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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 10.09.2009, 16:59   #1
Kimura
 
Dabei seit: 09/2008
Beiträge: 8

Standard Koma

Am liebsten hätte er kehrt gemacht und wäre weggelaufen.
Genau so, wie er schon oft vor Problemen einfach davon gelaufen war.
Aber nicht dieses Mal. Pascal atmete tief durch und betrat den Raum. Da lag sie. Er fühlte, wie ihm das Herz schwer wurde. Die Stille, lediglich durchbrochen von der Herz-Lungen-Maschine, die Jasmin nun noch am Leben hielt, wirkte beklemmend.
Ihre Eltern hatten ihm verboten, sie zu besuchen. Schließlich gaben sie ihm eine Mitschuld an dem, was passiert war.
So war er leider gezwungen gewesen, sich der Stationsschwester gegenüber als Bruder auszugeben.
Langsam trat er näher.
Seit drei Tagen war Jasmin jetzt in diesem Zustand.
Vor ihrem Bett blieb er stehen. Er erschauderte, als er sie betrachtete. Für einen Moment wirkte sie wie tot. Doch dann hob und senkte sich leicht ihr Brustkorb.
Pascal atmete auf. Jasmin durfte noch nicht sterben. Sie war doch erst zweiundzwanzig. Die bewusstlose junge Frau war blass, verletzlich. Sie erinnerte ihn an eine zerbrochene Gliederpuppe. Er setzte sich in den Stuhl neben ihrem Bett und starrte sie traurig an. Trotz ihres Zustandes war sie immer noch wunderschön. Sehr dünn vielleicht, aber dennoch ungemein schön.
Am Wochenende war sie mit einer Freundin in der Disco gewesen, als es passierte. Sie unterhielt sich, lachte - und im nächsten Moment brach sie einfach bewusstlos zusammen.
Ein Pulk von schaulustigen Gästen war sofort zur Stelle. Aber nicht einer war darunter, der ihr geholfen hätte. Niemand praktizierte erste Hilfe bei der jungen Frau. Niemand rief den Notarzt.
Sie standen nur da und ließen dumme Sprüche ab, von wegen, dass sie wahrscheinlich Drogen genommen oder etwas zu viel getrunken habe. Schließlich ließen sich zwei Gäste dazu herab, sie wenigstens nach draußen vor die Disco zu tragen. Frische Luft täte ihr sicherlich gut.
Als sie dennoch bewusstlos blieb, entschloss man doch, endlich den Notarzt zu rufen. Fünfzehn Minuten nachdem sie umgekippt war.
Der Rettungswagen benötigte nochmals zwanzig Minuten.
Fünfunddreißig Minuten, bevor reaktivierende Maßnahmen eingeleitet wurden, bevor sie endlich beatmet wurde.
Im Krankenhaus konnten die Ärzte nur noch das Koma feststellen. Das Kind, das sie erwartete, wurde sofort abgetrieben. Jasmin war zu schwach, benötigte die marginalen Kraftreserven nun für sich selbst.
Pascal schüttelte den Kopf. Sie hätte niemals mehr schwanger werden dürfen.
Die erste Geburt, bei der ihr gemeinsamer Sohn Julian zur Welt kam, war schon ein Risiko gewesen. Trotzdem hatte ihr Hausarzt es nicht für nötig befunden, sie zu warnen.
Jasmin war immer schon superschlank gewesen, bereits mit acht. Pascal lächelte traurig. So lange kannte er sie schon. Ihre und seine Mutter waren miteinander befreundet gewesen und hatten Jasmin und ihn damals mit zu einem Kelly Family -Konzert in der Dortmunder Westfalenhalle genommen. Während um ihn herum Tausende von Fans kreischten, hatte Pascal nur Augen für sie gehabt. Jasmin war wie eine dieser Elfen aus seinen geliebten Büchern für ihn. Zart, zerbrechlich, anmutig und bezaubernd. Ein Mädchen, wie es ihm vorher niemals begegnet war. Und schon vom allerersten Moment ihrer Bekanntschaft an war Pascal davon überzeugt: dieses Mädchen würde er einmal heiraten. Eines Tages.
