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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 21.01.2007, 00:53   #1
Inti
 
Dabei seit: 01/2007
Beiträge: 17

Standard Familie und Fleisch

Geburtstage, Weihnachten, Familie. Sachen, die mir fremd geworden sind. Ich vergesse sie einfach. Das passiert anderen Menschen wahrscheinlich auch, nur zu Gelegenheiten, die nicht gleich die ganze Sippe gegen einen aufbringen. Der Geburtstag eines Freundes ist der Mutti ja ziemlich egal. Und der Oma erst recht. Ihr eigener dann nicht mehr so, aber sie ringen sich gegenseitig Verständnis ab.

„Der Junge hat doch ganz andere Sachen um die Ohren.“
„Du kennst doch Marie. Die lässt ihm doch keine Zeit mehr, mal an seine Omi zu denken. Die war gleich so komisch zu uns.“

Wenigstens muss ich keinen Kehlkopfkrebs oder Gicht simulieren, um Verständnis für die Unmöglichkeit eines kurzen Glückwunschtelefonates zu erheischen. Die Erwähnung meiner Freundin beim Pflichtbesuch alle paar Monate genügt vollkommen. Und ich bin wieder der Liebe. Warum ich denn nicht die Annika genommen hätte, heißt es dann nur. Annika ist die klügste in unserem Dorf. Sie ist „Hair-Stylistin“, so heißt das jetzt wohl. Nicht mehr „Frisöse“ und auch schon nicht mehr „Friseurin“. Aber Annika kann nur drei Schnitte. Kurz für Männer, Dauerwelle oder Pony für Frauen. Ach ja, wir wollen nicht unfair werden: Minipli für beide. Annika war die erste Frau für mich. Bis wir so 13 oder 14 waren. Wir wohnten beide am Ortsrand und mir erschienen die in der Ortsmitte angesiedelten Schulfreunde als kleines Kind eine Tagesreise entfernt. So musste ich es eben nehmen wie es kommt. Jedenfalls hatte Annika mir nach 10 Jahren Kinderknutschfreundschaft nichts mehr zu bieten. Ich glaube wir hatten uns auseinander gelebt. Ich auf dem entfernten Gymnasium, sie auf der Oberschule im Nachbarort. Ich hatte danach keine Lust, meiner Mutti und Omi, die das gern gesehen hätten, eine Schmonzette á la „kluger Junge denkt, er finde das Glück in der „Ferne“ (die natürlich nur ein düstreres, drogenverseuchtes Moloch sein konnte), sieht aber ein, dass es zu Haus doch am schönsten ist und nimmt sich das einfache Mädel mit dem reinen Herzen und dem, von der harten, richtigen Arbeit selbstverständlich, schmutzigen Gesicht und führt auf dem elterlichen Hof die Schweinemast weiter. Puhh. Nein danke!

Ich nahm natürlich das düstere, interessante Mädel, bei deren Anblick den Matriarchatinnen die Züge aber ordentlich entglitten. Schwarze Haare (gefärbt!), rote Lippen (Flittchen!), enge Klamotten (Biest) und das aller Schlimmste: zur Reflexion fähiger, entwickelter Geist (Klugscheißerin). Spätestens nach dem zweiten oder dritten Besuch, als sie mit den beiden über ihre gesellschaftlich überkommene Geschlechterrolle innerhalb der Hausgemeinschaft diskutieren wollte, konnte ich mich vor „gut gemeinten“ Vorträgen, regelrechter Ratschlagsdiarrhö, nicht mehr retten.

Also zogen wir so schnell wie möglich weg. Ich gab vor, Agrarökonomie zu studieren, verbrachte die Tage aber meist in der Bibliothek und in Seminaren des Institutes für Philosophie. Auch wenn ich nicht eingeschrieben war. Die waren froh, dass überhaupt einer anwesend war. „Ja Herr Klock, die Masse der qua Status als Student zumindest potenziell Intellektuellen in dieser entsublimierten Welt, hat eben nicht mehr den Nerv sich der „Phänomenologie des Geistes“ zu widmen oder die „Dialektik der Aufklärung“ aufzudecken, und das ist schade,“ pflichtete ich den suizidgefährdet wirkenden Universitätsangestellten bei.

