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Alt 16.05.2019, 22:43   #1
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Ort: Aschbach-Markt, wo alle Säufer der Welt einst geboren wurden und wohin sie auch wieder zurückkehren.
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Standard Unter Wipfeln aus Obsidian II - Schwer von Begriff

Schwer von Begriff

"Wie hast du mich genannt, Junge?"Merthyn verlor den Halt. Er landete mit einem Platschen auf dem Gesäß und verstauchte sich die Handgelenke.
"Vater!", wimmerte der Junge. "Du musst ...". Ein Blutschwall ersetzte die Worte. "Hilf mir!", röchelte er, worauf noch mehr Blut zwischen seinen Lippen hervorschoss.
Merthyn stützte sich auf die Handflächen und kroch rückwärts, als würde ein Skorpion sich auf ihn zubewegen. Dabei ließ er den Jungen nicht aus den Augen. "Wie hast Du mich ..."
"Vater! Ich sterbe!"
"Ich bin nicht dein ..."
"Vater! Hilf mir!"
"Du verwechselst mich, ich bin nicht dein ..."
"Vater! Bitte! Bitte!"
"Bist du schwer von Begriff?"
"Vater!"
"Halt den Mund!"
"Hilfe!" Der Junge wälzte sich mit letzter Kraft auf den Bauch, reckte die Arme, seine Füße strampelten.
"Halt den Mund! Du sollst das Maul halten!" Merthyns Stimme überschlug sich. Er biss sich beinahe die Zunge ab."Vater! Vater!"

Ringsum tobte immer noch das Gemetzel. So nannte man das. Merthyn erinnerte sich. Raben kreisten am Himmel, so viele, dass Merthyn nicht mehr wusste, ob der heulende Wind von ihren Schwingen kam, oder vom Donnergott selbst. Während der Junge um Atem rang, kroch Merthyn zurück, immer weiter. Hätte er nur den Himmel und alle Drachen, die es gibt, zwischen sich und den Jungen bringen können! Er stieß an etwas Weiches. Ein verendendes Pferd, welches seinen Reiter unter sich begraben hatte. Nur ein behandschuhter Arm war noch zu sehen. Er zuckte, obwohl das Blut an ihm schon trocken war. Merthyn streifte den Handschuh von den Fingern.
"Vater!" Der Junge gab nicht auf, obwohl seine Gliedmaßen schon erlahmten. Er verzog das Gesicht zu einer Grimmasse, kämpfte wie eine Mücke in Kleister. Wann starb er endlich? Seine Stimme konnte jeden Moment wieder aufleben. Er stöhnte auf und Merthyn glaubte, seine Eingeweide stünden in Flammen. Eine kreißende Katze, das Schaben einer Klinge über Schiefer, eine rostige Säge, ein aufreißender Wanst, alles diese Geräusche hätte Merthyn ertragen können, nur nicht die Stimme dieses Jungen! Ein Hengst preschte vorbei, welcher hysterisch den Kopf hin und herwarf, ritt einen Infanteristen nieder. Das Gewicht des Tieres brachte seinen Wanst zum Platzen. Regen, der auf einen Teich prasselt, hätte keinen schöneren Klang erzeugt! Doch war das Geräusch viel zu kurz, die Lippen des Jungen bebten wieder und ... Merthyn biss auf das Innere seiner Wangen, wie jemand, der sich einen Nagel ins Fersenbein treibt. Er rang um Fassung, schloss die Finger um den Handschuh. Das war bei weitem angenehmer, als sie ins eigene Fleisch zu graben. Doch warum hatter er den Handschuh überhaupt genommen? Merthyn erinnerte sich. Er ging auf den Jungen zu. Dieser wollte ein weiteres Mal um Hilfe flehen, doch steckte das Leder in seinem Mund, ehe es dazu kam.
"Vater!"
"Was zum? Du kannst nicht schreien! Dein Maul ist gestopft!"
"Vater!"
"Ich bin verflucht!" Merthyn presste seine Hände auf die Ohren und schrie, um die Hilferufe zu übertönen, denn er hörte sie immer noch.
"Vater!"
Merthyn überlegte davonzurennen. Er würde sterben, wenn er es nicht tat. "Du lässt mir keine Wahl! Es tut mir leid!", wimmerte er. Salzige Tränen rollten an seinen Backen herab, über die Barthaare, blieben an den Spitzen hängen. Den Geschmack von Rotz in seinem Mund bemerkte Merthyn kaum, daür war er zu angenehm. Er schien den Brand vom Weinen zu lindern, das er so lange verhalten hatte.
"Nimm mich mit! Du kannst mich nicht ... du bist doch mein ..."
"Ich bin nicht dein ...", schrie Merthyn heiser.
"Nimm mich mit!"
Merthyn blickte um sich, zu schnell um etwas sehen zu können, dann nahm er das Kinn zwischen seine Hände um es ruhig zu halten. Er bemerkte einen Krieger, Nauk, an einer Stelle, wo Merthyn eben gestanden hatte. Er riss eine dieser Stangen aus seinem Bauch. Sie war kantig.
"Vater, was tust ..."
Merthyn beugte sich über den Jungen und trennte sein Haupt vom Leib. "Warum zwingst du mich auch, Begriffstutziger? Warum zwingst du mich ..."

Er stand auf und lief, den Kopf in seinen Armen geborgen. Merthyn schaffte keine fünf Schritte, da übergab er sich. Doch konnte er jetzt nicht verweilen, er musste weg von diesem Feld des Wahnsinns! Er hyperventillierte und die Galle in seiner Kehle brannte. Er raffte sich mit letzter Kraft auf, sein Knie gab nach, doch humpeln ging noch, immer weiter. Das Haar des Jungen zwischen Merthyns Fingern war dreckverklumpt. "Ich nehm dich mit, Kind. Fürchte nichts mehr, ich bring dich in Sicherheit! Etwas in mir ist zerrissen, weiß Du? Ein Gemälde, auf dem mein Leben zu sehen war. Sag, können Steine Träume beenden? Wie eine Sehne hat sich´s angehört, wenn sie nachgibt, wie eine Fliegenklappe, die auf den Tisch knallt. Ein Hund, der seinen Riemen zum Reißen bringt, ja so wars ... und jetzt läuft er frei! Ein Stein kam geflogen, ein Ei! Ist in meinen Kopf getreten, beim einen Ohr rein, beim anderen nicht mehr raus ... und was dort war hat es rausgeschubst. Ich musste dich töten, versteh, dein Geschrei hätte das Ungeheuer zum Schlüpfen gebracht." Merthyn wollte schreien, doch war er zu schwach, schreien wollte er, während hinter ihm die Schlachthunde heulten, schreien wie einer, der den eigenen Sohn sterben sah, wie ein kinderloser ... Er hatte noch nie so laut geschrien.
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