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Alt 20.11.2012, 20:13   #1
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Standard Winterspeck oder Nestwärme?

Eine kleine Kindergeschichte.

Winterspeck oder Nestwärme?

Schon seit einer ganzen Weile kauerte Keck so flach wie möglich im giftgrünem Gras. Eine Windböe zerzauste sein kuscheliges, graues Fell und die von ihr ausgehende Kälte drang bis an seine Haut und ließ ihn leicht frösteln. Dass Temperaturen nun mit jedem Tag stetig sanken, war vor allem an den länger werdenden Jacken und dem festeren Schuhwerk der Menschen zu erkennen. Heute war es ihm absolut zuwider, dieses Warten. Dieses ewige im Rasen hocken und Lauern. Am liebsten wäre Keck einfach aufgestanden, um sich mit Vergnüglicherem zu beschäftigen. Wie gern würde er jetzt in einem der vielen Bäume sitzen und durch die Lücken des noch dichten Blätterwerks das muntere Treiben unten beobachten. Doch dann würde es zu lange dauern bis er wieder unten war. Wenn die Parkbesucher ihre Decken zusammenpackten und gingen, dann waren Tauben, Füchse und nicht zu Letzt auch andere Eichhörnchen schnell zur Stelle, um sich deren achtlos liegengelassene Leckereien zu schnappen. Diese „Leckereien“ bestanden meist nur aus einzelnen, heruntergefallenen Pommes, von Würmern zerfressenen Äpfeln und anderen Resten. Aber bessere Nahrung war in diesem Park nicht zu finden. Es gab keine dieser Bäume, die Eicheln, Nüsse oder andere Früchte trugen. Und so kauerten Keck und seine Artgenossen oft viele Stunden am Tag in der Nähe der Menschen, um ihre tägliche Nahrung und darüber hinaus die Vorräte für den Winter zusammen zu sammeln.
Kecks Magen fing an zu knurren. „Es schmeckt scheußlich.“, dachte er. „Sie lassen nur das übrig, was sie nicht mehr mögen. Und dafür sitze ich stundenlang im Gras und warte?“ Er dachte darüber nach ein Tabu zu brechen „Und wenn ich nun nicht einfach hier warte? So gefährlich können sie gar nicht sein, dass ich weiter diesen Abfall esse“ Keck sah sich um. Gleich zwei Meter neben ihm hatte auf einer roten Parkbank ein altes Menschenweibchen platz genommen. Sie war in eine Zeitung vertieft. Und gleich neben ihr lag auf einem kleinen Pappteller ein saftiges Sandwich. Keck nahm mit der Nase in der Luft schnuppernd sogar den frischen Duft des Kopfsalates zwischen den beiden Weißbrotscheiben war. Seine Muskeln verhärteten sich und die Ohren spitzten sich in freudiger Erwartung. Langsam und in geduckter Haltung tastete er sich an die Parkbank heran. Mit einem Satz landete er auf dem Pappteller und griff sich mit beiden Vorderpfoten das Sandwich. Aus dem Augenwinkel erblickte die alte Dame das Tierchen und konnte ihm gerade noch in die frech aufblitzenden Augen sehen und einen hellen, krächzenden Schrei der Überraschung ausstoßen, da war es auch schon zwischen dem dichten Geäst eines nahestehenden Baumes verschwunden. Für einen Moment schien der ganze Park einzufrieren. Die beiden Tauben, die sich eben noch laut gurrend, um ein Stückchen Bratwurst gestritten hatten, ließen es zeitgleich fallen und starrten verwundert erst auf das schreiende Menschenweibchen und dann auf das flüchtende Eichhörnchen mit dem riesigen Sandwich im Maul. Ein paar von Kecks Freunden steckten die Köpfe aus dem Gras und riefen seinen Namen.
Grinsend beobachtete Keck von einem Ast aus das Geschehen auf der Wiese. Fast alle Eichhörnchen verließen ihre Positionen. Das alte Menschenweibchen las inzwischen weiter in der Zeitung, als wäre nichts geschehen. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Melody kam völlig außer Atem in Kecks Baumkrone geklettert. Hinter ihr standen und saßen nun weitere Eichhörnchen, die Keck zornig beäugten. Etwas irritiert versuchte Keck sie zu beschwichtigen: „Ich war es einfach leid jedes mal ewig zu lauern, bevor ich mir etwas zu Essen holen kann. Außerdem ist dieser Müll, den sie uns hinterlassen widerlich!“ Er verzog angeekelt das Gesicht, um dem gesagten Nachdruck zu verleihen. „Du weist genau, dass es zu gefährlich ist sich den Menschen zu nähern. Und außerdem leben wir schon viele Jahre gut mit den Geschenken, die sie für uns liegenlassen.“ Keck verstand Melodys Zorn in keinster Weise. “Ihr könnt ja ruhig weiter Abfall zusammen sammeln, wenn ihr zu feige seit, um euch das gute Essen zu besorgen Ich habe eine neue, bessere Art entdeckt mich zu ernähren”, mit diesen Worten steckte Keck sich das inzwischen halb aufgegessene Sandwich wieder ins Maul und kletterte mit hoch erhobenen Schweif den Stamm hinunter.

