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Alt 14.04.2010, 11:47   #1
gummibaum
 
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Standard Der letzte Raum

Der letzte Raum

Ich kann nicht sagen, wie ich zu diesem Raum gekommen bin, den ich jetzt vor mir sehe, in den ich aber seltsamerweise nicht eintreten kann. Ich blicke von schräg oben in ihn hinein, sehe vier Menschen in Sesseln sitzen, offenbar wartend, eine Tür am andern Ende.
Rechteckig von mir weg erstreckt sich der Raum, zu beiden Seiten die Sessel, einer nur leer, in der Mitte ein Durchgang zur Tür. Aus höher liegenden Fenstern fällt kaltes Licht herein, macht Lichtflecken und kantige Schatten. Merkwürdig reglos erscheint die Szene, die Personen, zu klein für die klobigen Sessel, sind isoliert, haben den Ausdruck von Puppen. Ein Gefühl der Beklommenheit überfällt mich, ich möchte den Raum durcheilen, die Tür am anderen Ende aufreißen, denn hinter ihr muss etwas stecken, was schreien will und was hier totgeschwiegen wird.
Jetzt erkenne ich plötzlich die Frau, die vorne rechts am weitesten im Vordergrund sitzt, vertieft in ein Buch: meine Mutter. Jünger erscheint sie mir, ich sehe sie von der Seite, wie aus alten Alben, als sie noch keine Kinder hatte und sie merkt gar nicht, dass sie beobachtet wird, denn die andere Frau, die links des Gangs kaum weiter von mir entfernt sich zu ihr umgewandt hat, prüft interessiert, fast lauernd, was sie macht. Jetzt beugt diese sich vor, verharrt wie im Vorgeschmack einer verletzenden Rede und da weiß ich, dass es meine jüngere Schwester Emilie ist, nur ganz erwachsen schon, meiner Mutter ebenbürtig. Und vielleicht wird sie sagen: „Lies du nur immer weiter in deinem Buch, Langweilerin, ich werde jetzt ganz allein da sein für Papa, mich hat er doch lieber, wir brauchen dich nicht. Und Jan wird nie wiederkommen." Deutlich höre ich sie schon meinen Namen nennen und sehe voraus, wie meine Mutter zusammenzucken wird. Auf meinen Lippen ist ein Ruf gesammelt. „Mutter, meine Fäuste, nimm sie für dich und für mich!“ In meinen Adern stockt ein stummer Zorn, da sehe ich, dass meine Mutter noch kleiner wird, sich tiefer und abwesender über ihr Buch beugt, als wollte sie ganz hinwegtauchen darin.
Kraftlos bleibt mein Blick an den beiden Herren hängen, die schwer, die Rücken mir zugewandt, in dunklen Mänteln rechts und links der Tür, ganz dicht vor dem noch verschlossenen Ausgang sitzen. Einer gleicht dem andern so sehr, dass sie wie Zwillinge scheinen und da weiß ich, dass sie mein Vater sind. Er hat Vortritt vor Mutter und mir, der erste wie immer, der eingelassen wird. Breit und verschlossen erscheint mir sein Rücken, unübersteigbar für einen, der sein Gesicht sucht.
Unwillkürlich fällt mir ein, was ich schon fast vergessen habe, vielleicht, weil es erst eben geschah. Das letzte, was ich mitnahm, war dieser Rücken, so steinhart wie nur Fleisch sein kann, das keine Tröstung für seinen hochgesteckten Ehrgeiz hat. Vater hatte zuvor mein Zeugnis einfach selbst aus meiner Mappe gezogen, Mutter, die wusste, was geschehen war, griff nicht ein. Und Emilie sagte: „Es ist wirklich gut, Jan, wenn du nun wahrmachst, was du vorhattest. Du kannst Vater viel Ärger ersparen.“ Danach bin ich in mein Zimmer gegangen, das nun Emilie gehören wird, habe noch wie so oft, wenn ich mich nicht konzentrieren konnte, schweißnass vor Niedergeschlagenheit an meinem Schreibtisch gehockt und mich an ihm festgeklammert. Dann habe ich ihn ans Fenster geschoben und mich auf ihn gestellt, das Fenster geöffnet und getan, als ob ich träume. Seltsam nah und freundlich sah ich hinter geschlossenen Lidern die Sterne leuchten.

