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Alt 24.09.2021, 01:19   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Wohin mit Kritik?

„Nach Ihren bisherigen Leistungen zu urteilen, Blumberg, und danach, wie Sie sich im Unterricht aufführen, kann ich Ihnen jetzt schon sagen, dass Sie die Prüfung nicht schaffen werden. Für Sie würde ich jedenfalls …“

Florian Blumberg, mit sechzehn Jahren von der Reifeprüfung abgegangen und seit zwei Jahren in einer kaufmännischen Lehre, schien nicht weiter zuzuhören, wie er von seinem Berufsschullehrer vor der Klasse abgekanzelt wurde, sondern aktivierte sein Smartphone und las scheinbar intensiv seine Nachrichten. Die Augen der Jugendlichen waren auf ihn gerichtet, gespannt, ob die Kritik nicht doch Wirkung zeigte. Aber statt die Schultern zu senken und in sich zusammenzusacken, blieb Florian aufrecht sitzen, ohne seinen Lehrer eines Blickes zu würdigen.

Doch in Wahrheit hatte er jedes Wort vernommen, und der erste Gedanke, der ihm wie aus der Hüfte eines treffsicheren Revolverhelden in den Kopf schoss, war: „Dir Armleuchter werde ich es zeigen!“

Vergessen war, dass Florian nie Lust auf eine kaufmännische Lehre gehabt hatte. Doch sein Vater hatte ihn dazu überreden können. Ihn verband damit die Hoffnung, der Sohn würde später das elterliche Geschäft übernehmen und weiterführen. Ihm zuliebe hatte Florian eingewilligt, und schließlich war dies auch der Weg des geringsten Widerstandes gewesen, denn er hatte keine Ahnung, was er ansonsten beruflich hätte machen sollen. Eigentlich interessierte ihn so gut wie gar nichts. Mit Ausnahme seiner Gitarre. Er liebte die Popmusik, was ihm den Ansporn gegeben hatte, Unterricht zu nehmen, und manchmal komponierte er selber Songs und schrieb die Texte dazu. Doch vor der Unsicherheit einer künstlerischen Tätigkeit schreckte er zurück und behielt seine Träume für sich.

Alles was mit Schule zusammenhing, hatte ihn schon immer angewidert, und bei der Vorstellung, einmal in einem verstaubten Büro an einem Schreibtisch zu sitzen, packte ihn das Grauen. Andererseits: Er saß im gemachten Nest, der Laden der Eltern lief gut, und was zählte sonst im Leben als ein regelmäßiges, ohne Anstrengung erworbenes Einkommen …

Aber jetzt hatte der Lehrer Florians Ego angegriffen und vor der Klasse zu blamieren versucht, und die Folge war ein Motivationsschub. Da Florian nicht gerade geistig zurückgeblieben war, holte er den vernachlässigten Stoff im Handumdrehen nach. Die Prüfung bestand er nicht nur mit einer Eins, sondern sogar mit Auszeichnung. Als er sein Zertifikat in Empfang nahm, bekam sein Lehrer einen knallroten Kopf und blickte an ihm vorbei, was ihn mit tiefer Genugtuung erfüllte.

Doch danach stellte sich die alte Lustlosigkeit wieder ein, und was die Mitarbeit im elterlichen Laden anging, drückte er sich, wo er konnte. Was war passiert?

Florians Interesse an einer kaufmännischen Tätigkeit war nicht erwacht. Zwar hatte er, was als vernichtende Kritik auf ihn hätte wirken sollen, in eine Trotzreaktion umgewandelt, was zu einem positiven Ergebnis geführt hatte. Demnach musste die Kritik des Lehrers nicht als destruktiv, sondern als konstruktiv gewertet werden.