In den nächsten Tagen fragten Melody und die anderen Keck noch oft, ob er wieder mit ihnen zusammen Futter sammeln würde und warnten ihn, wie gefährlich Menschen sein konnten, doch Keck konnte über diese Versuche ihn umzustimmen nur lachen. Seine Freunde platzten sicher vor Neid. Schließlich hatte er jetzt einen viel größeren Wintervorrat als sie alle zusammen. Keck brauchte sie nicht. Er kam gut allein klar. Sein großer Mut und seine, wie er fand, überdurchschnittliche Intelligenz machten ihn zu einem erfolgreichen Eichhörnchen, welches den anderen haushoch überlegen war. Der Essensvorrat in seiner Baumhöhle wuchs jeden Tag. Nur das beste bewahrte er dort auf. Viele Kekse, ungeöffnete Wahlnusstüten, Erdnussschachteln, Gummibärchen und andere solcher haltbaren Leckerbissen nannte er voller stolz sein Eigentum. Oft hatte er sie schon seinen Artgenossen präsentiert, die mächtig staunten und ihm etwas von ihren eigenen kargen Vorräten vor jammerten. Doch Keck gab niemals jemandem etwas ab. Denn schließlich warnten sie ihn ständig nur, sich nicht in diese Gefahr zu begeben, anstatt ihm zu seinen Erfolgen zu gratulieren.
An diesem Morgen war Keck gelangweilt. Er hatte heute wieder viele gute Lebensmittel von alten Menschen, verliebten Menschenpäärchen und Menschenmüttern mit ihrem Nachwuchs im Arm gestohlen. Er suchte sich immer solche Opfer aus, die zu beschäftigt mit anderen Dingen waren, um ihn zu beachten, denn obwohl er äußerst mutig war, war dennoch eine gewisse Angst vor den eigentlich doch so harmlosen Menschen in ihm geblieben. Diese Angst versuchte er sich möglichst nicht einzugestehen. Sonst fühlte er sich so schwach, wie diese Angsthörnchen, die den ganzen Tag im Gras hockend auf die Reste warteten.
Der Park war ruhig an diesem Tag. Keck lungerte auf der roten Parkbank herum und ließ den Blick umherschweifen. Etwa zehn Meter neben ihm standen zwei uralte Menschen auf ihre Gehstöcke gebückt am Teich und fütterten die Enten mit vermutlich steinhartem Brot. Sie reizten Keck nicht. Er suchte heute nach einer echten Herausforderung. Er wartete. Doch es liefen nur harmlose, leicht auszutricksende Opfer an seiner Parkbank vorbei. Keck wollte bereits aufgeben und sich das steinharte Brot schnappen, welches eigentlich für die Enten bestimmt war, da vernahm er lautes Lachen zu seiner linken. Dort saß eine kleinere Gruppe halbwüchsiger Menschen im Kreis um eine Picknickdecke herum. Auf dieser war so gut wie alles vertreten, was Keck gern aß. Frisches Obst war gemischt mit Schokoladenriegeln und Butterkeksen auf der ganzen Decke verstreut. Doch was Kecks Aufmerksamkeit wirklich weckte war der Blaubeerstreuselkuchen, der umgeben von den übrigen Süßigkeiten, wie eine Sonne umkreist von Planeten, im Zentrum stand. Es würde nicht leicht werden, denn zwischen den Menschen war keine Lücke zum hinein und wieder hinaus schlüpfen auszumachen. Doch Keck war entschlossen. Langsam schlich er sich heran, wie er es schon hundertmal zuvor getan hatte. Er versteckte sich hinter dem breiten Rücken eines Menschen um den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Aber es würde keinen richtigen Zeitpunkt für so etwas geben. Also beschloss er für einen kurzen Moment alles zu riskieren. Er sprang hinter seiner Deckung hervor und landete mitten im Kreis neben dem Kuchen. Die allgemeine Überraschung seiner Opfer würde nicht lange vorhalten, dessen war sich das Eichhörnchen Bewusst. Er huschte zum Kuchen und stellte entsetzt fest, dass er noch nicht angeschnitten war. Trotzdem zerrte er daran,denn nach dieser Heldentat wollte Keck sich einfach nicht mit einfachem Obst oder Schokolade zufrieden geben. Gerade als er es geschafft hatte einen Brösel vom Kuchen abzubrechen, spürte er, wie ihn eine Hand am Schweif packte und in die Luft hob. Den Brösel noch immer fest in den Pfoten bäumte er sich wütend auf und schnappte mit seinen scharfkantigen Zähnchen knapp neben der Hand ins Leere. Während er verzweifelt versuchte seinen Angreifer abzuschütteln drangen die aufgeregten Schreie der Menschen um ihn herum nur leise wie aus der Ferne an sein Ohr.
Plötzlich wurde alles schwarz. Die Menschen waren genauso verschwunden, wie der grüne Park und der Blaubeerstreuselkuchen. Alle Geräusche klangen gedämpft. Das sonst allgegenwärtige Vogelgezwitscher war kaum noch zu hören. Keck streckte die Pfoten aus und stieß sofort gegen eine Stoffwand, die auf seinen Druck hin leicht nachgab. Zu allen Seiten war sie das Einzige, was er ertasten konnte. So gefangen rollte er sich zusammen und weinte bitterlich.

