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Alt 16.02.2007, 16:01   #1
Reza
 
Dabei seit: 02/2007
Beiträge: 6

Standard Kinder der Moderne

Kinder der Moderne

Würde mir bitte jemand erklären, warum mancher einer in unsere Gesellschaft ziel- und orientierungslos sein soll? Das ist doch schon beinahe unmöglich; in dieser Überflussgesellschaft, in der wir leben. Nach dem neusten Handy, dem modernsten iPod oder der teuersten Kleidung zu streben lohnt sich anscheinend immer, zumindest wenn man den Hersteller glauben schenken darf, die Unsummen an der Profitspanne verdienen.

Bevor ich mein Geld für derartiges ausgebe, denke ich lieber zweimal nach.
Der erste Gedanke sagt dann meist: »Geld ausgeben? ...Ok.
Der zweite Gedanke ist weniger durchdacht: »Los, schnell! Sonst ist es weg!«, schreit er fast animalisch und reflexartig zucke ich meine Brieftasche und bin schon bei der nächstgelegenen Kasse, wo ich mir sinnlose und oft ganz wunderliche Dinge kaufe.
Das ist jetzt vielleicht erstaunlich, nach meinem pathetischen Einstieg in die Geschichte, aber die Moral dieses Absatzes ist: Wenigstens denke ich. Tröstlich!

Früher hat es mich maßlos geärgert, denn, kaum daheim angekommen, stülpte ich meine zwei-drei Einkaufstaschen kopfüber auf den großen Teppich und wartete, was herauspurzeln würde. Manchmal stimmte mich dieses kleine »After-Shopping« -Ritual sogar in eine Art Weihnachtsstimmung – Die Gegenstände, die sich kniehoch um mich stapelten waren teuer, neu und meistens zu nichts zu gebrauchen.

Einmal war ich besonders entsetzt. Gerade als ich die Einkaufstüte wegpacken wollte, rollte noch ein letzter Gegenstand heraus – es war eine Dose Schuhcreme »Wann habe ich das denn gekauft?«, ich konnte mich wirklich nicht erinnern und alleine die Idee mir Schuhcreme zu kaufen war lächerlich, denn ich trage nur Turnschuhe.
Ich denke, dass war einer der Momente, in denen viele anfangen, sich nach dem Sinn ihres Lebens zu fragen; immerhin kann »Born to Buy« nicht jedermanns Bestimmung sein.
Auch ich warf mich wegen der philosophischen Atmosphäre des Moments in Denkerpose und dachte über mein Leben nach.
Vielleicht war ich in diesem Moment der Selbstfindung in ekstatischen Zustand, vielleicht waren es auch bloß die Dämpfe der Schuhcreme, aber ich sah mein bisheriges Leben wie einen kleinen Film vor meinem geistigen Auge vorüberziehen und es gab kein Happy End. Mein ekstatischer, naphthalinumwölkter Zustand prophezeite mir eine Zukunft voller Unzufriedenheit und Konsumgüter, und in mir machten sich Gedanken breit, die normalerweise erst Mitte vierzig auftauchen.
»Das soll mein Leben gewesen sein?«, fragte ich mich selbst, bevor ich in eine melancholische Stimmung verfiel und innerlich allmählich anfing gegen meinen Lebensstil zu rebellieren.

Die Schranke, die für gewöhnlich Schulwissen im Unterbewusstsein zurückhält, zerbarst fast vor der Flut von berühmten Menschen, die dabei halfen, unser Leben zu dem zu machen, was es heute ist. Dramatisch machte sich eine völlig neue Lebenseinstellung in mir breit:

»Kann das alles gewesen sein? Hat Simone de Beauvoir dafür ein Leben lang für den Feminismus gekämpft? Hat Albert Einstein dafür seine legendäre Formel aufgestellt? Hat Matt Groening deshalb die Simpsons erfunden? Nein, nein und nochmals nein! Alle diese Menschen haben versucht, uns ein besseres Leben zu ermöglichen, als sie es selbst hatten! Und ich, ich Kind der Neuzeit, ich gehe shoppen!“

Wütend und beschämt über mein bisheriges Verhalten gehe ich in meiner Wohnung auf und ab, schimpfe mich selbst einen Kapitalisten und Materialisten und bleibe plötzlich vor dem Spiegel stehen. Während ich mein Spiegelbild anstarre, tut sich eine zweite Zukunftsvision vor meinem inneren Auge auf. Auch diesmal gibt es kein Happy End; in der Tat, es ist sogar noch schlimmer geworden!

Ich sehe mich selbst ein paar Jahre in der Zukunft wieder, kann mich aber trotzdem fast nicht mehr erkennen. Ich befinde mich auf einem Bauernhof und schleppe einen Eimer mit Futter in den Kuhstall. Ich bin unter die Selbstversorger gegangen!
Meine Kleidung nähe ich selber, mein Brot backe ich selber, und sogar meine Gesellschaft besteht nur mehr aus mir selbst!
Verdammt stolz und einsam sitze ich des Abends auf einer selbstgehobelten Bank unter dem sternenklaren Himmel, genieße die Stille, die nur gelegentlich durch leises Muhen und sachtes Quieken gestört wird und denke über alte Zeiten nach. Die guten, alten Zeiten.
»Sie sind dahin!«, höre ich mich selbst in Gedanken jammern.
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