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Alt 10.01.2018, 22:35   #1
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.082


Standard Gate 21

Christoph war zu spät. Am Schalter beruhigte ihn die Bodenstewardess, dass sein Flieger Verspätung habe und er sich um sein rechtzeitiges Boarding keine Sorgen machen brauche.

Er nutzte die Laufbänder, um schneller zu seinem Gate zu kommen. Gate 21, ziemlich weit hinten. Zum Glück hatte er nicht viel eingepackt, so dass er mit seinem Koffer einen Spurt hinlegen konnte.

Die Wartehalle war dicht besetzt, aber er fand noch einen freien Platz. „Glück gehabt,“ kicherte er in sich hinein wie ein Glücksspieler, der gerade den Hauptgewinn eingeheimst hatte.

Entspannt faltete er seine Zeitung auf und las. Aber nach einer Weile hielt er inne und sah sich um. Etwas störte ihn, obwohl alles normal zu sein schien: Andere Passagiere lasen wie er in der Zeitung oder in einem Buch, manche tranken einen Kaffee aus einem Pappbecher oder checkten noch einmal ihre Flugtickets.

Er versuchte, wieder in seine Zeitung einzutauchen, doch sah nach wenigen Zeilen abermals auf.

Die Stille war gespenstisch. Niemand sprach.

Schließlich erblickte Christoph ein Kind, einen Jungen, der zwischen acht oder zehn Jahre alt sein mochte. Er nickte ihm zu, und der Junge lächelte zurück.

Christoph hatte Kinder immer als aufdringlich empfunden. Sie waren auf unschuldige Weise laut, fordernd und altklug, und sie traten und boxten einem fortwährend ins altehrwürdige Gewissen.

Aber dieser Junge hatte etwas an sich, dem Christoph nicht widerstehen konnte, also lächelte er zurück.

Auf die Zeitung konnte sich Christoph nicht mehr konzentrieren. Er faltete sie zusammen und beobachtete die Leute. Da fiel ihm auf, dass es außer diesem Jungen, der freundlich zu ihm gewesen war, keine anderen Kinder, nicht einmal Jugendliche in dem Wartesaal gab. Er war umgeben von alten Menschen.

Er nahm es missbehaglich zur Kenntnis und überlegte, ob er den Flug besser stornieren sollte. Als er den Punkt erreicht hatte, aufzustehen und zum Schalter zu gehen, erschien die Stewardess, um zu verkünden, dass der Flieger nun bereitstehe. Christoph nahm sein Gepäck und reihte sich in die Schlange der Passagiere zum Check-in ein. Vor ihm stand der Junge in Begleitung eines alten Paares. „Seine Großeltern,“ vermutete Christoph. Der Junge drehte sich zu ihm um und nahm ihn unvermittelt an die Hand. „Du brauchst keine Angst zu haben.“

*****

„Es tut uns leid,“ sagte der Chirurg. „Einen Moment lang sah es aus, als käme er zurück. Sein Herz war stark, aber …“

„Aber was?“

„Er hat seine eigene Entscheidung getroffen.“

„Er war erst einundzwanzig …“

„Es tut uns wirklich leid.“

Der Arzt drehte sich um und ging den Flur zurück, der leicht abschüssig war wie eine Gangway.

10.01.2018
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.01.2018, 04:45   #2
männlich Eisenvorhang
 
Benutzerbild von Eisenvorhang
 
Dabei seit: 04/2017
Ort: Erzgebirge
Alter: 38
Beiträge: 2.675


Hi Ilka,

Mir gefällt die lakonische Zeichnung des Flughafens. Lakonisch im Sinne von schmucklos.

Näher interessieren mich die Einundzwanzig (nur wegen des Alters?) und warum du ausgerechnet das Kind als Figur wähltest. Warum ein Kind?
Du machst Andeutungen und gibts preis was er von Kindern hält.

Mir ist das noch zu wenig.


gursky
Eisenvorhang ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.01.2018, 15:04   #3
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.706


Es geht darum, dass Christoph erst 21 Jahre alt ist und auf dem OP-Tisch stirbt. Gate 21 ist eine Metapher, der Flughafen auch. Sonst sind nur alte Leute da (man kann sich denken, warum). Das Kind kommt, um insgesamt 3 Leute (das alte Paar und Christoph) zu ihrer letzten Reise (ins Jenseits) abzuholen.

So interpretiere ich es.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.01.2018, 15:09   #4
männlich Eisenvorhang
 
Benutzerbild von Eisenvorhang
 
Dabei seit: 04/2017
Ort: Erzgebirge
Alter: 38
Beiträge: 2.675


Hi DieSilbermöwe,

der Inhalt ist einfach zu erfassen, deswegen fragte ich nicht nach.

Ich fragte im Speziellen nach den Hintergründen.
Warum ausgerechnet ein Kind ihn führt. Kinder besitzen eine bestimmte Symbolik - den Tod mit Unschuld und Naivität zu verbinden finde ich sehr interessant.
Genauso die Zahl, die 21, die wie die 23 eben auch eine gewisse Symbolik innehält.
Weil mich die Geschichte an etwas Bestimmtes erinnert und mich daher sehr bewegt hat.
Eisenvorhang ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.01.2018, 15:27   #5
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.706


Mir hat sie eher ein Unbehagen bereitet.

"Er hat seine eigene Entscheidung getroffen."

Ich glaube nicht, dass es so einfach ist.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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