Doch die Wahrheit sah anders aus: Florian hatte nicht für sich gelernt, sondern für seinen Lehrer. Nicht, um ihm eine Freude zu machen, sondern weil er ihm die Demütigung, die er ihm vor der Klasse zugemutet hatte, heimzahlen wollte. Mit seinem Triumph und dem Verlassen der Berufsschule erlosch seine Motivation wie ein Feuer, über dem man einen Eimer Wasser ausgekippt hatte. Florian hatte einen Antagonisten gehabt, den es zu besiegen galt, denn ansonsten hätte es ihm egal sein können, ob er schlampig gearbeitet und dafür schlechte Noten bekommen hätte oder nicht. Der Laden seiner Eltern war ihm so oder so sicher, also weshalb sich anstrengen? Doch jetzt hatte sich sein Weg von dem seines Antagonisten getrennt.

Deshalb lautet die Frage: Kann ein Kritiker überhaupt ein konstruktives oder destruktives Urteil fällen? Liegt es nicht vielmehr an dem Empfänger einer Kritik, ob er sie konstruktiv nutzt oder nicht? Ist es nicht vielmehr so, dass ein Kritiker lediglich ein gerechtes oder ungerechtes Urteil fällen kann, mit dem sich der Empfänger auseinandersetzen muss, um zu prüfen, ob es wahr ist oder nicht? Vielleicht ist die negativ wirkende Kritik übertrieben, oder sie beruht auf einem völlig abweichenden Weltbild des Kritikers von dem des Kritisierten. Vielleicht ist die positiv wirkende Kritik nur Schmeichelei, dann ist für den Kritisierten höchste Vorsicht geboten, sie ernst zu nehmen.

Fazit: Die Verantwortung für den Umgang mit einer Kritik kann nur bei dem Kritisierten selbst liegen. Er selbst, nicht der Kritiker, entscheidet, ob er sie als Bestätigung oder als Angriff wertet oder ob er ihr überhaupt Bedeutung zumessen will.
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Alt 24.09.2021, 07:36   #2
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Hallo Ilka,

netter Stoff zum Nachdenken. Ich hatte nicht auf die Rubrik geschaut und wollte mich schon genüsslich in eine Geschichte vertiefen , aber das hier ist auch interessant.

Zitat:
. Als er sein Zertifikat in Empfang nahm, bekam sein Lehrer einen knallroten Kopf und blickte an ihm vorbei, was ihn mit tiefer Genugtuung erfüllte.
So schätze ich Lehrer eigentlich nicht ein. Die meisten, die ich kenne, hätten anerkennend genickt und sich gefreut, dass Florian aufgrund ihrer Motivation so gut abgeschnitten hat.
Aber das nur am Rande.

Zitat:
. Kann ein Kritiker überhaupt ein konstruktives oder destruktives Urteil fällen?
Sicher. Wenn jemand a la „Was ist das für ein Murks, den du da geschrieben hast", kritisiert (und zwar auch dann, wenn es wirklich Murks ist), ist der Ofen aus, vor allen Dingen, wenn es auch noch einen Neuling trifft, der stolz auf sein erstes Gedicht oder seine erste Geschichte ist. Eine solche Kritik ist in höchstem Maße destruktiv. Da kann der Kritiker auch nicht auf den Empfänger der Kritik schieben, dass er nichts lernen will oder nicht kritikfähig ist. Es ist kein Wunder, dass jemand, der so angegangen wird, trotzig reagiert.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.09.2021, 08:16   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
So schätze ich Lehrer eigentlich nicht ein. Die meisten, die ich kenne, hätten anerkennend genickt und sich gefreut, dass Florian aufgrund ihrer Motivation so gut abgeschnitten hat.
Aber das nur am Rande.
Guten Morgen, Silbermöwe,

genau das war meinem Ex-Mann widerfahren, und er hatte den Abschluss wirklich mit diesem grandiosen Resultat absolviert. Ich habe mir das Beispiel also nicht ausgedacht, sondern diesen Vorfall als Aufhänger für meine Überlegungen benutzt.

Das Verhalten dieses Lehrers, den ich selber kennenlernte und den ich für den Beruf als völlig ungeeignet ansah, war sicherlich nicht der Normalfall.

Danke fürs Kommentieren und einen guten Rutsch ins Wochenende.

Besten Gruß
Ilka
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Alt 24.09.2021, 12:54   #4
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Das hängt davon ab, welchen Hintergrund der Kritiker besitzt und in welchem Kontext er Kritik übt und auch wie. Es existiert definitiv didaktische Kritik, die primär fördern soll, aber nur im Rahmen, wo Förderung stattfindet.