Eules Herz hämmerte wie wild. Lang war es her, dass sie das letzte Mal so schnell flog. Die ganze Zeit rief sie dabei so laut sie konnte, um so viele Eichhörnchen wie möglich zu informieren. Bei ihrer ungeschickten Landung riss sie ein paar Äste von der Baumkrone, die zu einem Großteil in ihrem Gefieder hängen blieben. Bald drang aufgeregtes Füßchentrippeln zu ihr herauf und etwa ein dutzend grauer Eichhörnchen verteilten sich auf die Äste unter ihr. „Gut, dass ihr alle erschienen seid. Ich habe euch etwas wichtiges zu berichten.“ Eules Stimme war so sanft und klar, wie das entfernte Läuten der Glocken im Big Ben. „Ich habe eben mit angesehen, wie euer kleiner freund Keck von den Menschen gefangen genommen wurde.“ Leises Murmeln breitete sich unten bei den Eichhörnchen aus. „Wir haben ihm immer davon abgeraten“, „Er hat es ja in Kauf genommen“, „Dieser Angeber hat unverantwortlich gehandelt“, „Warum sollten wir ihn retten?“
So und ähnlich redeten sie aufgeregt auf Eule ein. Als sie davon genug hatte erhob sie die Stimme. „Auch meinen alten Augen ist nicht entgangen, welche schweren Fehler Keck in der letzten Zeit begangen hat. Ich kann eure Wut nachvollziehen. Aber Ihr dürft dabei nicht vergessen, dass Keck trotz allem euer Freund ist und, dies schon sehr lange. Sicher, er hat Fehler gemacht, hat sich vom rechten Pfad abbringen lassen, indem er seiner Eitelkeit erlag. Doch ich denke, dass er aus seiner Erfahrung lernen wird.“ Dies überzeugte die Eichhörnchen und sie machten sich auf ihren Freund zu retten.

Drei Tage später war im Londoner Hydepark wieder Ruhe eingekehrt. Die Bäume warfen immer mehr Blätter ab und Kälte begann sich in jedem noch so abgelegenen Winkel auszubreiten Alle Eichhörnchen lauerten schon seit Tagesanbruch wie gewohnt im hohen Gras. Alle außer Keck. Der war gerade damit Beschäftigt seinen Wintervorrat umzusiedeln. Und während er Kekse, Nüsse und Schokolade möglichst gleich auf die Höhlen seiner Freunde verteilte, freute er sich schon darauf, wie sie sich im Winter alle aneinander kuscheln konnten, um der Kälte zu entgehen. Eines hatte Keck inzwischen begriffen: So mutig und intelligent ein Einzelner auch sein konnte, nutzte ihm das alles nichts, wenn er keine Freunde hatte, die ihm in schweren Zeiten zur Seite standen.


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