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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 03.08.2006, 18:51   #1
TobiL.
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Beiträge: 280

Standard Kurze Zukunftsvision

Wir schreiben das Jahr 2007. Genauer den 17.Januar. Es ist halb sechs in der Früh, als Parastoo durch einen lauten Knall aus dem Bett geschmissen wird. Sie fällt aus ihrem Bett und bleibt auf dem Boden liegen. Sie hebt schützend ihre Hände über den Kopf. Staub rieselt auf ihren Körper. Kleine Steine schlagen auf sie nieder. Sie hat Angst um ihr Leben. Sie zittert am ganzen Körper, die Finger krallen sich in ihre langen dunkelbraunen Haare. Die Schreie ersticken in ihrem Mund. Der Staub und Dreck nimmt von ihr Besitz.

Nach fast zwei Minuten ist es wieder ruhig. Vereinzelt bröckeln noch Zementbrocken von der Decke. Langsam weicht die panische Betäubung, die ihren Körper erfasst hatte. Langsam versucht sie sich von dem Zementberg zu befreien. Doch es ist schwer, die Hände sind blutig und ihre Beine taub. Nach einer halben Ewigkeit gibt sie auf. Sie legt ihren Kopf auf den Schutt und Tränen fließen ihr von den Wangen.

Wo ist ihr Bruder? Wo sind ihre Eltern? Sie hebt den Kopf und schaut sich in ihrem Zimmer um. Das Bett in dem ihr kleiner Bruder Simin geschlafen hatte, ist völlig zerstört. Große Steinbrocken haben das Holz zersplittert. Eine kleine Hand schaut aus dem Haufen. Bleich, dreckig und schlaff ragt sie in die staubige Luft. Er kann unmöglich überlebt haben.

In den vergangenen Monaten eskalierte die Lage in Nahost.
Anfangs ging es noch gut, als die israelische Armee gerade in den Südlibanon eingefallen war. Die israelische Führungsriege war sich im Klaren darüber, dass es keinen anderen Ausweg mehr geben könnte, als eine Invasion des Libanons.
Der jahrelange Terror, den Israel durch die islamischen Fundamentalisten ertragen musste, musste ein Ende haben. Wie anders, als sie in ihrem eigenen Lager zu schlagen. Die unterentwickelten Waffen der Untergrundorganisation konnten den Israelis nur kleinen Schaden anrichten, den wir lediglich als „Kollateralschaden“ abtun können. Doch die Hisbollah spekulierte eben auf diesen Trugschluss der Israelis. Mit irakähnlichen Häuserkämpfen schwächte die Hisbollah die Armee des Landes Jesu. Nur gering waren die Verluste der Israelis. Durch das Harte Durchgreifen des israelischen Militärs kamen Hunderte Zivilisten bei den Angriffen ums Leben. Der schreckliche Plan der Hisbollah, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu verwenden, ging nicht auf. Ohne Rücksicht auf Verluste metzelten die Soldaten alles nieder, ob Frauen oder Kinder, die Eliminierung jedes handlungsfähigen Mitglieds des Terrorverbundes hatte oberste Priorität. In den Nachrichten starrte der Rest der Welt wie gebannt auf die Bilder von getöteten Kindern, ihren verzweifelten Vätern und Müttern, die die leblosen Körper in die Kameras hielten. Hunderte Menschen strömten auf die Straßen Beiruts und ließen ihrem Unmut, der Verzweiflung und den Aggressionen freien Lauf. Sie stürmten die Un-Botschaft und verbrannten israelische und amerikanische Fahnen. Der Unmut der Bevölkerung über das Zusehen der Welt wuchs immer mehr.
Kofi Annan, Chef der Vereinten Nationen, rief die Beteiligten des Krieges zu Waffenstillstand auf. Man wolle zuerst die humanitäre Hilfe gewährleisten und Evakuieren, bevor sich die verfeindeten Gruppen wieder bekämpfen. Mehr als ein müdes Lächeln der Vorsitzenden in Jerusalem ernteten sie jedoch nicht damit. Es wurde weiterhin Krieg gemacht.
So lockte die Hisbollah die unwissenden Kampfeinheiten der Israelis immer weiter in den kleinen Staat Libanon, der lediglich 6 Jahre ohne israelische Besatzung genießen durfte. Der Abzug der letzten israelischen Truppen aus dem Südlibanon war schon lange überfällig gewesen. Die UN-Resolution 425 hatte schon zuvor 18 Jahre lang den Rückzug sämtlicher Truppen gefordert. Zeugnis für die Handlungsunfähigkeit der Vereinten Nationen in Israelfragen.
Was häufiger mal erwähnt wurde, jedoch nie in den Schlagzeilen stand, war die Unterstützung der Hisbollah durch den Iran. Wie schon bei dem Irakkrieg, schickte der islamische Staat Waffen und Truppen in das Krisengebiet. Diesmal jedoch in einem Ausmaße, bei dem man nicht beschämt zur Seite gucken konnte. Die Israelische Armee musste grobe Rückschläge in Kauf nehmen, denn das militärische Potential des Iran wurde weithin unterschätzt.
Mehrmals wurde Teheran verwarnt und angesprochen, sich aus dieser Krise raus zu halten. Man warnte vor der Eskalation des Konflikts und wies vorsichtig auf die vorher schon bestehenden Spannungen zwischen den USA und Iran hin. Doch wie schon Israel zuvor, beschmunzelte auch Ahmadinedschad die Warnungen der Vereinten Nationen.
Nun war Handeln gefragt. Der Verbündete Israel steckte in einer äußerst prekären Situation. Die geschichtliche Vorbelastung gab letztendlich den entscheidenden Impuls, Israel aus der Patsche zu helfen. Die Welt war sich also einig: so konnte es auf keinen Fall weiter gehen. Israel hatte das gute Recht, den Libanon anzugreifen und von der terroristischen Vereinigung zu reinigen. Die Grenze war spätestens mit der Entführung der beiden israelischen Soldaten überschritten. Der Krieg war eine logische Reaktion auf die anhaltenden Anschläge der Hisbollah auf israelische Städte.
Mit großangelegten Lieferungen von Truppen, Panzern, Bombern und Schiffen, wurde Israel nun von der Nato unterstützt. Der Höhepunkt der Eskalation war schon abzusehen. Das Krisengebiet brodelte. Nicht nur der Iran, sondern auch Syrien unterstützte den Libanon, welches nun auch noch zum Austragungsort eines militärischen Kräftemessens zweier unterschiedlicher Ideologien werden sollte.
Mit brachialer Gewalt stürmten die Truppen Russlands, Fankreichs, der USA, Italiens und natürlich Deutschlands den Iran und Syrien. Von allen Seiten und mit allen zu erdenklichen Mitteln sollte die Region erobert werden. Doch was, wie auch im Libanon und im Irak, zuerst nach einem schon entschiedenen Angriffskrieg aus sah, wurde zu einem Kampf der Religionen. Die Einwohner solidarisierten sich mit ihrem Land und töteten Tausende Soldaten der Angriffsmächte. Man bekundete schon die völlige Übernahme der Länder, als noch täglich Soldaten durch Attentate und Straßenkämpfe getötet wurden. Wie sollte man Ruhe und Frieden in ein Land bringen, dass sich mit aller Macht dagegen werte? Die Nato stand vor einem Rätsel. Truppenabzug aus einer durch einen Rückfall bedrohten, völlig zerstörten Welt oder der tägliche Kampf gegen eine Nation, die nicht im Traum daran dachte, klein bei zu geben?!

