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Alt 30.01.2022, 15:09   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Zwei Welten, zwei Wege

Oft vergehen Jahre, ehe der Vorhang fällt und sichtbar wird, worin das Unbehagen bestand, jenes Störgefühl, das bis zu dem Tag ungreifbar blieb, an dem wir die Gabelung erreichten und uns klar wurde, dass wir uns entscheiden mussten. Und jeder in seiner Richtung weiterging.

Die Frage, warum, begleitete mich, zerrte am Vorhang, dessen Lauf klemmte und nicht einmal einen Spalt freigab. Erst als ich genügend weit fort war und erschöpft vom Zerren abgelassen hatte, kam die Antwort wie von selbst, beinahe wie ein Wegelagerer aus dem Hinterhalt, entschlossen, mir den Vorwurf einzuprügeln, dass ich sie schon immer gewusst hatte, aber nicht sehen wollte.

Der Wegelagerer hatte recht.

Ich war nicht vorbereitet gewesen auf die Welt, in die ich mich von dir hatte führen lassen, eine Welt voller Verachtung für alles: das Werden und Vergehen und was das Dasein zwischen diesen Polen wert macht, gelebt zu werden, die Menschen, die Familie, die Liebe …

Du warst darin aufgewachsen, in dieser Welt voll untergründiger Feindseligkeit, in der Menschen und Tiere wie jedes andere Ding zu Objekten gemacht wurden, dazu da, benutzt zu werden, bis man ihrer überdrüssig wurde und sie wegwarf. Du wandtest dich anderen Objekten zu, die du „neu“ nanntest, aber sie waren nicht neu, sondern nur Ersatzstücke, bis auch sie dich nicht mehr befriedigten. Mit jedem Wechsel glaubtest du, ein neues Leben zu beginnen, bis du niedergeschlagen feststellen musstest, dass deine Illusionen immer schneller zerplatzten: Du wurdest trotzdem älter, und der Gedanke, sterblich zu sein, nagte weiter an dir. Am Ende suchtest du die Schuld für dein Leiden nicht bei dir, sondern bei allen Menschen, die du dafür ins Joch nehmen konntest: bei deinen Eltern, deinen Lehrern, deinem Vorgesetzten … und bei mir.

Hatte ich das wirklich nicht bemerkt? Oder einfach die Augen davor verschlossen?

Wie konnte mir passieren, dass ich mich wie eine Gefangene so lange an deine Welt fesseln ließ? Warum ausgerechnet ich, ein Kind der Freiheit, das in Harmonie mit der Menschheit großgeworden war? Gewiss keine völlig heile Welt, auch in meiner Familie wurde gestritten, oft sogar, bis die Fetzen flogen. Aber mit offenem Visier und ohne Ressentiments. Niemand wurde gedemütigt, und niemandem wurde die Tür auf immer zugeschlagen. Im Gegenteil: Wenn es hart auf hart ging, hielt man auf Biegen und Brechen zusammen. Meine Welt war voller Zuwendung, Eintracht und Vertrauen gewesen, ehe der Schatten deiner Welt auf sie fiel.

Als wir die Gabelung erreicht hatten, du und ich, lagen vor uns zwei Wege: Der eine war steinig und führte durch eine karge, unbelebte Landschaft. Der andere war bemoost, und an seinem Rand wuchsen Blumen, Sträucher und Bäume. Wir mussten uns trennen und wussten sofort, welcher der beiden Wege für jeden von uns bestimmt war.

30.01.2022
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Alt 31.01.2022, 14:47   #2
männlich dunkler Traum
 
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Beiträge: 1.613


... keine Handlung, nur Gedankenwiedergabe und doch habe ich es durchgelesen und bin fasziniert, wie du über solch einfache Sachen so fesselnd schreiben kannst. Ich nehme natürlich den rechten Weg, schon wegen der Mehrdeutigkeit.
P.S. Tippfehler beim zweiten Wegelager(er) irritierte mich erst ein wenig.

wünsche schöne Träume
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 31.01.2022, 15:59   #3
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.103


Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
P.S. Tippfehler beim zweiten Wegelager(er)
Danke, ist korrigiert.
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