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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 26.07.2016, 22:08   #1
weiblich Taro
 
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Standard Ein abruptes Ende

Der Morgen, an dem meine Mutter starb war seiden. Das Licht war weich, Nebelschwaden hingen über den Wiesen. Der Tau des Morgens tropfte nach und nach von den im Wind wehenden Grashalmen. Es war gerade halb vier Uhr morgens als ein metallenes Krachen die Stille der Nacht durchbrach. Das Auto meiner Mutter wurde durch einen Baum in zwei Teile gerissen, ihr Kopf durchbrach die Windschutz-scheibe, welche ein klaffendes Loch in der Schädeldecke hinterließ, Gehirnmasse schien aus ihr herauszuquellen.

"Ich konnte das Szenario genauestens durch das Fenster meines Zimmers beobachten, in der ersten Etage des alten Fachwerkhauses, in dem ich groß geworden war. Durch die beschlagene Scheibe wirkte die Szene surreal", erzähle ich.

"Halb vier Uhr morgens. Bis dahin hatte ich meine Nase an die feuchte, kühle Scheibe gepresst und auf meine Mutter gewartet, wie jedes Mal, wenn sie nachts wegblieb. Ich war jung, ich brauchte sie sehr; mehr als ich manchmal zugeben mochte, doch seit sie gestorben war, war auch der Teil in mir gestorben, der sie gebraucht hatte. Ehrlich gesagt hatte ich nicht sehr lange um sie getrauert. Ich hatte mich und meinen Vater oft gefragt, wo sie war, wann sie nach Hause kommen würde, denn manchmal vergaß ich es. Mein Vater hatte es mir nie gesagt, doch ich wusste, dass sie betrunken gewesen war. Sie fuhr oft betrunken. Jeder wusste, dass sie sich etwas vorgemacht hatte, als sie sagte, dass sie niemals die Kontrolle verlor.

Ich habe meiner Mutter niemals einen Vorwurf gemacht. Doch jetzt bin ich Ende zwanzig und ich trauere mehr um meine Mutter als je zuvor. Sie ist jetzt seit dreiundzwanzig Jahren nicht mehr bei mir. Dreiundzwanzig Jahre kommen einem rückblickend manchmal wahnsinnig kurz vor, doch es fühlt sich an, als wäre ich in diesen dreiundzwanzig Jahren um die hundert Jahre gealtert.

So viele Jahre hatte ich erfolgreich ihren Tod verdrängt." Doch etwas in mir war gebrochen. Ich war ohne jeglichen Aufprall zerschmettert und zerborsten und nun liege ich in meine Einzelteile zerstreut auf dem Asphalt und kann nicht mehr atmen.

"Manchmal ist es eigenartig, was die Zeit mit einem Menschen und seinen Ansichten anstellen kann. Im einen Moment, ist man sich sicher, was einen bewegt und welche Entscheidungen man treffen muss, um das Leben zu führen, über das man sich noch eben so sicher war, im anderen Moment scheint das alles nicht mehr als Schall und Rauch zu sein", meint er.

"Soll ich ganz ehrlich sein?", frage ich den Mann, der mir gegenübersitzt. Er nickt. "Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich meine Mutter vermisse oder die Erinnerung an sie. Und ich weiß nicht, was ich damals wirklich empfunden habe."

Mein Therapeut nickt erneut und verschränkt die Finger. "Wissen Sie, es gibt Dinge, die müssen Sie nicht verstehen und einige werden Sie auch nie verstehen. Niemand sagt, dass es eine Schande ist, etwas nicht vollends zu begreifen. Gerade was Emotionen anbelangt." Er macht eine kurze Pause und sieht mich nur an; wartet auf meine Reaktion. Als ich nichts sage, fährt er fort. "Sie dürfen den Schmerz des Verlustes zulassen, ob er Ihnen nun real oder surreal erscheint. Solange es etwas in Ihnen auslöst, ist es echt. Fühlen Sie den Schmerz, lassen Sie ihn an sich heran, anders können Sie ihn unmöglich loslassen."

Ich senke meinen Blick und atme langsam ein und aus, beobachte, wie sich mein Brustkorb hebt und senkt.
"Danke", sage ich und blicke wieder auf. "Danke."

An diesem Nachmittag gehe ich nach Hause wie jeden Tag, setze mich ruhig auf den Holzstuhl, der in meinem schmalen Flur steht, schnüre meine Schuhe neu, starre stur gerade aus und plane meinen Selbstmord.
Taro ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.07.2016, 22:14   #2
männlich Ex-Poesieger
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Beiträge: 7.222

Ich erwarte noch viel mehr!
Ex-Poesieger ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.07.2016, 22:15   #3
weiblich Taro
 
Benutzerbild von Taro
 
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Beiträge: 72

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Zitat von Poesieger Beitrag anzeigen
Ich erwarte noch viel mehr!
Von was? Von der Geschichte, von mir, mehr Können, mehr was?
Taro ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.07.2016, 12:26   #4
männlich Ex-Poesieger
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Dabei seit: 11/2009
Beiträge: 7.222

Mehr Brustkorb ;-)
Ex-Poesieger ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.08.2016, 16:06   #5
weiblich Taro
 
Benutzerbild von Taro
 
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Beiträge: 72

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Mehr Brustkorb ;-)
Soso.
Taro ist offline   Mit Zitat antworten
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selbstmord, therapie, unfall

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