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Humorvolles und Verborgenes Humorvolle oder rätselhafte Gedichte zum Schmunzeln oder Grübeln.

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Alt 18.08.2012, 08:05   #34
männlich Desperado
 
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New mornin'!

„Alles verändert sich, wenn du es veränderst.“

Rio Reiser hat’s gesungen, die jungen Leute haben’s beherzigt, alles hat sich zwar nicht verändert, aber immerhin vieles, einiges in eine völlig unerwartete, geradezu entgegengesetzte Richtung, aber so ist das nunmal mit den Veränderungen. Nie kann es eine nachfolgende Generation der nächsten rechtmachen, und das soll wohl auch so sein.

Sprache verändert sich von Generation zu Generation. Goethe wäre hellauf entsetzt über die heutige Form, „große Dichter und Gelehrte reden wie Gassenkinder und nennen es gehobenes Deutsch“, so in ungefähr würde er nicht nur die Umgangssprache unserer Zeit geißeln. Heutige Schriftsteller und Poeten mit Rang und Namen wären nach Schillers Empfinden grobschlächtige Sprachverhuntzer „ohne Geist und Seele, ausdruckslos in der Rede, kläglich im Empfinden und ohne den Hauch einer Melodie“.

Die Jugend ist dabei, ihre eigene, sehr vereinfachte und leicht verständliche Sprache zu erschaffen, wobei ein einzelnes Wort vielerlei Bedeutungen haben kann und diese sich nur aus dem Kontext erschließt. Wie man zB an der konservierten toten Sprache des Lateinischen erkennen kann, in der einzelne Begriffe vielfältige, ja zum Teil gegensätzliche Bedeutung entwickelt haben, ist das ein üblicher Prozess in der Entwicklung der Linguistik.

Nichts spricht dagegen, sich dieser „Verflachung“, die zweifelsohne wie alles ihre Schattenseiten hat, zu entziehen oder widersetzen, indem man sich in ein Forum mit Gleichgesinnten zurückzieht, Aufnahmebedingungen stellt und so dessen Anspruch anhand schreibender Vorbilder einigermaßen hochhält, die gute alte Dichtkunst pflegt und modernistische Strömungen der niveauvollen Art einfließen lässt, sozusagen einen „Club der toten Dichter“ gründet mit klarer Ausrichtung und deutlichen Schwerpunkten.

In einem öffentlichen und frei zugänglichen Forum wie Poetry jedoch ist es geradezu anachronistisch und rückständig, die neuen Strömungen der gängigen Sprache und des zeitgemäßen Ausdrucks geradezu gewaltsam außen vor zu halten und ein Forum dagegen zu verteidigen, indem man verbissen darüber bestimmt, was heutzutage von wieviel Leuten als Gedicht empfunden wird oder besser werden darf und was nicht. Der schlichte Dreizeiler kann den medienüberfluteten Leuten von heute mehr geben und sagen als ein formvollendetes Dreistrophenopus, und diese Strömung nicht sehen und akzeptieren zu wollen, bedeutet auch, die Weiterentwicklung der Dichtkunst zu hemmen und ihren freien Fluss in ein betoniertes Bett zu zwängen.

Das neue, einerseits vereinfachte und andrerseits zentrierte Sprachgefühl jedoch als Schrott und Bullshit zu bezeichnen, mit dergleichen umgangssprachlicher Geringschätzung abzuqualifizieren und entschieden von sich zu weisen, die im Entstehen befindliche Gestalt recht großzügig und für das „alt“geprägte Empfinden holprig gestalteter Versmaße, die von vielen Menschen als flüssig und ihrem Sprachempfinden entsprechend als gut gereimt und für jedermann verständlich empfunden und geliebt werden, als niveaulose Stümperei zu diffamieren, beweist lediglich eine bedenkliche Ausprägung geistiger Unbeweglichkeit und die reaktionäre Verweigerung Erneuerung und Veränderung gegenüber, die nichts als eine lächerliche, von der Zeit überholte und ratlose „Elite“ zurücklässt.

Es ist keine Schande und kein Makel, von der Zeit überholt zu werden, im Gegenteil, es sollte gerade in der Kunst ein Grund zur Freude und die sichtbare Bestätigung für seine Mühen sein, nur dieses sehen, erkennen und akzeptieren können, das ist wieder eine ganz andere Sache, da steht einem sehr viel Eitelkeit und Selbstüberschätzung im Wege, schafft man es jedoch nicht, endet man in Engstirnigkeit und Verbitterung.

So schaugt des aus.

Desperado
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Alt 18.08.2012, 08:24   #35
weiblich Ilka-Maria
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Das ist alles richtig, Deperado. Aber dennoch ist es nur die halbe Wahrheit.

Sprache und Wissen ist mehr als nur der Gegensatz von früher und heute, jung und alt, Gosse und Salon. Wenn ich will, kann ich "aach inde schönnste Offebacher Straaßespraach babbele" ganz nach dem Motto: "Ich haach dir uffs aach unn uffs annere aach aach!"

Ob das von jedem verstanden wird, ist nebensächlich.

