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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt. |
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03.07.2016, 09:32 | #1 |
Gast
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Pädagogenschrecken
Pädagogenschrecken ©Hans Hartmut Karg 2016 (Gedicht aus Anlass der wunderbaren Ausstellung 2016 in der KUNSTHALLE WÜRTH in Schwäbisch Hall mit Werken von Wilhelm Busch, dem Schöpfer von Max und Moritz, Dr. Hoffmann, dem Schöpfer des Struwwelpeter und mit Picassos Werken einschließlich deutscher Expressionisten und Kubisten. DER EINTRITT DORT IST FREI!) Der Max, der Moritz, Struwwelpeter In Schwäbisch Hall bei WÜRTH vereint, Sind gegen all' Lehrergezeter, Das es nicht immer so gut meint. Denn Treibenlassen ist Parole, Heut', wenn das Haus schon steht in Brand. In Gunst steht ja die sanfte Sohle, Auch Kuschelkuschel gern genannt. Der Busch sieht Kinder auch gefährlich, Wenn sie bösartig Streiche planen, Um bei Erwachsenen entbehrlich Nicht zu Respekt hin gut gelangen. Und Dr. Hoffmann sieht im Kind Ein eigenwillig-stures Wesen, Dem Dickköpfe die Leitnorm sind, Hinführen sie zu Streichen, Bösem. Da kann nur noch Picasso trösten, Der zeitlos mit den eigenen Werken Abseits von Bösem und von Frösten Die Kunstliebhaber mag bestärken, Dass sie wieder Erfüllung finden Abseits vom Pädagogenschrecken, Sich hoch zum Elfenbeine winden, Um Ungeistiges nicht zu wecken. * |
03.07.2016, 09:52 | #2 |
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Na, Busch und Hoffmann mit Picasso und den Kubisten zusammenzubringen ist schon ein gewagtes Stück!
Busch schätze ich sehr, eigentlich ist er ein Milieu-Zeichner gewesen und hat menschliches Verhalten besser analysiert als mancher Diplom-Psychologe. Wer richtig hinsehen kann, braucht kein Studium. Hoffmann hat auch nicht eigentlich erziehen wollen, sondern die Probleme aufgezeigt, die früher unter den Teppich gekehrt wurden, heute aber möglichst an die lauteste Glocke gehängt werden: Kinder, die Warnungen nicht beachten; Kinder, die motorisch überaktiv sind; Kinder, die am Daumen lutschen und dem Kiefer Mißbildung zufügen können; Kinder, die mit Feuer spielen; Kinder, die Vorurteile gegenüber "Rassen" haben; usw. Erziehung kann nur im Elternhaus, in der Schule und im sozialen Kreis stattfinden. Hoffmann konnte das nicht leisten, auch nicht mit seinem Buch, das zu Klassiker geworden ist. Dieser Klassiker zeigt jedoch, dass die Probleme heute wie damals die gleichen sind. |
04.07.2016, 11:34 | #3 |
Gast
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Re: Pädagogenschrecken
Liebe Ilka-Maria,
Deinen klugen Kommentar kann ich nur unterstreichen. Dr. Hoffmann war ja Nervenarzt und Wilhelm Busch zunächst vorwiegend Landschaftsmaler. Gerade weil das so gewagt (und in meinen Augen gelungen) ist, da auch noch Picasso zu zeigen, kann ich nur für diese wunderbare, gekonnte Ausstellung werben. Das kann durchaus neue Einblicke eröffnen. Herzliche Grüße H. H. Karg |
07.07.2016, 00:58 | #4 |
Lieber DrKarg.
