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Alt 08.03.2021, 19:42   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Das Monster

„Was ist denn das für eine grässliche Kreatur?“ Mit ihrem Zeigefinger, dessen überlanger Nagel dunkelrot lackiert war, stach Nadine meine Musch wie mit einer opfergetränkten Degenspitze tot.

Stolz hatte ich Nadine mein neues Bett vorgeführt, für das ich lange gespart hatte: Messing mit aufwendigem Dekor, ein Traum aus Sultans Eintausend-Plus-Nacht, sündhaft teuer, und nur für mich allein. Natürlich hatte sie, meine beste Freundin, gefrotzelt. Sie war ja deshalb meine beste Freundin, um bis zur Schmerzgrenze ehrlich zu sein. „Exklusiv für deinen Arsch? Ich hätte Besseres mit dem Geld angefangen“, rieb sie mir unter die Nase.

„So? Was denn?“

„Teure Klamotten. Extravaganz und so. Männer lieben das. In so ein Bett könnte ich jeden kriegen, aber mit Schminke und dem richtigen Fummel funktioniert das auch, ohne erst ein Jahr lang Geldhäufchen zu horten.“

Männer!

„Nadine“, schnaubte ich sie an, „wann begreifst du es endlich: Ich wollte ein schönes Schlafzimmer haben und in einem Bett liegen, das mir gefällt. Mir ganz allein.“

„Du spinnst“, bellte sie mich an, „geht zum Psychodoktor und lass dich durch den Fleischwolf drehen. Bei dir stimmt‘ s nicht. Schon mal etwas vom Unterbewusstsein gehört?“ Noch einmal stach sie mit ihrem signalroten Zeigefinger Musch mausetot: „Und dann noch dieses Monster obendrauf! So wird das nie etwas.“

Mir war nicht klar, was sie meinte, denn ich hatte keinerlei Ziele, aus denen etwas werden sollte. Und was Musch betraf, fand ich, dass sie als Dekor für mein Messingbett die Krönung war. Zwar trug sie ein Kleid, das meine Mutter vor dreißig Jahren aus Wollresten gehäkelt hatte und nicht für eine königliche Hochzeit getaugt hätte. Aber Musch war viel mehr als eine verhinderte Prinzessin. Sie war – und ist noch – ein Plüschtier der Firma Steiff, eine Katze mit grauem Fell, roter Nase, rosa Pfoten, spitzen Ohren, grünen Augen und übergroßen roten Schuhen.

Sie war meine Begleiterin durch die Kindertage, meine Bettgefährtin, mein Kummerkasten und meine Spielkameradin. Sie war mein Alter Ego, und weil ich lebendig war, war sie es auch. Jeden Abend, wenn mein Zimmer längst im Dunkel lag, war sie die letzte Seele, zu der ich sprach, die letzte, der ich eine gute Nacht wünschte und der ich noch einen Kuss ins Fell drückte, ehe ich mit ihr Seite an Seite einschlief.

Die Männer in meinem Leben hat Musch alle überlebt. Wie ich hat sie dabei Fell gelassen und musste an manchen Stellen Flicken aufgesetzt bekommen. Noch schlimmer musste ich ihr mal das linke Ohr annähen, weil es halb abgerissen war. Die roten Schuhe wurden mehrfach ersetzt, immer mit Material, das gerade übrig geblieben war, und deshalb zieren ihre Füße jetzt Schuhe aus Musselin mit braun-gelbem Blümchenmuster.

Aber an ihren schwarzen Augen mit den grünen Halbmonden hat sich nie etwas geändert. Sie sieht mich noch mit demselben Blick an wie an jenem Tag, an dem ich fünf Jahre alt war und wir uns kennenlernten, damals, als sie unter dem mit Lametta behangenen Tannenbaum saß. Da war ich kaum größer als sie und hielt zur Enttäuschung meiner Eltern tagelang respektvollen Abstand von ihr. Von Liebe auf den ersten Blick konnte keine Rede gewesen sein.

Wir mussten erst miteinander warm werden, die Musch und ich. Sie war anders, als meine Puppenkinder, die sich glatt anfühlten, wahnsinnig schön waren und tolle Kleider trugen. Sie hatte einen übergroßen Kopf, einen kurzen Hals, dicke Beine und zu große Füße – eine Missgeburt. Nichts zum Vorzeigen. Eher etwas, das man ungewollt in die Arme gelegt bekomt und für das man sich schämt.

Aber sie konnte sprechen. Nicht verbal, sondern mit ihrem Gesicht, ihren Augen und ihrem kuscheligen Körper. In wenigen Tagen stieg sie in der Hierarchie meines Spielzeugreichs auf und nahm den ersten Platz ein vor all meinen Puppen und den anderen Plüschtieren. Und sie war überall dabei, egal, wohin meine Wege führten.

Gerade jetzt sitzt sie mir gegenüber, halb angezogen mit dem Wollkleid, das ich für sie häkele und ihr zwischendurch anprobiere. Sie ist fünfundsechzig Jahre alt und fast kahl. Ihre Arme und Beine sind an den Gelenken geflickt und gestopft, damit das Stroh nicht aus dem Körper quillt. Aber so ist das Leben: Wir alle lassen Haare und enden mit dünner Haut.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.03.2021, 07:46   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.709


Hallo Ilka,

interessante Erzählung über ein Kuscheltier, das die Erzählerin von der Kindheit an begleitet hat, und zu dem sie am Schluss Parallelen zu den Menschen zieht.

Am Anfang dachte ich, die Geschichte geht anders weiter und der Focus konzentriere sich auf Nadine und die Erzählerin; dass die Geschichte dann einen eleganten Haken in eine andere Richtung schlägt, macht sie überraschend. Vergnüglich zu lesen.

Was auch faszinierend ist - erzähltechnisch gesehen - ohne den Anfang mit Nadine wäre die Betrachtung über Musch halb so interessant gewesen. Raffiniert gemacht.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 09.03.2021, 21:16   #3
männlich Ex-Ralfchen
abgemeldet
 
Dabei seit: 10/2009
Alter: 77
Beiträge: 17.302


Ich lese sehr selten Kurzgeschichten, aber du wendest die Regeln die du anderen Textern weitergibst, selbst perfekt an. Und das habe ich hier von Absatz Zur Absatz zur Impfung so empfunden
Ex-Ralfchen ist offline   Mit Zitat antworten
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