Ich gewann zumindest das Ansehen einiger verzweifelter Gutmenschen und wahrte das meines elterlichen Heimes zumindest zum Schein. Glücklicherweise besaßen Marie und ich in den ersten Monaten kein Telefon, so dass der regelmäßige Anruf entfiel. „Handy“ kannte nur meine Mutter und ich verschwieg, dass ich eines besaß, was sie auch nicht verwunderte, schließlich brauchte ich als Junge aus einfachem aber gutem Hause solchen Schnickschnack nicht. Sie schickte dafür manchmal einen kleinen Brief, den ich kurz beantwortete und oft anhängig ein halbes Dutzend Pakete Schlachtreste, aus denen wir uns Eintöpfe machen sollten. Dumm nur, dass Marie Vegetarierin war und selbst ich als partieller Fleischvertilger diese Kadaver nicht anrührte. Aber ich bat immer um Verständnis für die Bezeugung des guten Willens seitens meiner Mutti, musste aber zugeben, dass es fast schon Telemobbing glich, hatte ich Maries Essgewohnheiten doch tausendfach erwähnt und meine Abscheu vor solcherlei Hundefutter ebenfalls vorsichtig kundgetan. Wahrscheinlich dachte Mutti, ich mache einen Witz. Kein Fleisch essen, das setzte dem ganzen doch noch die Krone auf. Solche Leute gibt’s doch nur im Schmuddelfernsehen. So gutes Fleisch!

Und dann eben das angesprochene Problem mit dem Beglückwünschungsdefizit von meiner Seite aus. Ich hatte noch nie einen Sinn dafür, Leuten, auch Familienmitgliedern, für etwas zu gratulieren, das zu 100 % nicht auf ihre Kappe ging, sondern dem faszinierenden Lauf der Natur geschuldet war. Ich wäre auch keinem böse gewesen, der mich an meinem Geburtstag respektvoll in Ruhe gelassen hätte. Kein „hach, aaaallleeeeeess Liiieeeebe und gaaaaanz viiieeeel Gesundheit, dasisjasowiesodasallerwichtigste, daslernstduauchnoch, hach!“ Und die dämlichen Sprüche: „Na, widder älta jewordn?“ Ja, klar, oder denkst du ich verliere in 20 Jahren meine Zähne wieder und fang an zu krabbeln und zu brabbeln? Oder: „Und wie jehtet so mit 22?“ Wie soll’s schon gehen? Was soll die Scheiße? Wenn sich wenigstens mein gesellschaftlicher Status (Pass, Führerschein, Volljährigkeit, Erwachsenenstrafrecht) geändert hätte, dann gäbe es was zu erzählen, aber ich glaube, du wolltest nur nicht rülpsen und hast deswegen beim Mundaufmachen was gesagt. Also ich denke, ich habe meine Abscheu vor solcherlei geheucheltem Gedöns erschöpfend kundgetan.

Was Weihnachten nun im Speziellen angeht, lassen sich wohl eins und eins schnell zusammenzählen. Konsummasturbation. Gefühlstöter. Hort der Entzweiung und des Ungemachs. Wenn man seinem so genannten Nächsten nur noch über möglichst originelle, ausgebuffte Konsumartikel die Gunst bezeigen kann, dann läuft doch was schief. Jaaaa klar, es geht nur ums Beisammensein. Ums Festliche an sich. Ein bisschen besinnlicher Rückzug in die Eingeweide des Verwandschaftskorpus. Hast du schon mal jemand Verweigerer gespielt? Mal nix außer einer warmen Umarmung und ehrlicher (!) netter Worte? Gut, es gibt nicht gleich Krach. Niemand will so fies materialistisch wirken am Heiligen Abend. Aber wenn einem die ideell beglückte Gegenseite ihre in quietschbunte Kunststofffetzen gehüllten Güterkreislaufsendprodukte vor das vor Wonne und Schlehenlikör schon ganz rosige Gesicht hält, dann gibt es dieses subtile Funkeln in den Augen.

Da sieh! Deine Mutter hat sich seit sechs Jahren keine neuen Schuhe gekauft, aber du, du bekommst hier deinen komischen Kram. Diese Kreisch und Sägemusik und Filme ohne Helden und Bücher ohne Pilcher im Autorennamen. Andere hungern! Okee, vielleicht interpretiere ich doch ein bisschen viel in diese 20 Millisekunden Todesblick, aber so ungefähr wird es schon hinkommen.

Diese Verweigerungshaltung bringt natürlich auch Nachteile mit sich. Ich komme nun nicht mehr so schnell an die neue „Mastodon“ heran, und auch “Turbonegro“ müssen warten. Von „Trail of Dead“ ganz zu schweigen. Wir müssen eben alle warten. Annika auf ihre Kunden, Marie auf Besserung der innerfamiliären Beziehungen (obwohl ich bezweifle, dass sie darauf wert legt), Mama und Oma auf eine ihnen genehme Stammbaumfortsetzerin und du lieber Leser auf eine runde Geschichte.
Ich warte nämlich noch auf die Fähigkeit eine ordentliche Geschichte erzählen zu können.
Die Hoffnung stirbt zuletzt!
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Alt 21.01.2007, 01:19   #2
Sateb Deis Rhi
gesperrt
 
Dabei seit: 12/2006
Beiträge: 327

Hmmm, das vorbereitet schlechte Ende verschleiert das schlechte Ende nicht genug. Aber hab die Geschichte ganz gern gelesen!
Sateb Deis Rhi ist offline   Mit Zitat antworten
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Lesezeichen für Familie und Fleisch




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