Und so war es auch gekommen.
Sein Lächeln verschwand, als eine andere, weniger schöne Erinnerung in sein Gedächtnis trat. Er musste daran denken, wie er sie behandelt hatte in ihrer gemeinsamen Ehe.
Er war nicht gut zu ihr gewesen, hatte es ausgenutzt, dass sie schwach und beeinflussbar, unsicher und ein wenig naiv war. Er wusste selbst nicht, warum er sie so mies behandelt hatte. Vielleicht hatte es ihn auf Dauer gereizt, dass er immer alles selbst und alleine entscheiden musste. Dass er ständig für sie mitdenken musste und sie ihm ewig wie ein hilfloses Kind nachlief. Trotzdem, sie hatte es nicht verdient.
Er konnte verstehen, dass sie zickig wurde und ihn eines Tages verließ. Das hatte er verdient. Wenn sie ihm doch nur Julian gelassen hätte.
Das Geräusch der Herz-Lungen-Maschine hallte in seinen Ohren. Die Ärzte sagten, dass weit über neunzig Prozent ihres Gehirns irreparabel zerstört seien. Sollte sie jemals wieder zu sich kommen - was nach Aussage der Doktoren fast völlig auszuschließen war - wäre sie nicht mehr die Person, die sie gewesen war. Die lange Zeit der Sauerstoffunterversorgung hatte zu viele Zellen absterben lassen und dafür gesorgt, dass sie niemanden mehr erkennen und völlig wesensverändert sein würde, geistig schwerstbehindert.
Sie war praktisch gehirntot. Allein die Maschine erhielt sie noch am Leben. Doch was für ein Leben war dies.
Und trotzdem... Irgendwie hoffte Pascal immer noch auf ein Wunder. Was, wenn sie doch wieder zu sich kommen sollte? Wenn sie doch noch die Person geblieben war, die er kannte?
Sie reagierte immer noch auf Berührungen. Bekam sie vielleicht doch noch alles mit? Wusste sie, wer gerade bei ihr war? Was, wenn sie völlig bei Bewusstsein und nur außerstande war, es jemandem mitzuteilen?
Unfähig dazu, einen Muskel zu bewegen, kein Auge, keinen Finger zu rühren... Lebendig begraben im eigenen Körper...
Pascal erschrak, als sich eine Hand von hinten auf seine Schulter legte. Er fuhr herum und starrte in das Gesicht eines Dreizehnjährigen. „Simon!”
„Was machst du denn hier?”, fragte der Junge und musterte ihn überrascht. „Wenn Mama und Papa dich hier sehen, ist der Teufel los!”
„Ich weiß!”
„Und trotzdem bist du hier?” Der Junge nickte anerkennend. „Respekt!”
„Deine Eltern... sind sie auch hier?”
Der Kleine schüttelte den Kopf. „Sie wissen nicht, dass ich hier bin.”
„Und die Schwestern haben dich ohne Begleitung hier rein gelassen?”
„Haben sie nicht.” Er grinste schief.
„Du hast dich rein geschlichen?” Pascal musste lächeln. „Du bist wirklich ein kleines Schlitzohr.”
„War keine große Aktion”, winkte Simon die Sache ab. „Sie ist ja schließlich keine Mafia-Kronzeugin, die von Bodyguards bewacht wird. Außerdem wollte ich mal mit Jasmin alleine sein.”
„Und jetzt bin ich hier. Tut mir Leid. Soll ich lieber gehen?”
Simon senkte den Blick. „Das ist schon okay.”
„Verrätst du mich?”
Der Junge überlegte kurz. „Nein. Nicht, wenn du mir erzählst, was du hier willst.”
