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Alt 29.05.2006, 14:32   #1
cute_fighter
 
Dabei seit: 02/2006
Beiträge: 1.123


Standard Die Tropfsteinhöhle

Leise tropfte das kalkige Wasser von der Höhlendecke. Der Stalagtit füllte fast die gesamte Sicht der jungen Frau aus. Zaghaft streckte sie ihre zierliche Hand aus. Der nächste Tropfen kullerte geräuschlos auf ihre helle Haut. Als sie diesen Tropfen nachdenklich vor ihr Gesicht hielt, hörte sie bereits das nächste Hallen eines Wassertropfens, der auf den dunklen Höhlenboden traf.
Der winzige Wasserpunkt in ihrer Hand verschwand langsam. Unvorstellbar, dass solche kleinen Flüssigkeiten innerhalb von Jahrhunderten das Gestein in der Höhle verformen konnten. Genau vor ihrem zusammengekauerten Körper aber hatte sie den steinernen Beweis dafür.
Schon als Kind hatte sie über diese natürlichen Säulen gestaunt und heute waren sie ihre tröstenden Freunde geworden. Sie sangen für sie ein monotones Lied des Lebens. Auch wenn sie von vielen Leuten als verrückt erklärt wurde, sie fand, dieses regelmäßige Auftreffen des Wassers auf den harten Boden ähnelte so stark dem Leben der Menschen in ihrer Welt. Jeden Tag folgten die Leute ihrem Alltagstrott, jede Sekunde tropfte Wasser von diesen Felsen, als wären sie süchtig danach, weiter von der Flüssigkeit des Lebens verformt zu werden.
Fröstelns zog das Mädchen ihre Jacke enger, denn das kühle Klima der Tropfsteinhöhle setzte sich auch in ihrer Kleidung langsam fest und ließ alles leicht nass und modrig erscheinen.
Langsam und erschöpft lehnte sie ihren Kopf an einen Stalagmit hinter ihren Schultern. Er fühlte sich kalt und feucht an, wie alles hier. Doch er leitete Trost und Wärme in ihr Herz, wie eine Umarmung eines Menschen, den man liebt. Wie gerne würde sie für immer hier bleiben, doch sie wusste, dass ihre Eltern sie schon bald suchen würden oder gar die Polizei verständigen würden. Ein resignierender Seufzer entsprang ihren zarten, liebesuchenden Lippen. Sie würde diese Höhle nie wieder sehen, wenn sie erst zu dem kommenden Museum umgebaut worden wäre. Schon am nächsten Tag begannen die Absperrungen und Erkundungen, das wusste sie.
Sie hörte noch ein letztes Mal dem ruhigen Plätschern des Wassers zu und stand dann langsam und bedächtig auf. „Ich hoffe, sie werden hier nicht alles zerstören.“, dachte sie traurig. „Meine Liebe soll hier bleiben.“, flüsterte sie dann bedächtig und hörte, wie ihre eigene Stimme von den Wänden abprallte und sich um ein Vielfaches verdeutlichte.
Als sie sich langsam dem Höhlenausgang näherte, blieb sich noch einmal stehen und drehte sich um. Alles lag so friedlich da.
Ihre Welt.
Bald schon würden die Arbeiter kommen und sie auseinander nehmen. Wege für Touristen anschaffen und den Rest der Höhle unzugänglich machen. Die Tropfsteine würden nicht mehr in aller Ruhe und ihrem eigenen Gleichklang tropfen können, doch dann würde sie nicht hier sein um ihnen beizustehen.
Ihre Welt lag kurz davor, zertrümmert zu werden.
„Annaaaaaa!“, die lauten Stimmen ihrer Eltern schreckten sie aus ihren Träumereien. „Ich komme...“ rief sie mit schwacher Stimme. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Die erste, die drohte über ihre Wange zu kullern, fing sie auf und legte ihre Hand an einen der großen Stalagmiten. „Verwart sie gut. Ihr gehört ein großer Teil meines Lebens an.“ Die anderen Tränen ließ sie achtlos über ihr Gesicht strömen und verließ die dunklen, vertrauten Gänge der Höhle.
„Es ist doch nur eine von vielen Tropfsteinhöhlen hier.“, war der einzige Kommentar, den ihre Eltern hinsichtlich ihres tränenüberströmten Gesichtes äußerten. Anna nickte knapp, doch als sie davon schritt, meinte sie noch einmal den monotonen Klang des Lebens in der Höhle zu hören. Er drang nicht durch ihre Ohren in sie, aber ihre Seele hörte ihn und schloss ihn fest in ihre Arme. Der Klang in ihr sagte ihr auf mysteriöse Weise: „Es gibt immer ein Wiedersehen. Deine Liebe ist so mächtig wie die Wassertropfen, die von meinen Felsen kullern.“ Anna wusste, dass Höhlen nicht reden konnten, aber trotzdem spürte ihr Herz, dass die Worte wahr waren.
Sie würde zurück kehren. Vielleicht nicht in wenigen Monaten, aber auch nach vielen Jahren würde sie die Liebe in den Steinen fühlen können.
Die Liebe zu ihrer Welt war unvergänglich in ihr Herz geschlossen, tief hinter dicken Schranken, aber sie war da.
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