Bebend und zuckend liegt Parastoo in ihrem Zimmer. Ihr eigener Bruder liegt tot neben ihr. Ihr Bruder, mit dem sie immer gespielt hatte, der ihr blind vertraut hatte, ihr kleiner Engel.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.08.2006, 19:25   #2
cute_fighter
 
Dabei seit: 02/2006
Beiträge: 1.123

hallo tobi.

eigentlich hatte ich gar nicht vor deinen Text zu lesen. Ich wollte nur mal ganz kurz reinlesen. Aus Zeitmangel.

Aber dann war ich aufeinmal mittendrin.

Erst in Parastoos Leben und dann in der Wirklichkeit.

Trauer. Verbitterung. Der Wunsch nach Frieden. Bedrücktheit über so viel Wahrheit in den Zeilen.

Das alles und noch viel mehr spricht zu mir aus deinen Zeilen.

Besonders hat mich das Ende beeindruckt:

Zitat:
Wie sollte man Ruhe und Frieden in ein Land bringen, dass sich mit aller Macht dagegen werte? Die Nato stand vor einem Rätsel. Truppenabzug aus einer durch einen Rückfall bedrohten, völlig zerstörten Welt oder der tägliche Kampf gegen eine Nation, die nicht im Traum daran dachte, klein bei zu geben?!
Das scheint aus meiner Gedankenwelt zu kommen. Es fasst für mich noch einmal alles zusammen, was dem Leser vorher gezeigt wird.

Tief beeindruckt und traurig über die viele Wahrheit in diesen Zeilen werde ich nicht mehr dazu sagen. Musste mir schon sehr stark überlegen, was ich schreiben könnte. Am liebsten hätte ich gar nichts geschrieben, aber der Text schreit danach nicht nur gelesen, sondern wenigstens kurz kommentiert zu werden.

Zitat:
Sie hebt den Kopf und schaut sich in ihrem Zimmer um. Das Bett in dem ihr kleiner Bruder Simin geschlafen hatte, ist völlig zerstört.
Unschuldige sterben. Nur weil wir das, was wir denken für richtig halten.