„Na, was wohl. Ich wollte sie sehen. Abschied nehmen.”
„Papa sagt, du wärst schuld daran, weil du sie so aufgeregt hattest.”
„Glaubst du das auch?”
„Weiß nicht”, antwortete Simon und blickte ihm in die Augen. „Vielleicht. Ich meine, ihr hattet Streit und du hast... du hast ihr sehr weh getan.”
„Ich weiß. Du hast Recht. Aber glaubst du, dass ich das hier tatsächlich wollte? Diesen Zustand?”
Simon sah ihn nachdenklich an. Dann schüttelte er den Kopf. „Niemand wollte das.“ Sein Blick wanderte über den leblosen Körper seiner Schwester. „Nächste Woche habe ich Geburtstag. Ich hätte so gerne mit ihr gefeiert.” Tränen traten in seine Augen. „Vorgestern war sie noch an vierzehn Maschinen angeschlossen”, erzählte er mit zittriger Stimme. „Doch die Ärzte haben sie nacheinander alle ausgeschaltet. Jetzt sind nur noch drei Maschinen in Betrieb. Nur noch drei...”
Seine Stimme brach weg. „Und meine Eltern sollen jetzt entscheiden, wann auch diese letzten Maschinen abgeschaltet werden sollen.” Simon atmete tief durch. „Ich habe Papa noch nie weinen sehen. Gestern Abend war es das erste Mal, solange ich denken kann. Er kniete vor dem Bett und betete zu Gott. Das hat er nie vorher getan. Er hat noch nie an Gott geglaubt.”
Simon spielte mit seinen Fingern. „Mama sitzt stundenlang in der Küche und schaut in die Luft. Dabei kreist sie so komisch mit dem Kopf. Ich habe versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie antwortet mir nicht. Sie macht mir Angst. “
„Es muss sehr, sehr schwer für die Beiden sein. Keine Eltern wollen den Tod ihres Kindes miterleben.”
Simons Kopf ruckte hoch. „Die Ärzte sagen aber, sie wäre noch nicht tot.”
„Du hast Recht. Entschuldige, ich wollte nicht...”
„Ich denke, sie haben gelogen. Ich glaube, sie war schon tot, als sie ins Krankenhaus kam. Vielleicht starb sie schon im Cafè.”
„Warum sollten die Ärzte denn lügen?”
„Vielleicht deshalb, um meinen Eltern und mir die Gelegenheit zu geben, uns in Ruhe von ihr zu verabschieden.”
Pascal schluckte. Simon war schon immer ein sehr aufgeweckter Junge gewesen, der viel beobachtete und nachdachte. Dennoch erschreckte ihn diese nüchterne, schon sehr erwachsene Betrachtungsweise des Dreizehnjährigen in diesem Moment. Denn aus dem Mund eines Kindes wirkten diese Worte wie eine absolut reine, schneidende Wahrheit.
„Aber ihr Herz schlägt noch”, versuchte Pascal dem Jungen Mut zu machen.
„Wegen der Maschinen.” Simon musterte Pascal aus tränenfeuchten Augen. „Schau` dir ihre Hände und Füße an, den Hals... Das Blut beginnt sich da zu sammeln, die Haut schwillt an und verfärbt sich. Ich gucke oft mit Papa ´Dr. House´, und da ist das nie ein gutes Zeichen.“
Er lächelte zwar, aber es war ein tief trauriges, verzweifeltes Lächeln. „Glaubst du an Gott?”
Pascal zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Manchmal möchte ich schon an ihn glauben, aber... “
„Aber?”
„Dann geschehen wieder Ereignisse wie diese und dann... Das macht es schwierig für mich.”
Simon nickte. „Ich habe viel darüber nachgedacht in den letzten Tagen. Was, wenn es wirklich ein Leben nach dem Tod gibt? Was, wenn diese Maschinen Jasmin davon abhalten, es zu beginnen? Vielleicht halten sie ihre Seele hier in ihrem toten Körper gefangen...”