Ein recht gelungenes Gedicht zu einem äußerst brisanten Thema. Ich bin zwar kein Fan der schwarzen Pädagogik, die zumindest mit Hoffmann in Verbindung gebracht wird, sehe aber auch in der heutigen Zeit eine Tendenz zum Treiben lassen. Ich bin auch vom Fach und arbeite mit Kindern. Zuweilen ist es erschreckend, wie wenig Grenzen ihnen gesetzt werden. Und wenn, dann sind es oft Grenzen, die keinen Sinn machen... Gruß Schreibfan |
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07.07.2016, 11:03 | #5 |
Gast
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Re: Pädagogenschrecken
Lieber Schreibfan,
danke für den feinen und fairen Kommentar! Nachdem ich selbst mehr als vierzig Jahre Kinder gebildet, unterrichtet und erzogen habe muss ich heute feststellen, dass sich in diesen Jahren sehr viel verändert hat. Wir alle sind ja einmal angetreten, die "Prügelpädagogik" zu beenden und unseren Schülerinnen und Schülern Freiraum zu gönnen und sie in die Freiheit zu entlassen. Leider hat die "Kuschelpädagogik" dann viel zerstört. Es gibt ja Grundsätze, ohne die keine Gesellschaft und keine Schule auskommen kann, will sie sich nicht in die Steinzeit zurück katapultieren. Dazu gehören: 1. Wer fördern will muss fordern! 2. Ohne verbindliche Normen geht es nicht! 3. Freiheit ohne Grenzsetzung ist Anarchie! Herzlichen Grüße! H. H. Karg Geändert von Ex-DrKarg (07.07.2016 um 11:05 Uhr) Grund: Textkorrektur |
07.07.2016, 12:05 | #6 | |
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Zitat:
Ursachen und ihre Folgen – nicht mehr und nicht weniger vermag ich in den von Dr. Hoffmann dargestellten Lernprozessen zu erkennen. Deshalb hätte ich gerne erfahren, woran die Einschätzung, Dr. Hoffmann habe der „schwarzen Pädagogik“ nahegestanden, festzumachen ist. |
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08.07.2016, 09:26 | #7 |
Gast
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Re: Pädagogenschrecken
Liebe Ilka-Maria,
für Deinen ausführlichen Kommentar ein großes Lob: ERSTE SAHNE! Ich denke doch, dass viele Leute mit dem harten Realismus, den Dr. Hoffmann (auch als Seelearzt) erkannt hat, viele Zeitgenossen nicht klar kommen. Es ist und bleibt natürlich schwer, eine pädagogische Botschaft anzuerkennen, wenn man sich der Kuschelpädagogik verschrieben hat. Aber: Schützt sie nicht den Nachwuchs vor Unbill im Leben? Herzliche Grüße! H. H. Karg |
09.07.2016, 13:51 | #8 |
Liebe Ilka-Maria!
Auch bei der schwarzen Pädagogik kann das Erziehungsziel durchaus Sinn machen. Den Aussagen im Struwwelpeter kann man ja zustimmen: Tiere quälen ist Mist, mit Feuer spielen gefährlich, ADHS kein Spass, Essen notwendig, etc. Der Begriss der "schwarzen Pädagogik" bezieht sich in der Hauptsache aus die Art und Weise, mit der solche Ziele erreicht werden sollen, nämlich durch Abschreckung. So gesehen ist es durchaus gerechtfertigt, den Struwwelpeter dort einzuordnen: Für Paulinchen endet ihr Vergehen tödlich, Kinder sollen durch eine Schreckensfigur vom Daumenlutschen abgehalten werden, etc. Allerdings muss man Hoffmann zugute halten, dass diese Form der Pädagogik in seiner Zeit schlichtweg üblich war. Man muss auch anerkennen, dass er dieses Buch geschrieben hat, da er seinem Sohn etwas schenken wollte, aber auf dem Buchmarkt kein geeignetes Werk für Kinder gefunden hat. Es gab in den 1970 er Jahren einen Versuch, den Struwwelpeter umzuschreiben - das Buch heißt der "Anti-Struwwelpeter", kommt aus der politisch linken Ecke und ist durchaus amüsant zu lesen: Fiedrich quält Tiere, da er zuhause Gewalt erfährt, trifft aber glücklicherweise auf Paulinchen, die sich von ihren Eltern schon lange nichts mehr sagen lässt und beide suchen einen Kinderladen auf um sich Hilfe zu holen. Der Jäger ist hier Polizist, bekommt es statt mit einem Hasen mit einer Gruppe nacktbadender Kinder zu tun und wird am Schluss selbst Nudist, etc... Passt für die heutige Zeit nicht mehr ganz aber ist trotzdem ganz nett zu lesen. Der Struwwelpeter der Kuschelpädagogik würde nun