Tatsache ist jedoch, daß die Standards von Bildung und Sprachfertigkeiten enorm runtergeschraubt worden sind. Jeder Pädagoge wird dies bestätigen. Dieser schleichende Prozeß begann Mitte/Ende der 60er Jahre, und ein Ende ist längst nicht abzusehen. Ich kenne Selbständige, die keine Lehrlinge mehr ausbilden wollen mit der Begründung: "Die kommen von der Schule, können aber nicht richtig schreiben und rechnen."

In allen Lebensbereichen, von der Schule bis hin zur Freizeitgestaltung und zu den Medien, sind die Standards mit viel Glück noch Mittelmaß, meistens liegen sie aber deutlich darunter. Ausnahmen sind selten geworden. Diese Entwicklung äußert sich natürlich auch im Sprachgebrauch. Und genau darüber wäre Goethe heute entsetzt, nicht darüber, daß viele Begriffe inzwischen Bedeutungswandel durchgemacht haben oder durch andere Begriffe ersetzt wurden. Ein Mann seiner Intelligenz hätte sich daran schnell angepasst.

Ohnehin scheint Sprache heutzutage nur noch geeignet zu sein, die Umgebung zu vermüllen. In der S-Bahn weiß ich oft gar nicht, wohin ich mich mit meinem Buch verdrücken soll, um nicht von mehreren Handy-Junkies gleichzeitig die Ohren mit so "wertvollen" Informationen zugebrüllt zu bekommen, wie außerordentlich hitzig der Beischlaf am vorhergehenden Abend gewesen war, daß der Hund auf den Teppich gekotzt hat und man sich von der Kosmetikerin mal wieder die Mitesser aus dem Gesicht drücken lassen muß. Sprache ist zum Synonym für die Verwahrlosung der Umwelt geworden - und leider auch für einige andere Orte.
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Alt 18.08.2012, 08:41   #36
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Die von mir bereits erwähnte Schattenseite, Ilka-Maria, die Kehrseite der Medaille sozusagen.

Erzähl mir nix von Handy-Terror, war langjähriger Zugreisender. Das Aussterben des Reichtums der verschiedenen Dialekte, nicht zuletzt dadurch dass schwachsinnig komformistische Eltern ihre Kinder in Hochdeutsch "erziehen", ist eine eingerannte offene Tür, der "Slang" tut bisweilen einfach nur noch weh, achweißtduichweißauchnich.

Gerade deshalb ist es so wertvoll und von großer Wichtigkeit, dass es da immer noch und immer wieder junge Leute gibt, die sich überhaupt noch mit Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten beschäftigen und sich darin zu verwirklichen suchen, nur sind das eben Kinder ihrer Zeit, sie sprechen nicht nur anders, sie denken, erleben und empfinden anders, nicht grundsätzlich, klar, seit der Steinzeit nicht, aber eben doch auf sichtbare und unverwechselbare Art und Weise.

Und was die positiven Versuche und Ansätze betrifft, ihre Sprache zu Kunst zu formen, ist mein Part zulassen und beobachten, bestenfalls helfend sprich anregend unterstützen, denn was im Einzelnen dabei herauskommt, vermag ich weder zu beurteilen noch zu wissen, bei eingehender Betrachtung steht mir ein Urteil garnichteinmal zu.

Der Wind der Veränderung weht frei, ich kann und will ihn nicht lenken.
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Alt 18.08.2012, 08:52   #37
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Da sind wir uns einig, Desperado. Trotzdem erwarte ich - auch von jungen Leuten -, daß sie zwischen Banalitäten und Erwähnenswertem unterscheiden. Wobei es natürlich immer auf den Adressaten ankommt. Wenn ein Sohn oder eine Tochter der Mutter erzählt: "Jemand hat in die S-Bahn gekotzt, und ich habe mich geekelt", ist das okay, aber einen Vorgesetzten dürfte das kaum interessieren. Es kommt eben immer auf die Lebensbereiche an, was man wem sagt und wie man sich ausdrückt.
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Alt 18.08.2012, 10:49   #38
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
Wenn ein Sohn oder eine Tochter der Mutter erzählt: "Jemand hat in die S-Bahn gekotzt, und ich habe mich geekelt", ist das okay, aber einen Vorgesetzten dürfte das kaum interessieren.
Naja, Ilka-Maria, als... Vorgepflanzter würd ich dann eben antworten: "Sehr aufmerksam von Dir, dass Du diese existentielle Erfahrung mit mir teilst", oder sowas in der Art, aber natürlich ist auch die Sprache gewissen Kulturpraktiken, Benimmformen und Grenzen verpflichtet, wie aller menschliche Umgang im täglichen Zusammenleben sonst auch, und diese zu vermitteln bzw. setzen ist zweifelsohne Aufgabe der Eltern und Erwachsenen, weshalb es umso erfreulicher und vorbildlicher ist, dass wenigstens wir beide zu einem vernünftigen Gesprächston und ruhigen Dialog zurückgefunden haben.

Aber das wäre wieder ein eigenes Thema, ich denke, dass wir unsere Standpunkte einander deutlich und verständlich haben machen können.

Ich wünsch Dir einen schönen Tag
Desperado
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Alt 18.08.2012, 10:54   #39
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Danke. Dir auch.
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