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Sonstiges Gedichte und Experimentelles Diverse Gedichte mit unklarem Thema sowie Experimentelles.

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Alt 07.04.2012, 10:32   #1
männlich Desperado
 
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Standard Hobos

Vor ewigen Zeiten war ich mal ein paar Jahre mit den sogenannten Hobos unterwegs.

Ein schillerndes Völkchen, das da an den Schleichstrecken der Züge, in langgezogenen Kurven oder Anstiegen, im Gebüsch dicht an den Gleisen kauert, um im entscheidenden Moment loszurennen und aufzuspringen, wobei der Beweglichste und Stärkste von ihnen die Tür entriegelt und aufschiebt, meistens ein Youngster, die andern sich anschließend in den Güterwagon hechten, wuchten und gegenseitig zerren, die Tür aber einen Spalt offen stehen lassen für den Fall des überstürzten Ausstiegs.

Ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen. Die meisten Schaffner scheren sich nicht drum und drücken beide Augen zu, aber wie überall gibt es auch unter ihnen scharfe Hunde. Das soll mittlerweile sogar schlimm geworden sein mit denen. Und außerdem kann man stolpern oder beim Aufsprung danebengreifen, vom Absprung ganz zu schweigen.

Tramps, Drifter, Rambler und Gambler, Wandermusiker und –prediger, jugendliche Ausreißer, entlaufene Sklaven, ausgebüchste Reservatsindianer, abtrünnige Sektenmitglieder, gefallene Pastoren, verkrachte Bankiers, flüchtige Sträflinge, Galgenvögel, Schlitzohren, Abenteurer und Glücksritter aller Herren und Länder, in jedem Fall Leute, die einen Ortswechsel suchen oder dringend nötig haben, denen das nötige Kleingeld für die Fahrkarte fehlt, die lieber unerkannt bleiben wollen oder beides, machen Gebrauch von dieser Reisemöglichkeit.

In den Wagons wird geplaudert, erzählt, musiziert, gesoffen und gelacht. Man hockt auf Transportkisten oder Strohballen und vertreibt sich die Stunden bis zur Ankunft im Irgendwo, wenn der Zug die Nähe einer Stadt erreicht und seine Fahrt drosselt.

Das Faszinierende an dieser tingelnden Randgruppe ist die Auflösung gesellschaftlicher Grenzen und Barrieren innerhalb ihrer Reihen. Da ist nicht schwarz oder weiß, rot oder gelb, nicht arm oder reich, nicht gebildet oder ungehobelt, nicht Städter oder Landpomeranze, es gibt nur den einen Hobo. Selbst Frauen befinden sich unter den Reisenden, die wilden Ladys genießen hohes Ansehen und unangefochtene Hochachtung, und das nicht ohne Grund und zu Unrecht.

Die Franzosen nennen sich stolz Clochard, die Skandinavier Kavalier, die deutschstämmigen Berber, das ist aber auch schon alles an Unterscheidung und hat nichts von Abgrenzung. Die Farbigen geben sich die abgedrehtesten Namen, Mississippi, Babygesicht, Limone oder T-Knochen, haben stets ihre zerkratzte Bluesklampfe dabei und singen ihre traurigen und fröhlichen Lieder mitten aus dem Leben.

Und weil die Älteren unter den Hobos viel herumgekommen sind, quer durchs ganze weite Land, haben sie viel zu erzählen. Sie kennen und nennen die Züge mit Namen. Da gibt’s den Freedom Train, den Train of Glory, den Mystery Train, Slow Train, Downtown Train und viele andere mehr, die in eine jeweils andere Stadt oder Gegend dampfen, und noch einen, vor dem die alten Hasen alle Neueinsteiger ausdrücklich warnen.

Der fährt nur Nachts und ist deshalb schwer von einem herkömmlichen Güterzug zu unterscheiden. Und weil er schleicht, lädt er geradezu ein zum Aufsprung. Sie nennen ihn den Hellbound Train, und in ihrer Stimme schwingt Ehrfurcht und Grauen.

Schon das war Grund genug für mich, mir eine Reise mit ihm zu gönnen.

Die große Lampe unterm Schlot leuchtet rot.

Das muss er sein. Den Sternen nach ist um Mitternacht rum. Und wirklich, er poltert anders als die sonstigen Güterzüge, leiser und irgendwie unheimlich. Aber ich bin fest entschlossen. Hurtig entlanggelaufen, beim vorletzten Wagon mit einem Sprung den Längsbügel rechts der Schiebetür gepackt, die Füße auf die Halterungen für die Rampen geschoben, den Haken aus dem Bogen gezogen –seltsam, kein Stab sichert seine Öse- kräftig gegen die Türkante gestemmt, ein runder Schwung und schon bin ich drin. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, stell ich fest, dass der Wagen leer ist. Sehr ungewöhnlich. Äußerst seltsam.