„Du solltest nicht an so etwas denken. Solche Gedanken machen dich nur fertig und...”
„Weißt du, was mich fertig macht? Jasmin so zu sehen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie noch immer lachen. Ich sehe sie mit ihrer Mädchenband singen, tanzen... Dann öffne ich die Augen und erblicke eine leblose Schaufensterpuppe, die mal meine Schwester gewesen ist.“ Simon weinte. „Mich macht fertig, dass meine Eltern nur noch heulen und streiten. Jeder gibt dem anderen die Schuld, dass es dazu kam. Mich macht fertig, dass mich alle nur noch mitleidig ansehen: die Nachbarn, die Lehrer, die Schüler.”
Pascal legte seinen Arm um die Schulter des Jungen und zog ihn an sich heran. Simon ließ es geschehen und schluchzte leise. „Ich habe ihren Gesang geliebt”, erinnerte sich Pascal. „Besonders den Song ´The Last Unicorn´. Niemand sang ihn so wie sie.”
Simon lächelte traurig. „Stimmt. Das war IHR Lied. Sie hat es so geliebt.”
“WAS MACHT IHR DENN HIER?”
Pascal und Simon fuhren aufgeschreckt herum.
Erschrocken starrten sie auf den sehr zornig dreinblickenden, kräftig gebauten Mann mit dem Schnauzer, der einen rothaarigen Dreijährigen an der Hand hielt. Es war Julian - Pascals und Jasmins gemeinsamer Sohn.
„Papa!“, rief Simon und stellte sich schnell vor Pascal, als sein Vater den kleinen Julian losließ und wie ein wütender Bulle auf den jungen Mann zustürmte. „Du darfst ihm nichts tun!”
„Dann sollte er lieber schnell verschwinden!”, schnaubte sein Vater, der sich nur mit sichtlicher Mühe beherrschen konnte.
„Können wir draußen reden?”, fragte Pascal mit einem Blick auf die beiden Kinder.
„Mit dir? Ich wüsste nicht, worüber wir zu reden hätten!”
„Bitte!”
„Rede mit ihm!”, mischte sich Simon ein.
„Was geht dich das an? Und weshalb setzt du dich überhaupt so für dieses Arschloch ein? Wer hat dir außerdem erlaubt, ins Krankenhaus zu fahren, ich...”
„Ich will mit ihr alleine sein. Scheiße, sie ist meine Schwester und sie stirbt. Ich möchte mich von ihr verabschieden. Wenn ihr euch unbedingt prügeln müsst, dann macht das draußen. ABER NICHT VOR IHR!”
„Du...“ Sein Vater blickte ihn betreten an. „Du hast Recht. Entschuldige.” Er blickte Pascal an. „Lass uns auf den Gang gehen. Julian bleibt solange bei dir, Simon.”
Pascal nickte und folgte ihm hinaus. Leise zogen sie die Tür hinter sich zu.
Simon lächelte seinen kleinen Neffen freundlich an. „Komm her, Julian. Sag` deiner Mama Hallo.”
Der Dreijährige trat langsam näher, setzte sich neben Simon und blickte ihn mit großen Augen an.
„Ist Mama krank?”
Simon nickte, legte den Arm um Julian und zog ihn fest an sich. „Ja, das ist sie.” Er küsste ihn auf den Kopf. „Aha!”, nickte der Kleine, überlegte kurz und starrte Simon erneut an: „Du, weißt du was? Ich hab` im Kindergarten ein Bild für Mama gemalt.”
„Das ist toll”, schluckte Simon schwer. „Hast du es denn dabei?” Julian nickte eifrig und zog aus seiner Latzhosentasche ein zerknittertes, schlecht zusammengefaltetes Stück Papier hervor.
Simons Hände zitterten, als er es in die Hand nahm.
„Klasse. Das hast du schön gemacht. Darüber freut sich deine Mama ganz bestimmt. Weißt du was? Ich lege es hier auf den Tisch, so dass sie es sich angucken kann, wenn sie wach wird.”