Auch jetzt noch bin ich von diesem Bild so gebannt, dass ich mich wieder vorbeugen möchte. Aber ich muss mich von ihm lösen, muss auch diesen Raum mit den Sesseln, aus denen niemand aufstehen will, hinter mir lassen. Ich sehe den schweren Beton der Decke, fühle die Bunkerstimmung, die jeden hier fest schweißt in seiner ewigen Position. Hinter der geschlossenen Tür aber ist jetzt ein leises Geräusch zu vernehmen, ein Luftzug vielleicht, und dann ein Aufschlag, wie von einem Körper im Hof, aber niemand hier scheint es zu hören. Ich warte noch, obwohl nichts passiert, sehe auch, wie die Helligkeit im Raum langsam nachlässt, wie ein Schrei, der ungehört zerbricht.

Dann bin ich imstande zu gehen, geräuschlos und unsichtbar den Gang zwischen den Sesseln zur Tür und durch sie hindurch ohne die Klinke zu berühren.

----------------
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.04.2010, 23:35   #2
Aporie
 
Benutzerbild von Aporie
 
Dabei seit: 03/2010
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Beiträge: 151


Gummibaum, begabte Gedichterin, ich darf Dir sicher auch sagen, wenn mir etwas weniger gut gefällt:

Dieser Text besteht fast nur aus Beschreibung, der Ich-Erzähler erzählt in der Gegenwart, hat aber kaum eine eigene, jedenfalls spürt man sie zu wenig, Reflexionen sind nur angedeutet, oder sie sind schwerlastige Zukunftsvorstellungen.
Die Rückblende in die Vergangenheit wird ausführlich vorbereitet Die Begegnung mit Vater, Mutter und Schwester aber in nur vier Zeilen geschildert, dann kommen fünf Zeilen Zustandsschilderung mit wenig Handlung, denen das unnötige Perfekt zusätzlich die Spontaneität nimmt.

Ferner muss man sich ganz allgemeinen bei Geschichten fragen: Wie viel Poesie verträgt Prosa? In Deinem Text scheint mit die Poesie wie ein zur Verschönerung aufgetragener Puder, aber sie entzieht der Prosa die Kraft des Erzählens. Passt auch schlecht zu abgewetzten Attributen und Wortwendungen wie Merkwürdig reglos/ klobige Sessel/ Kraftlos bleibt mein Blick/ Unwillkürlich fällt mir ein etc.

Der Text würde sehr viel mehr wirken, wenn Du die Handlung linearer und schmuckloser erzählen würdest, Beobachtungen und Reflexionen zwischen die Schnittstellen streust.

Vielleicht sollte man beim Geschichtenerzählen überhaupt mehr auf die Montagetechnik des Films achten: z.B. Die Figur in Nahaufnahme auf einer belebten Strasse, ihr Gesicht reflektiert die Gedanken. Schnitt auf eine Beobachtung (Personen, ein Schaufenster, eine Ampel), Schnitt auf die Figur, die eine Tür in eine Bar öffnet, Schnitt auf das Innere der Bar, Schnitt auf den Barkeeper, der eine Flasche aus dem Regal nimmt, ein Glas füllt und es über die Theke schiebt, vor die Figur, die dort Platz genommen hat, Schnitt auf Grossaufnahme der Figur, die einen Zustand reflektiert etc.
Ein solcher Wechsel zwischen Handlung, Beobachtung und Reflexion schafft überraschendere Satzfolgen.