Und dann hock ich da, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und lausche dem gleichmäßigen Rumpeln der Räder. Warte auf einen großen Farbigen, der mich das Gitarrespielen lehrt für den Preis meiner Seele. Auf eine Zigeunerin, die mich mittels ihrer Liebeskunst unwiderstehlich macht. Auf einen gutgekleideten Gentleman, der mir sämtliche Kartentricks beibringt. Auf was man eben so wartet in einem Geisterzug. Aber nichts davon geschieht. Alles was ich höre, ist das Stampfen der Lokomotive und das monotone Schlagen der Räder auf den Schienennähten.

Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich hochfahre, steht der Zug.

Er singt, schnauft und pfeift, und dazwischen vernehme ich das Rauschen von Wasser. Der Kühlturm. Sofort bin ich hellwach, denn das kann gefährlich werden. Ab und zu fühlen sich gelangweilte Schaffner beflissen, bei dieser Gelegenheit an den Wagons entlang zu patrouillieren.

Vorsichtig luge ich aus dem Türspalt, und tatsächlich, gleich drei Laternen tanzen am Bahngleis entlang. Was mich weniger erschreckt. Der leuchtende Stahl der Gewehre, die sie mit sich führen, dafür umso mehr. Und im flackernden Licht erkenne ich auch ihre Uniformen. Sie tragen die kantigen Mützen von Gefängniswärtern.

Bebend kauere ich mich in die hinterste Ecke des Wagens. Nun höre ich auch das Rasseln und Klirren der Ketten in den Wagons, das Murmeln, Ächzen und Stöhnen, Husten und Fluchen. Die knirschenden Schritte kommen näher. Ich halte den Atem an. Das Herz pocht mir in den Ohren.

Mit jähem Entsetzen wird mir klar, wo der Zug hinfährt. Zur Insel der Gefangenen, der Lebenslänglichen, der ganz schweren Jungs, denen sie zu wenig nachweisen konnten für den Strick, aber viel genug, um sie bis an ihr Lebensende hinter unüberwindlichen Mauern zu begraben. Man hört viele schlimme Sachen von dort, es wird gesagt, dass die Schlinge gnädig sei im Vergleich zu dieser Hölle.

Leicht auszumalen, was die für ihre Grausamkeit berüchtigten Wärter mit einem schwarzfahrenden Desperado anstellen, der nach ihrer Meinung sowieso längst am Galgen baumeln müsste. Für immer und den Rest meiner Tage werde ich in einer nackten kalten Zelle schmoren.

Hätte ich nur auf die Alten gehört.

Dann höre ich einen harschen Befehl, einige raue Rufe, die Schritte entfernen sich, Türen quietschen und knallen, der Zug macht einen kräftigen Ruck und setzt behäbig seine Höllenfahrt fort. Ich zittere am ganzen Leib und bin schweißgebadet.

Der Zug hat noch nicht Fahrt aufgenommen, als ich blindlings ins Schwarze springe, ohne einen Gedanken an die Zerbrechlichkeit meiner Knochen Kopf und Kragen riskiere, um meine Haut zu retten. Ich habe Glück und platsche der Länge nach in eine Pekari Suhle. Was ich unschwer daran erkenne, dass ein paar der Wildschweine -rüde aus ihrer Nachtruhe gerissen- quiekend Reißaus nehmen.

Es brauchte ein paar Waschtage und Bäder im Fluss, um ihren Geruch vollständig loszuwerden.

Wenn aber fortan ein Greenhorn in den Zug geklettert kam, meinte ich nur:
„Nimm dich in Acht vor dem Hellbound Train. Er fährt nur nachts, du erkennst ihn an seiner roten Laterne. Der dampft schnurstracks in die Hölle.“

Und in meiner Stimme schwingt Ehrfurcht und Grauen, bis heute und ans Ende meiner Tage.


Für Thing
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Alt 07.04.2012, 21:24   #2
Thing
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Beiträge: 34.998

Desperado!


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Zwischen Tür und Angel:
Nein!

Ganz lieben Gruß
von
Thing
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Alt 08.04.2012, 11:46   #3
männlich Desperado
 
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Nur nicht hudeln, Thing,
Rom wurde auch nicht an einem Tag abgefackelt.

Ganz lieben Gruß zurück
vom Desperado
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
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