Die beiden Männer waren alleine auf dem Krankenhausflur. Die Schwestern waren wohl gerade auf einem ihrer abendlichen Rundgänge.
Pascal wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als ihm Simons Vater zuvor kam: „Und jetzt verschwinde!”
„Ralf, bitte, ich...”
„Sei froh, dass ich nicht den Sicherheitsdienst rufe. Geh` einfach. Und lass dich nie wieder hier oder bei uns blicken.”
„Ob du es glaubst oder nicht, ich habe sie aufrichtig geliebt.”
Ralf stürzte sich auf ihn, packte ihn mit beiden Händen und drückte ihn an die Wand.
„Wenn du noch einmal von Liebe zu meiner Tochter sprichst, vergesse ich mich. Du hast sie behandelt wie ein Stück Scheiße und hast nun auch noch den Nerv dazu von Liebe zu reden? Du mieser, kleiner Pisser...” Er schüttelte den jungen Mann. „Wie konntest du ihr das antun?”

Simon ließ Julian los. „Bleib` mal hier sitzen, ja.“ Er stand auf, setzte sich auf die Bettkante und sah Jasmin lange an. Er blickte zwischen ihr und Julian hin und her, der gähnte und ein Fingerspiel begann. Simon sah auf die Schläuche, die in Nase und Mund seiner Schwester führten. Es war ein furchtbarer Anblick. „Dein Koma hat alles verändert”, sagte er fast flüsternd und begann damit, ihren Arm zu streicheln. „Ich glaube nicht, dass es zuhause jemals wieder so wird, wie es vor deinem Unfall war. Aber ich muss es wenigstens versuchen.“ Simon strich ihr über die Wange. „Obwohl wir uns manchmal gestritten haben, hieß das nicht, dass ich dich nicht mochte. Ich hänge an dir und irgendwie... ich meine, du bist meine Schwester... Was ich sagen will, ist... Ich liebe dich!”
Er zitterte, als er die Hand zurückzog.


„Hör` auf, verdammt!”, wurde Pascal wütend und riss sich los. „Ja, ich habe Fehler gemacht und ich habe sie auch oft echt mies behandelt. Das weiß ich selber. Was glaubst du, warum ich hier bin? Ich werde mir im Spiegel nie mehr ins Gesicht schauen können, wenn ich nicht wenigstens den Versuch mache, mich bei ihr zu entschuldigen, solange sie noch...”
„Dafür ist es jetzt zu spät.” Ralf atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Er blickte den jungen Mann an. Nicht mehr wütend oder hasserfüllt, sondern einfach nur noch traurig.
„Niemand weiß, wie viel Jasmin wirklich noch mitbekommt”, entgegnete Pascal. „Wenn auch nur die minimalste Chance besteht, will ich diese wenigstens versuchen.”
Ralf schüttelte den Kopf. „Dumm gelaufen, denn du wirst dieses Zimmer nicht noch einmal betreten, dafür werde ich sorgen.”

„Die Ärzte sagen, dass Mama und Papa entscheiden müssen, wann du gehen darfst...”, sprach Simon weiter auf seine Schwester ein. „Aber es ist zu schwer für sie. Sie schaffen das nicht, weißt du? Deswegen...”
Er zog den ersten Stecker.
„...werde ich es...”
Der zweite Stecker fiel zu Boden.
„...für sie tun.”
Er zog den letzten Stecker. Dann beugte sich Simon über sie und küsste ihre Stirn. „Du brauchst nicht mehr für uns durchzuhalten. Du kannst jetzt endlich loslassen und gehen.“ Er lächelte traurig, dann senkte er das Kinn auf die Brust und schluchzte.
Der kleine Julian zupfte an Simons Pullover. „Was hat Mama?”
Simon erschrak. Den Kleinen hatte er ja völlig vergessen. Er musste sich beherrschen, um die Fassung zu behalten. Er zwang sich zur Ruhe und zog die Nase hoch. „Deine Mama schläft jetzt”, erklärte er und beugte sich zu dem Dreijährigen runter.
„Kannst du sie wachmachen?”
„Nein!” sagte er sanft und legte seinem kleinen Neffen die Hände auf die Schultern. „Und das will sie auch gar nicht.”
„Will sie nicht mehr meine Mama sein?”
„Sie wird immer deine Mama sein. Und sie wird immer für dich da sein. Auch wenn du sie nicht mehr siehst. Sie hat dich sehr lieb.”
„Ist Mama tot?”
„Ja.”
„Ah. Und wann kommt Mama wieder?”
„Nachts, wenn du die Augen geschlossen hast. Sie wird dich bestimmt in deinen Träumen besuchen.”
Julian lächelte. Dann umarmte er Simon und schmiegte sich an seinen jungen Onkel.