Genug des Lehrerhaften, war nur ein Hinweis, der zur Entfaltung Deines Schreibtalents auch in Prosastücken beitragen möchte.
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.04.2010, 00:40   #3
männlich Ex-JavaScript
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Dabei seit: 04/2010
Beiträge: 652


hi gummibaum,

ich sehe das genau so wie mein Vorredner..

Ich spreche da aus eigener Erfahrung, ich liebe Prosa zu schreiben, aber
seit versuchte die Poesie mehr ins normale Geschichtenschreiben ein zu zaubern, scheiterte ich(hab bei zwei Aufsätzten,und so, mächtig in die Kloschüssel gegriffen). Ich will damit nur sagen, dass kreatives Schreiben, Gliederungen und
eher bildarme Beschreibungen brauchen.

lg
john
Ex-JavaScript ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.04.2010, 00:49   #4
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
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Beiträge: 10.909


Hallo, Aporie,

Danke für deine Kritik. Die Geschichte hat Schwächen. Ich sehe das auch.

Kurz zu meinen surrealen Gedanken. Jan ist aus dem Fenster gesprungen und erzählt hier, während er stirbt. Es bleibt ihm nur der Bruchteil einer Sekunde nach dem Aufprall. Er sieht im Nachbild noch einmal seine Familie als den Raum, in welchem sein Sessel jetzt leer ist. Die Art, wie die Personen sitzen oder stehen, zeigt, was sie zu tun oder zu unterlassen im Stande sind. Sie handeln ja nicht mehr wirklich. Doch kommt mit der furchtbaren Unzugänglichkeit des Vaters "unwillkürlich" eine Spur von Erinnern auf: nämlich, dass er Emilie gesagt hatte, dass er sich umbringt, wenn er sitzenbleibt, weil er die maßlose Enttäuschung des liebesunfähigen und ehrgeizigen Vaters nicht aushält. (Er kann ja nicht diagnostizieren, dass seine Lernblockade am Schreibtisch gerade durch den väterlichen Anspruch verursacht ist.)

Im übrigen bin ich männlich.

Auch dir, Amir, danke. Es war eine meiner ersten Geshichten, im Halbschlaf auf morgentlichen Busfahrten aus inneren Bildern zusammengesetzt.

Liebe Grüße gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.04.2010, 05:11   #5
gummibaum
 
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Beiträge: 10.909


Ich werde den Text nochmals bearbeiten.

Gruß gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.04.2010, 10:13   #6
Aporie
 
Benutzerbild von Aporie
 
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Beiträge: 151


Nachdem ich Deine Inhaltszusammenfassung gelesen habe, die in der Geschichte nur zu erahnen war, allerdings erst am Schluss, erstaunt mich nicht, dass Dir die Geschichte misslang. Sowas kann nur als Gedicht erzählt werden. Aber selbst dort dürfte es nur gelingen, wenn man mit der Todessekunde anfängt. Kommt diese Information erst am Schluss wirkt meiner Meinung nach alles, was vorher geschah, nachträglich aufgesetzt.
Ob Poesie oder Prosa, der hier so gern hingedonnerte letzte Paukenschlag, der alles, was man inzwischen gelesen hat, wieder infrage stellt, wurde in kritischen Kommentaren denn auch meistens moniert. Ob Gedicht oder Geschichte: Schlusspointen gehören in Witze, es sei denn man möchte bewusst ringelnatzig oder buschmäßig auftreten.

Erstaunt hat mich hingegen Dein Outing, Du seist männlich. All Deine Texte sind von sehr weiblichen Empfindungen durchdrungen. Umso besser: Ein Mann, der sich in Gefühle von Frauen versetzen kann, verfügt über eine breitere Klaviatur beim Schreiben.
Aporie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.04.2010, 10:58   #7
männlich Ex-JavaScript
abgemeldet
 
Dabei seit: 04/2010
Beiträge: 652


Hi ihr beiden,

Ich dachte auch, dass Gummibaum weiblich sei.. unglaublich..

LG
JL
Ex-JavaScript ist offline   Mit Zitat antworten
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