so aussehen: - Friedrich bekommt von den Eltern eine Blindschleiche geschenkt, die er in Ruhe quälen kann, ohne dass sie ihm allzu sehr weh tut - Paulinchen fackelt nicht sich sondern nur das Haus der Eltern ab (inklusive der Katzen), die Eltern verzeihen ihr aber, da sie so froh sind, dass ihrem Goldstück nichts passiert ist. - Phillip bekommt Ritalin und seine eigene Playstation geschenkt, damit er den Eltern nicht mehr auf den Zeiger geht. - Der Jäger kann ohnehin kein Blut sehen und wird ohnmächtig, als er den Hasen anschießt - Kaspar bekommt Quetschies und Süßigkeiten, damit das Kind überhaupt was ist - Konrads Mama versucht ihrem Kleinen zu erklären, dass es mit 30 Jahren nun wirklich an der Zeit ist, das Daumenlutschen einzustellen - Der fiegende Robert fliegt nicht mit dem Regenschirm davon, sondern mit Germanwings, um sich - finanziert durch die Eltern - auf Malta mal ein Jahr Auszeit zu gönnen. - Hänschen fällt - und hier stimme ich dir zu Ilka-Maria - wegen seines Smartphones ins Wasser. Gruß Schreibfan |
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09.07.2016, 15:14 | #9 | |
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Zitat:
Wer sich einen Einblick in den Zeitgeist der 70er Jahre verschaffen will, kann dies durch Fassbinders Familienserie „Acht Stunden sind kein Tag“ erreichen. Darin sind jede Menge Konflikte, die der Krieg der Jugend gegen „die verstaubten Zöpfe von hundert Jahren“ auslöste, enthalten. Wie die anderen Frauen und Mütter in meinem Bekanntenkreis habe auch ich die damalige Literatur von A bis Z gelesen, von Rousseaus „Émile“ über Alice Millers Bücher über Schwarze Pädagogik bis hin zu Dr. Spocks „Baby Book“, A.S. Neills „Summerhill-Projekt“, Maria Montessoris Erziehungsmethoden und den Methoden der Waldorf-Schulen sowie über Arthur Janovs psychotherapeutische Behandlungsmethoden von Patienten, deren Psyche vermeintlich durch eine falsche Erziehung beschädigt war. Die Literatur zu Themen wie z.B. die Frauenbewegung und die Liebe lasse ich außen vor, obwohl es mit der Kindererziehung in Zusammenhang steht. Schwarze Pädagogik. Bei Alice Miller war das nicht Abschreckung, sondern es waren Schläge, Demütigung, Vernachlässigung und – nicht zuletzt – Misshandlung (wovon in Dr. Hoffmanns Buch nicht die Rede ist). Abschreckung ist legitim, denn wenn ich meinem Kind nicht beibringe, dass ein heranfahrendes Auto stärker ist als sein kleiner, schwacher Körper, und ein Aufprall zu seinem sofortigen Tod führen kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Erfahrung selbst zu machen – allerdings nur einmal. Wie dem auch sei: Die Auswirkungen der 70er-Jahre-Diskussionen führten nicht zu den erwarteten Ergebnissen. Bei den Eltern stellte sich immer mehr Verunsicherung ein, die Folge war ein Wechsel zwischen Duldung und hartem Durchgreifen, was die Kinder nur verstörte. Lehrerinnen konnten sich in der Grundschule nicht mehr gegen ihre ABC-Schützen durchsetzen (Lehrer hatten weniger Probleme, weil Männer eher als Autorität akzeptiert wurden und in der Grundschule weniger vertreten waren als Frauen). Kinder wurden nicht mehr in den Haushalten ihrer Freunde eingelassen, weil sie sich nicht zu benehmen wussten: Sie rülpsten durch die Gegend, rissen alle Schränke und Schubladen auf und warfen mit den unflätigsten Schimpfwörtern um sich. „Freie Erziehung“ war mit „Laissez-faire“ verwechselt worden, und die betroffenen Kinder wussten nicht, weshalb sie ausgegrenzt wurden. Dazu kam die Liberalisierung des Scheidungsgesetzes, was zu einem Anstieg der Scheidungsrate führte und den Kindern eine zusätzliche Last aufbürdete. Sie hatten keine Wurzeln mehr, sondern schlitterten auf eingeseiftem Gras. Da Kinder nicht über die Vernunft eines Erwachsenen verfügen, konnten sie die Erwartungen, die an eine „freie Erziehung“ gebunden waren, gar nicht erfüllen. Die Folge war, dass beim Überlaufen des Fasses die Milde und Duldung in krasse Strafmaßnahmen umschlug. Es gab allerdings zu früheren Zeiten einen Unterschied: Man schlug Kinder nicht mehr in der Öffentlichkeit, sondern nur noch zu Hause. Ist es da verwunderlich, dass immer weniger Menschen einem Kind, das gezüchtigt oder misshandelt wird, zu Hilfe eilen? Die Wohnung ist ein geschützter Raum, und jeder Nachbar wird es sich gut überlegen, in diesen Raum einzugreifen. Bei meiner Beschäftigung mit der damaligen Literatur bin ich auf einen Menschen gestoßen, der in Deutschland nicht populär, aber ein großartiger Pädagoge war: Janusz Korczak. Seine Aufzeichnungen über das Verhalten von Kindern und Erziehungsmethoden kamen aus der Beobachtung und Erfahrung, nicht aus der Tradition und Theorie. Nachdem ich sein Leben und Werk kannte, habe ich die gesamte Erziehungsliteratur, von Rousseau bis Montessori, in den Müll geworfen. Und das ganze Brimborium der 70er Jahre gleich mit. Mehr will ich zu diesem außerordentlichen Menschen hier nicht sagen. Ich bin sicher, dass Hans weiß, was ich meine. Geändert von Ilka-Maria (09.07.2016 um 16:46 Uhr) |
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10.07.2016, 10:35 | #10 |
Gast
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Re: Pädagogenschrecken
Liebe Ilka-Maria,
man möchte manchmal wirklich so verfahren, wie Du dies mit den Büchern veranstaltet hast, weil nicht wenige Theoretiker zu wenig in der Schule und im direkten Erziehungsprozess zu Hause waren. Auf der anderen Seite sind es gerade die GROSSEN PÄDAGOGEN, die praktisch gearbeitet haben und deren Weisheit man nicht einfach wegwerfen sollte. Pestalozzi hat beispielsweise die Psychologie als "Mutteraufmerksamkeit" bezeichnet - welch ein Wort! Und Johannes Gerson hat in Paris in außergewöhnlicher Weise gewirkt. Und von Martin Luther haben wir die Volksschule mit der ebenbürtigen Bildung von Bauernjungen undBauernmädchen bekommen, nachdem es zuvor nur Adelsschulen und Lateinschulen gegeben hat. Auch Comenius hat den Bildungsauftrag auf Jungen und Mädchen erweitert. Alexander Sutherland Neill hat mit seiner "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" die Tür weit aufgestoßen, um zu zeigen, dass Erziehungsnormen eben auch demokratisch erschlossen und gesichert werden können. Und, und, und.... Herzliche Grüße H. H. Karg |
10.07.2016, 11:10 | #11 | |
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Zitat:
das hatte sich damals so ergeben, denn an der Literatur, die den Zeitgeist der 70er Jahre prägte, kam niemand vorbei. Selbst Leute, die für Bücher nichts übrig hatten, blieben nicht verschont, denn auch im Fernsehen und im Kino wurden die Themen der Zeit abgearbeitet. Mir fällt gerade die Fernsehserie "Unser Walter" ein, in deren Mittelpunkt ein mongoloider Junge stand (damals benutzte man diesen Begriff noch, heute heißt es "Down-Syndrom"). Die Serie sollte aufklärerisch wirken und Vorurteile ausräumen, was ihr gut gelang. Sie hatte großen Erfolg, weil das Interesse der Zuschauer groß war. Leider ist eine wiederholte Ausstrahlung dieser Serie schon lange nicht mehr möglich, weil der damalige Begriffsgebrauch nicht der "political correctness" entspricht. Ist wohl auch nicht notwendig, denn niemand versteckt mehr ein Kind mit Down-Syndrom. Aber im historischen Kontext wäre die Serie immer noch interessant. Lieben Gruß und schönen Sonntag, Ilka |
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11.07.2016, 09:39 | #12 |
Gast
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Re: Pädagogenschrecken
Liebe Ilka-Maria,
das ist tatsächlich ein großes Problem, dass die Wirkungsgeschichte aus der vergangenen Zeit von zeitgeistigen Momentanhorizonten heute oftmals überhaupt nicht mehr verstanden wird. Ich denke dabei - in einem anderen Bereich - an Aufklärungsfilme von KOLLE. Jugendlichen unserer Zeit kommt wirklich die Langeweile hoch, wenn sie einen solchen Streifen sehen. Vielleicht ist das auch gut so, denn dann sind gewisse - auch manche militanten - Ideologien nicht mehr bedeutend und man erkennt, dass sich die Generationen weiterentwickeln. Liebe Grüße H. H. Karg |