...
cute_fighter ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.08.2006, 19:42   #3
TobiL.
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Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 280

Ohhh... Hallo Cute.

Du schmeichelst mir. Vielen Dank!

Ja, genau das, was du zusammengefasst geschrieben hast, ist der Sinn dieses kurzen Textes. Schön, dass es dir gefallen hat.

Lieben Gruß, Tobi.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.08.2006, 21:05   #4
Ex Grünkreuz
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 265

Naja, mit politischen Inhalten sollte man immer vorsichtig sein, zumindest in der Form wie du es gemacht hat.

Es besteht so immer ein hohes Risiko das es a) sachlich falsch ist oder b) eine Meinung ausdrückt, die entgegen gesetzt von der des Leser ist.
Besser wäre es als Meinung und nicht als Fakt dastehen zu lassen.

Zu den sachlichen Fehlern:

Zitat:
Die unterentwickelten Waffen der Untergrundorganisation konnten den Israelis nur kleinen Schaden anrichten, den wir lediglich als „Kollateralschaden“ abtun können.
von Kollateralschäden ist die Rede, wenn man die in kauf genommenen zivilen Toten meint, bei Angriffen auf militärische Ziele. Die Hisbolla beschießt aber keine militärischen Ziele, sondern Städte und Dörfer, somit sind es keine Kollateralschäden

Zitat:
. Der schreckliche Plan der Hisbollah, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu verwenden, ging nicht auf.
Die menschlichen Schutzschilde dienen der Hisbolla, nicht nur um Angriffe zu vermeiden. Die Hisbolla gewinnt so oder so. Entweder werden die Ziele unter Krankenhäuser oder Wohngebäuden nicht entdeckt/angegriffen oder es gibt tote Zivilisten, was ein Propaganda-Sieg ist !

Zitat:
So lockte die Hisbollah die unwissenden Kampfeinheiten der Israelis immer weiter in den kleinen Staat Libanon,
Israel wird nur bis zu einem Fluss (name leider entfallen) einmarschieren und auch dies nur punktuell. Das hat die Armee aus den Kämpfen gelernt, daher wird es schwer für die Hisbolla die IDF weiter ins Land zu locken


Zitat:
Mit brachialer Gewalt stürmten die Truppen Russlands, Fankreichs, der USA, Italiens und natürlich Deutschlands den Iran und Syrien
Russland wird niemals den Iran angreifen, traditonell stehen sich die Länder nahe. Russland hat härtere Resolutionen gegen den Iran ja bisher immer verhindert. (im übrigen ist Russland auch nicht in der NATO)

zu den unterschiedlichen Meinungen:

- Ich denke Syrien ist von größerer Bedeutung als der Iran bei den aktuellen Konflikt
- Ich glaube nicht das es zu einem Flächenbrand kommen kann, aufgrund des Konflikts. Die islamischen Staaten sind wesentlich unsolidarischer als sie immer behaupten, letztlich denken die Herrscher nur an ihre eigene Macht. Diese Sichern sie wenn das Volk einen äußeren Feind hasst, diese verlieren sie aber wenn es einen Krieg mit dem Westen gibt...
- Die Aspekte des Clash of Culture hättest du noch mehr mit einbeziehen können

Die Teile mit Parastoo sind sehr klischeehaft. Genau so stellt sich jemand im Westen der es nur aus dem Fernsehen kennt vor... keine Ahnung ob es so wirklich ist, ich hab meine Zweifel...
Ex Grünkreuz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.08.2006, 22:23   #5
TobiL.
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Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 280

Hi Grünkreuz.

Zu deinen Punkten:

Kollateralschaden habe ich interpretiert als Inkaufnehmen von Verlusten in der eigenen Bevölkerung zu gunsten des Krieges.

Menschliche Schutzschilde: Natürlich habe ich nicht alle kompletten Betrachtungsweisen eines menschlichen Schutzschilds beschrieben. Das ist nicht meine Intention. Natürlich entsteht das menschl. Schutzsch. automatisch, bei der Taktik und Aufbau der der Hisbollah. Sie wohnen in der Bevölkerung, leben wie die Bevölkerung und sind somit sehr integriert in das Leben.

Es handelt sich hier um eine Vision, eine Überlegung, wie dieser Krieg weiter gehen könnte. Es geht hier um Thesen. Sicher kann alles anders verlaufen, wie du sagst. Sicher kann ich auch nicht fundamentales und grundiertes Wissen vorweisen.

Natürlich kann es sein, dass Israel flächendeckend vorgeht. Man kann nie wissen, wie sich die Situation entwickelt.

Und wie sollte es denn deiner Meinung nach aussehen, wenn eine Rakete ein Haus trifft, ein Junge stirbt und seine Schwester es sieht?

Um den Clash of Culture mehr einzubeziehen, müsste ich mich intensiv mit den Religionen und Mentalitäten auseinandersetzen.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
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