„Was auch immer ich verbockt hab`, es ist nicht meine Schuld, dass sie jetzt dort drinnen liegt!”, stellte Pascal klar. „Wer weiß schon, was wirklich passiert ist? Vielleicht war sie einfach zu schwach, ihr Gewicht zu niedrig, vielleicht hat ihr jemand etwas ins Getränk getan...”
„Keine Drogen, kein Alkohol!” schüttelte Ralf den Kopf. „Ein angeborener Herzfehler, der nie erkannt wurde.”
Er lachte voller Spott. „So viele Ärzte hat sie im Laufe ihres Lebens aufgesucht, so kränklich, wie sie oft war. Aber nicht einer von diesen Versagern hat etwas bemerkt...” Sein Lachen verwandelte sich in ein Schluchzen. Pascal legte seine Hand auf den Arm des völlig fertigen Mannes. „Hey, da kann niemand was...” „PACK MICH NICHT AN!” , fuhr Ralf ihn an und zog seinen Arm weg. „ICH WILL KEIN MITLEID VON DIR!”
„HÖRT AUF! HÖRT ENDLICH AUF!”, ertönte Simons Stimme. Die beiden Männer blickten den Jungen irritiert an. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass er mittlerweile aus dem Zimmer getreten war. Doch bevor sie auf ihn reagieren konnten, kamen zwei Krankenschwestern aufgeregt angerannt, gefolgt von einem Arzt.
„Was ist hier los?” rief der Doktor, während er in das Zimmer von Jasmin stürmte.
„Es ist vorbei”, stellte Simon leise fest und blickte Pascal und Ralf an. Pascal holte erschrocken Luft, als er begriff, was geschehen war. „Deswegen bist du noch mal hierher gekommen....”, hauchte er fassungslos.
Der Dreizehnjährige sah ihn seltsam ruhig an. „Du doch ebenso, oder nicht?”
Pascal presste die Lippen zusammen und nickte.
„Simon!”, sprach sein Vater und blickte ihn ungläubig an. „Was...”
Der Junge sah seinen Vater an und Tränen stürzten in seine Augen. Seine Lippen zitterten. „Papa!” Dann lief er auf seinen Vater zu und sprang ihm in die Arme.
Simon umarmte ihn, drückte ihn, als wolle er ihn nie wieder loslassen. „Ich habe sie gehen lassen”, flüsterte er. „Sie ist frei. Sie ist endlich frei.”
Er schloss die Augen. „Und wir auch.”
Sein Vater atmete tief durch, schluckte. Er brauchte einen Moment, um Vorgefallene zu verstehen. Aber dann schloss auch er die Augen, die Umarmung seines Sohnes erwidernd.

Gewidmet Nadine Ross ( -1985-2007).
Kimura ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.09.2009, 19:47   #2
weiblich Ex-xMarii
abgemeldet
 
Dabei seit: 09/2009
Beiträge: 7

Sehr ergreifende Geschichte! Absolut traurig.. Wirklich schön geschrieben.

Liebe Grüße xMarii
Ex-xMarii ist offline   Mit Zitat antworten
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