Der Kritiker muss sich vorher fragen: "Was soll meine Kritik erreichen?". Bei dieser Frage legt der Kritiker seine Absicht fest und sollte im Regenfall vollste Kontrolle über seinen Verstand besitzen und die Worte für die Kritik weise wählen. Die Methodik eines Marcel Reich-Ranicki ist schon lange veraltet...

Ein Lehrer wird immer Kritik im Bezug der Förderung äußern, jedenfalls lernen die Lehrer es auf diese Weise im Studium.

Ein Kritiker, der ein Produkt kritisiert, sei es Kunst oder Literatur, ist etwas völlig anderes. Er gibt eine Wertung und seine Leseerfahrung wieder. Hier steht primär keine Förderung im Vordergrund. Hier sollte man trotzdem unterscheiden, ob es sich um einen erfahrenen Autor handelt oder um einen Anfänger. Je erfahrener, desto härter darf die Kritik gern sein.

Nicht der Normalfall? Sei Dir da nicht so sicher, Ilka.
Das Verfehlen des Ziels der Kritik, liegt nicht in der Verantwortung der Lehrer, sondern viel mehr in der beruflichen Überforderung dieser. Zu viele Schüler in einer Klasse, zu viel Arbeit, nicht der beste Lohn und Jugendliche, die zunehmend an Respekt verlieren. Natürlich gibt es auch Lehrer, die in einer Fleischerei besser aufgehoben wären.
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Alt 24.09.2021, 21:00   #5
männlich Krebsgestoeber
 
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David Goggins, Mitglied der Navy Seals, stellt in seiner Autobiographie dieses Konzept unter dem Namen "Taking Souls" vor. Wenn es ein Vorgesetzter auf ihn abgesehen hatte und ihm, begleitet von Entmutigungsversuchen, besonders strapaziöse Prüfungen aufhalste, wusste er immer: Wenn ich abliefere, dann wird der Herr Commander heute Abend keinen guten Sex mehr haben.

Blumberg muss also irgendwie gemerkt haben, dass seinem Lehrer viel, sogar sehr viel, an seinem Scheitern liegt. Nur deshalb konnnte er mit seinem Erfolg den gewünschten Schaden anrichten. Der Lehrer hat Blumberg seine Missgunst und seine Verbissenheit unmissverständlich subkommuniziert. Im Internet stelle ich mir das schwierig vor.


Beste Grüße

KG
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Alt 24.09.2021, 21:43   #6
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Krebsgestoeber Beitrag anzeigen
Wenn ich abliefere, dann wird der Herr Commander heute Abend keinen guten Sex mehr haben.


Danach wahrscheinlich auch nicht mehr, denn er braucht nicht mehr anzutreten.
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Alt 29.09.2021, 15:38   #7
männlich dunkler Traum
 
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"Den Tadel des Affen den konnt er verschmerzen
Das Lob einer Ziege das kränkte ihn sehr "

Zitat von Frank Schöbel, ein Eisbär im Zoo

Ich denke, so gehen viele mit Kritik um, auch ich manchmal.
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Alt 29.09.2021, 15:53   #8
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von dunkler Traum Beitrag anzeigen
Ich denke, so gehen viele mit Kritik um, auch ich manchmal.
Ich nicht. ich nehme Kritik zunächst an, ohne sie zu werten oder mich zu verteidigen. Wenn ich darüber nachgedacht habe, entscheide ich, ob sie wichtig ist oder nicht bzw. ob das "Problem" wirklich meins ist oder nicht eher dasjenige des Kritikers. Das gilt sowohl für negative wie für positive Krktik, denn letztere könnte Schmeichelei mit Hintergedanken sein.
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Alt 30.09.2021, 15:26   #9
männlich Ex-petrucci
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
denn letztere könnte Schmeichelei mit Hintergedanken sein.
Die Erfahrung musste ich leider sehr häufig machen. Der Ausgang war selten positiv.

Ich gehe mit Kritik individuell um. Meist verarbeite ich sie aber im Stillen.
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