiere erlernte. Als er ein Jüngling war, verstand er die Rehe, die Füchse, die Marder und alle Vögel, und die Tiere und Vögel des Waldes verstanden ihn.

Als sein Vater ihn eines Tages allein im Wald umherstreifen ließ, begegnete er einem verirrten, halbverhungerten Löwen

„Ich bin hungrig und werde dich fressen.“

Der Jägerssohn erschrak, denn ein so mächtiges Tier hatte er noch nie gesehen.

„Was verlangst du, dass du mich nicht frisst?“

„Bring mir Fleisch, damit ich wieder zu Kräften komme.“

Also ging der Jägerssohn auf die Jagd und brachte dem Löwen das Fleisch der Rehe und Hirsche des Waldes.

Schon bald verstand der Jägerssohn die Sprache des Wildes nicht mehr. Die Füchse und Marder konnte er noch verstehen, und der Tratsch und Klatsch der Vögel drang weiterhin zu ihm, aber der Rest des Waldes blieb ihm angstvoll verschlossen.

Als der Löwe wieder zu Kräften gekommen war, sprach er zu dem Jägerssohn: „Ich stehe in deiner Schuld, was verlangst du von mir?“

Der Jägerssohn sann nach, aber es fiel ihm nichts ein, also hob er ratlos die Schultern und ließ sie ebenso ratlos fallen. Da kam ein Käuzchen geflogen und setzte sich an sein Ohr.

„Er soll dir helfen, den Drachen zu erschlagen, der die Königstochter entführt hat.“

„Wozu?“

„Dummkopf! Sie ist schön und erbt ein Königreich. Ihretwegen haben es schon viele versucht.“

„Dann braucht sie mich nicht mehr.“

„Dummkopf! Die haben es nicht geschafft, du kannst sie immer noch bekommen!“

„Was ist aus ihnen geworden?“

„Du stellst Fragen! Die sind natürlich alle tot. Aber zusammen mit dem Löwen kannst du es schaffen. Der Vater der Königstochter wird dir die Füße küssen, wenn du es schaffst.“

„Aber wenn ich es nicht schaffe, bin ich tot?“

Der Kauz senkte die Lider.

Nach kurzem Überlegen trat der Jägerssohn zu dem Löwen.

„Ich will einen Drachen erschlagen, und du sollst mir dabei helfen.“

„So sei es,“ sprach der Löwe und folgte ihm.

Sie wanderten drei Tage, bis sie das Hoheitsgebiet des Drachen erreicht hatten und zu dem Hort vorgedrungen waren, in dem er die Königstochter gefangen hielt. Wütend fuhr er aus dem Schlaf und stellte sich seinen Angreifern entgegen.

Seine gewaltige Größe imponierte dem Jägerssohn.

„Den packe ich nie und nimmer!“

„Lass mich nur machen,“ sagte der Löwe, „und halte dein Schwert bereit.“

Der Drache marschierte strammen Schrittes auf den Jägerssohn zu, der ängstlich zurückwich und mit dem Schwert die Luft durchfuchtelte, bis er mit dem Rücken auf ein ungeahntes Hindernis stieß. Als der Drache seinen Leib erhob und den Rachen weit öffnete, schloss der Jägerssohn die Augen.

„Bist du verrückt? Mach die Augen auf, Dummkopf! Und hilf mir gefälligst!“

Der Jägerssohn riss die Lider hoch. Vor ihm stand der Drache hocherhobenen Körpers und wand sich. Der Löwe saß ihm im Genick und war dabei, ihm die Pranken um den Kopf zu legen und mit seinen scharfen Krallen die Augen auszukratzen. Schon floss das erste Blut.

„Mach schon! Wenn er mich abwirft, bin ich erledigt!“

Da erblickte der Jägerssohn am aufbäumenden Drachenkörper die Stelle, wo das Herz schlug und eine Wölbung verursachte, und er nahm sein Schwert und stach es mit Wucht hinein bis ans Heft.

Der Drache fiel zur Seite und war tot.

„Wir sind uns nichts mehr schuldig,“ sprach der Löwe, “du hast deine Prinzessin, und ich habe meine Freiheit wieder. Unsere Wege trennen sich jetzt.“

„Aber die Tiere im Wald …“

„Das war der Preis. Du hast ein Königreich und eine Königin. Aber von jetzt an wirst du nur noch die Sprache der Menschen verstehen.“

Und der Löwe zog von dannen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 06.02.2018, 00:46   #2
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Hallo Ilka-Maria,
ich finde in Deinem Märchen viele märchenhafte Elemente. Das gefällt mir.
Vor allem hat es mir ein Satz angetan: "Dummkopf! Sie ist schön und erbt ein Königreich. Ihretwegen haben es schon viele versucht."
In vielen Märchen kommt der Held nur über die Königstochter an ein Königreich (oder wenigstens an die Hälfte). Ich weiß nicht, ob Du diesen Umstand - Erbfolge Königreich an Königstochter - bewusst eingebaut hast. Sollten die Märchen die matriarchalische Erbfolge aus Zeiten, die weit vor der Märchenentstehung liegen, weiter erzählen?
Dein Erzählstil gefällt mir sehr gut, und wenn Du in dem Satz "Vor ihm stand der Drache hocherhobenen Köpers und wand sich." aus dem Köper noch einen Körper machst, ist auch dieser kleine Flüchtigkeitsfehler beseitigt.
Gute Nacht!
Heinz
Heinz ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 06.02.2018, 08:06   #3
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.687


Liebe Ilka,

ein schönes modernes Märchen.

Der Jägerssohn versteht die Sprache des Wildes nicht mehr, nachdem er ihr Fleisch dem Löwen geopfert hat. Kein Wunder, dass das Wild nicht mehr mit ihm sprechen will.

Man glaubt also, der Jägerssohn würde sich wünschen, auch wieder die Sprache des Wildes verstehen zu können, nicht nur die der kleineren Tiere. Doch als er einen Wunsch äußern soll, fällt ihm das nicht ein. Stattdessen lässt er sich eine Königstochter und ein Königreich aufschwatzen. Von beiden hat er vorher noch nie gehört und lässt sich nun überreden, dafür zu kämpfen. Seine Frage "Wozu?" zeigt ja, dass es ihm gleichgültig ist, dass der Drachen die Königstochter entführt hat. Erst als er hört, sie ist schön und erbt ein Königreich (Belohnung!) kommt er in die Gänge.

Und später wird klar, etwas, an dem ihm wirklich liegt, wird er nie mehr bekommen.

Ich finde das, psychologisch gesehen, sehr interessant.

LG DieSilbermöwe
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